TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/9 W248 2210841-1

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Veröffentlicht am 09.11.2020
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Entscheidungsdatum

09.11.2020

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs5

Spruch

W248 2210841-1/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. NEUBAUER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich vom 13.11.2018, Zl. 1105145309 - 160215520, in einer Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und dem FPG, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 23.10.2020 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX , geb. XXXX , gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX , geb. XXXX , eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 09.11.2021 erteilt.

IV. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

1        Verfahrensgang:

1. XXXX , geb. XXXX , (im Folgenden: Beschwerdeführer), ein afghanischer Staatsbürger, stellte am 11.02.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Im Zuge der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, Landespolizeidirektion XXXX – Polizeiinspektion XXXX am 11.02.2016, gab der Beschwerdeführer an, aus dem Dorf XXXX , im Distrikt XXXX , in der Provinz Daikundi, zu stammen. Seine Muttersprache sei Farsi. Er gab weiters an, den Namen XXXX zu führen, am XXXX geboren zu sein, afghanischer Staatsbürger sowie Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Moslem zu sein. Er sei ledig und habe keine Kinder. Seine Eltern seien bereits verstorben. Er habe drei Brüder und drei Schwestern, sei Analphabet und habe zuletzt als Hirte gearbeitet. Den Entschluss, Afghanistan zu verlassen habe der Beschwerdeführer vor etwa einem Monat gefasst. Er habe selbst die Schleppung organisiert und die Kosten in Höhe von etwa € 600,- bis € 700,- bezahlt.

Befragt zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer aus, dass er der Volkgruppe der Hazara angehöre. Die Taliban würden die Hazara hassen und sie bei jeder sich ergebenden Möglichkeit töten. Der Beschwerdeführer habe selbst gesehen, wie sein Cousin von den Taliban geköpft worden sei. Der Beschwerdeführer fürchte um sein Leben, da alle Hazara in seiner Heimatregion von Taliban verfolgt werden würden.

3. Am 22.01.2018 fand eine niederschriftliche Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden BFA) mit einem Dolmetscher für die Sprache Dari statt.

Der Beschwerdeführer gab an, verheiratet gewesen zu sein und zwei Kinder zu haben. Er führte diesbezüglich aus, dass sein jüngerer Bruder, welcher „für die Amerikaner“ arbeite, den Beschwerdeführer zur Scheidung von seiner Ehefrau gezwungen habe. Sein jüngerer Bruder XXXX habe die Schwester seiner Ehefrau geheiratet. Aufgrund eines Streites habe sich sein Bruder von dessen Ehefrau scheiden lassen. Sein Bruder habe nicht gewollt, dass die Ehefrau des Beschwerdeführers in der Familie bleibe, daher habe er die Scheidung veranlasst. Die Ex-Ehefrau des Beschwerdeführers würde sich mit den Kindern in ihrer Heimatprovinz in Ghazni befinden. Der Beschwerdeführer habe insgesamt sieben Onkel. Von den drei Onkeln väterlicherseits sei einer bereits verstorben, die anderen beiden würden im Iran leben. Von den vier Onkeln mütterlicherseits würden zwei im Iran und zwei im Nachbardorf leben. Eine Tante mütterlicherseits sowie die älteste Schwester des Beschwerdeführers würden ebenfalls im Iran leben. Der Beschwerdeführer habe nur Kontakt zu seiner Ex-Ehefrau und zu seiner ältesten Schwester. Zu seiner Familie in Afghanistan habe er hingegen keinen Kontakt. Der Beschwerdeführer habe zuletzt als Hirte und Landarbeiter gearbeitet.

Befragt zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer aus, dass sein jüngerer Bruder „für die Amerikaner“ gearbeitet habe. Die gesamte Familie sei daher von den Taliban bedroht worden. Die Taliban hätten gefordert, dass sein Bruder seine Arbeit für die Amerikaner beende. Der Beschwerdeführer sei als Hirte oft in den Bergen gewesen und könne zu den Bedrohungen keine weiteren Angaben machen. Zwei Wochen nach der Bedrohung sei sein Cousin väterlicherseits in der Region XXXX von den Taliban ermordet worden. Eines Nachmittags sei die Leiche seines Cousins von einem Autolenker ins Dorf gebracht worden. Der Autolenker habe der Familie des Beschwerdeführers erzählt, dass der Cousin von den Taliban getötet worden sei. Die Taliban hätten den Autolenker angewiesen, die Leiche in das Heimatdorf zurückzubringen, um die Verwandten in Furcht zu versetzen, damit sie die Warnungen der Taliban künftig befolgen würden. Weiters habe der Autolenker eine Drohmitteilung der Taliban an den jüngeren Bruder XXXX , welcher für die Amerikaner arbeite, ausgerichtet. Der ältere Bruder XXXX sei ebenfalls von den Taliban bedroht worden. Die Taliban hätten auch Drohbriefe an die gesamte Familie gesendet. Die Familie sei beschuldigt worden, Ungläubige zu sein, und in beiden Drohbriefen seien Warnungen ausgesprochen worden. Da der Beschwerdeführer nicht lesen könne, habe ihm sein Bruder XXXX den Inhalt geschildert. Aufgrund der Bedrohung sei der Beschwerdeführer geflüchtet. Über seine Fluchtpläne habe er seiner Familie nichts erzählt.

Der Beschwerdeführer legte ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor.

4. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auf internationalen Schutz auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Dem Beschwerdeführer wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

In der Begründung des Bescheides gab das BFA die entscheidungsrelevanten Angaben des Beschwerdeführers wieder und traf Feststellungen zur Lage in Afghanistan. Es wurde im Wesentlichen zu Spruchpunkt I. ausgeführt, dass der Beschwerdeführer widersprüchlich zur Erstbefragung angegeben habe, dass seine Familie persönlich von den Taliban bedroht worden sei. In der Erstbefragung habe der Beschwerdeführer nur eine allgemeine Bedrohung der Volksgruppe der Hazara sowie die Ermordungen seines Cousins angegeben. Es sei ebenfalls nicht nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer keine Angaben zur Herkunft der Drohbriefe machen könne. Er habe lediglich vage angegeben, dass diese von einem Taxilenker übergeben worden seien. Nicht nachvollziehbar sei weiters, dass sein jüngerer Bruder angeblich in einer leitenden Funktion in einer amerikanischen Spezialeinheit gearbeitet habe. Der Beschwerdeführer habe weder nähere Angaben zur Funktion noch zum Dienstgrad seines Bruders machen können. Es wäre zu erwarten gewesen, dass der Beschwerdeführer zumindest Angaben über die Ausbildung seines Bruders hätte machen können. Seine Angaben betreffend seinen Bruder seien vage, wenig substantiiert und widersprüchlich. Der Beschwerdeführer habe sein Fluchtvorbringen gesteigert und daher nicht glaubhaft darlegen können. Unter Berücksichtigung der aktuellen Sicherheitslage sei es nicht nachvollziehbar, dass er mit einer derartigen Intensität bedroht worden sei, dass ihm als einziger Ausweg eine Flucht aus Afghanistan offen gestanden wäre. Der Beschwerdeführer sei insbesondere nie persönlich von Taliban bedroht worden. Er habe insbesondere einen unglaubwürdigen Eindruck hinterlassen, da er sich in Widersprüchlichkeiten hinsichtlich seiner familiären Situation verstrickt habe. So habe er in der Erstbefragung nicht angeführt, dass er verheiratet sei und zwei Kinder habe. Auffallend sei weiters gewesen, dass er zuerst angeführt habe, dass sein Bruder die Scheidung aufgrund seiner Abwesenheit veranlasst habe. Im Widerspruch dazu habe er etwas später ausgeführt, dass sein jüngerer Bruder die Scheidung erzwungen habe, als der Beschwerdeführer sich noch in Afghanistan befunden habe. Als Grund für die Scheidung habe der Beschwerdeführer angegeben, dass sein jüngerer Bruder mit der Schwester seiner Ehefrau verheiratet gewesen sei. Aufgrund eines Streits habe sich der Bruder von seiner Ehefrau scheiden lassen. Nach der Scheidung wären alle Familienangehörigen gegen die Ehefrau des Beschwerdeführers gewesen. Im Widerspruch dazu habe er etwas später in der Befragung ausgeführt, dass das Verhältnis zwischen seinem Bruder und dessen Ehefrau zum Zeitpunkt der Ausreise gut gewesen sei. Auch betreffend seine Muttersprache sei es zu Widersprüchen gekommen, zumal auch der fachkundige Dolmetscher angemerkt habe, dass der Beschwerdeführer einen Farsi-Akzent habe.

Zu Spruchpunkt II. wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer jedenfalls nach Afghanistan in sein Heimatdorf zurückkehren könne. Zwei Brüder, zwei Schwestern, zwei Onkel sowie ein Cousin würden nach wie vor im Heimatdorf leben. Der Beschwerdeführer verfüge über weitere Angehörige in Afghanistan und im Iran. Die Heimatprovinz Daikundi könne sicher über Kabul erreicht werden. Dem Beschwerdeführer stehe es ebenfalls frei, sich in Herat, Mazar-e Sharif oder Kabul niederzulassen. Beim Beschwerdeführer handle es sich um einen jungen, gesunden, arbeitsfähigen Afghanen, welcher über Berufserfahrung verfüge. Die Familie besitze zudem eine eigene Landwirtschaft.

Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 18.11.2018 zugestellt.

5. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 13.11.2018 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der XXXX , amtswegig als Rechtsberatung zur Seite gegeben.

6. Mit Schreiben vom 29.11.2018 erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch den XXXX , fristgerecht Beschwerde gegen sämtliche Spruchpunkte des Bescheides des BFA und legte eine Vollmacht für die genannte Organisation vor.

Der Beschwerdeführer wiederholte sein Fluchtvorbringen und führte aus, dass er dieses weder geändert noch gesteigert habe sowie, dass er seine Fluchtgeschichte detailliert dargelegt habe. Er habe ausdrücklich angegeben, dass er aufgrund seines Religionsbekenntnisses sowie der Tätigkeit seins Bruders Probleme in Afghanistan gehabt habe. Er sei mehrmals von Taliban bedroht worden. Es bestehe kein Kontakt zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Familie in Afghanistan. Da er bereits Drohungen erhalten habe und sein Cousin von den Taliban getötet worden sei, drohe dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr, von Verfolgungshandlungen erheblicher Intensität betroffen zu sein. Die afghanischen Behörden seien nicht in der Lage bzw. gewillt, den Beschwerdeführer zu schützen. Zum Vorhalt, dass er keine Angaben über die Tätigkeit seines Bruders habe machen können, werde angemerkt, dass der Beschwerdeführer als Hirte tätig gewesen sei und die meiste Zeit mit den Tieren in den Bergen verbracht habe. Die Drohbriefe habe der Beschwerdeführer selbst nicht lesen können, daher könne er nur angeben, was seine Brüder zu ihm gesagt hätten. Der Beschwerdeführer verwies weiters auf Länderberichte zur Situation der Hazara. Die Provinz Daikundi sei zwar relativ sicher, jedoch würden die volatilen Provinzen Helmand, Uruzgan und Ghor direkt angrenzen. Die Behörde habe sich unzureichend mit der persönlichen Situation des Beschwerdeführers sowie mit der sicheren Erreichbarkeit seiner Heimatprovinz befasst.

7. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 07.12.2018 mit Schreiben vom 05.12.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

8. Am 05.10.2020 übermittelte der Beschwerdeführer ein Konvolut an Integrationsunterlagen.

9. Mit Stellungnahme vom 15.10.2020 verwies der Beschwerdeführer auf die vorherrschende Covid-19 Pandemie und führte aus, dass es für ihn im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan auch in Mazar-e Sharif oder Herat nicht möglich wäre, Fuß zu fassen und ein Leben ohne unbillige Härte zu führen. Der Beschwerdeführer gehöre einer Minderheit an, verfüge über keine Schulbildung und habe lediglich in jungen Jahren Arbeitserfahrung als Hirte in der Landwirtschaft gesammelt. Aufgrund der Covid-19 Pandemie sei die Arbeitsmarktsituation äußert angespannt, und viele Tagelöhner würden keine oder nur unzureichende Arbeit finden. Der Beschwerdeführer verfüge weder über Vermögen noch über ein tragfähiges familiäres oder soziales Netzwerk in Afghanistan.

10. Am 23.10.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner Vertretung und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt wurde und die Möglichkeit hatte, diese umfassend darzulegen. Das BFA als belangte Behörde nahm an der Verhandlung nicht teil.

Der Beschwerdeführer führte aus, eine Augenoperation gehabt zu haben. Hinsichtlich seiner Augen gehe es ihm seit der Operation besser. Er gab an, ungebildet zu sein und sich mit dem Datum nicht gut auszukennen. Er sei verheiratet gewesen und habe zwei Töchter. Er und sein jüngerer Bruder hätten zwei Schwestern geheiratet. Nach der Trennung des Bruders von dessen Ehefrau habe dieser gemeinsam mit der gesamten Familie den Beschwerdeführer unter Druck gesetzt, sich ebenfalls von seiner Ehefrau zu trennen.

Der Beschwerdeführer habe seit seinem fünften Lebensjahr als Hirte gearbeitet, sodass er die meiste Zeit auf der Weide verbracht habe, daher könne er wenig über die Ausbildung seines jüngeren Bruders berichten. Der Beschwerdeführer habe keinen Kontakt zu seinen Brüdern, er habe lediglich Kontakt zu seiner im Iran lebenden älteren Schwester. Der Kontakt zu seiner Ex-Ehefrau sei vor etwa einem Jahr oder eineinhalb Jahren abgebrochen. Der Beschwerdeführer habe seiner Ex-Ehefrau versprochen, die gemeinsamen Kinder nicht nachzuholen und sie nicht von ihrer Mutter zu trennen. Mittlerweile habe die Ex-Ehefrau des Beschwerdeführers erneut geheiratet. Hinsichtlich der Sprachfärbung des Beschwerdeführers führte die Dolmetscherin aus, dass dieser wie ein Hazara aus einem Dorf spreche und überhaupt kein persischer Akzent zu erkennen sei. Es sei sehr plausibel, dass er als Hirte auf einer Weide gearbeitet habe.

Befragt zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung aus, dass die gesamte Familie von den Taliban bedroht worden sei. Es seien zwei Drohbriefe an den ältesten Bruder XXXX adressiert worden, in welchen jedoch die gesamte Familie bedroht worden sei. In den Briefen sei geschrieben worden, dass der jüngere Bruder die Arbeit für die Amerikaner einstellen müsse, ansonsten würden alle Familienmitglieder von den Taliban getötet werden. Als der Cousin des Beschwerdeführers getötet worden sei, habe sich der Beschwerdeführer in den Bergen befunden. Der Beschwerdeführer bestätigte ausdrücklich, nie persönlich von den Taliban bedroht worden zu sein. Als Grund für die Flucht führte er aus, dass er sich immer in den Bergen aufgehalten habe und die Taliban ebenfalls in den Bergen gewesen seien. Aufgrund der schriftlichen Drohungen der Taliban und der Ermordung seines Cousins habe der Beschwerdeführer beschlossen, Afghanistan zu verlassen.

Der Beschwerdeführer legte weitere Integrationsunterlagen vor und führte aus, einen Vorbereitungslehrgang zur Ausbildung zum Altenpfleger zu absolvieren. Er habe sich in Österreich umfassend ehrenamtlich betätigt und habe bereits viele Freunde und Bekannte in Österreich. Er habe auch vier oder fünf Monate lang eine Beziehung geführt. Seit der Covid-19 Krise würden sie sich jedoch nicht mehr treffen.

Der Beschwerdeführer führte weiters aus, dass er sich für den evangelischen Glauben interessiere, den Gottesdienst besuche und bereits für einen Bibelkurs angemeldet sei.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

2        Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht mit hinreichender Sicherheit fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung sowie der Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des BFA, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des BFA, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der Stellungnahme, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister sowie das Grundversorgungs-Informationssystem und in das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung vom 13.11.2018, letzte KI vom 21.07.2020, die UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018, die EASO Country Guidance Afghanistan - Guidance note and common analysis (Juni 2019), das Dossier der Staatendokumentation: Stammes- und Clanstruktur (2016), das ACCORD – Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 15.01.2020, die ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Mazar-e Sharif vom 30.04.2020, die ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Herat vom 23.04.2020, sowie die aktuellen COVID-19 Zahlen zu Afghanistan - OCHA, WHO: Afghanistan Flash Update: Daily Brief: COVID-19, No. 80 (08.10.2020) werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

2.1      Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Hazara an und wurde als schiitischer Moslem geboren. Seine Muttersprache ist Dari. Er ist geschieden und hat zwei minderjährige Kinder, welche bei der wieder verheirateten Mutter in der afghanischen Provinz Ghazni leben.

Der Beschwerdeführer stammt aus dem Dorf XXXX , welches sich im Distrikt XXXX , welcher nun XXXX heißt, in der afghanischen Provinz Daikundi befindet. Dort lebte er bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan gemeinsam mit seinen Brüdern, seiner Ehefrau und seinen Kindern. Seine Eltern sind bereits verstorben. Die Familie besitzt im Heimatdorf ein Lehmhaus.

Der Beschwerdeführer verfügt über keine Schulbildung. Er arbeitete seit seinem fünften Lebensjahr als Hirte.

Der Beschwerdeführer ist volljährig, jung, gesund und arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Der Beschwerdeführer ist unbescholten.

2.2      Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Es konnte nicht festgestellt werden, dass die gesamte Familie von den Taliban bedroht wurde.

Es konnte weder festgestellt werden, ob der jüngere Bruder des Beschwerdeführers für die Amerikaner arbeitet bzw. gearbeitet hat, noch ob der Cousin des Beschwerdeführers von Taliban getötet wurde.

Der Beschwerdeführer selbst wurde nie persönlich von Taliban oder sonstigen staatlichen oder nichtstaatlichen Akteuren verfolgt oder bedroht.

Der Beschwerdeführer hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in seine körperliche Integrität noch wegen konkreter Verfolgungs- oder Lebensgefahr verlassen.

Der Beschwerdeführer ist aus der islamischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten und bekundete Interesse am evangelischen Glauben. Er ist für einen Bibelkurs angemeldet. Nachfluchtgründe machte der Beschwerdeführer jedoch nicht geltend.

Der Beschwerdeführer reiste schlepperunterstützt nach Europa.

2.3      Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit viereinhalb Jahren durchgehend in Österreich auf. Er war nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 11.02.2016 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich bisher Deutschkurse bis zum Niveau B1 besucht und die Integrationsprüfung A2 erfolgreich absolviert. Er besuchte weitere Integrations- bzw. Alphabetisierungskurse. Seit September 2020 besucht der Beschwerdeführer den Vorbereitungskurs zur Ausbildung zum Altenpfleger. Über eine Einstellungszusage verfügt er nicht.

Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich umfassend ehrenamtlich engagiert. Er war für die Stadtgemeinde XXXX , die XXXX , das XXXX , den Flohmarkt XXXX und den Volkshilfeshop ehrenamtlich tätig. Er legte zahlreiche Empfehlungsschreiben vor und wird durchgehend als verlässlich, höflich, integrationswillig und äußerst hilfsbereit beschrieben.

Der Beschwerdeführer ist aktuell nicht Mitglied in einem Verein.

Er lebt von der Grundversorgung.

Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über keine Verwandten. Er führt in Österreich eine Beziehung, lebt aber mit seiner Freundin nicht in gemeinsamen Haushalt. Eine Wirtschaftsgemeinschaft besteht nicht. Der Beschwerdeführer verfügt über österreichische Freunde. Er kümmert sich ehrenamtlich um eine 95-jährige Dame aus XXXX .

2.4      Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Der Beschwerdeführer ist bei einer Rückkehr nach Afghanistan weder aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Volksgruppenzugehörigkeit, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von anderen Personen oder Gruppen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgung bedroht.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in die körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen.

Der Beschwerdeführer wäre auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit als Hazara einem realen Risiko einer ernsthaften Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt bzw. der Gefährdung des Lebens, Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung durch einen konkreten Akteur ausgesetzt.

Der Beschwerdeführer ist wegen seines Aufenthalts in einem westlichen Land oder wegen seiner Wertehaltung in Afghanistan keinen psychischen oder physischen Eingriffen in seine körperliche Integrität ausgesetzt. Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Es liegt keine westliche Lebenseinstellung beim Beschwerdeführer vor, die wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden wäre.

Der Beschwerdeführer könnte daher grundsätzlich nach Afghanistan zurückkehren.

Seine Herkunftsprovinz Daikundi wird als relativ sicher erachtet, wobei ein Mangel an Infrastruktur ein großes Problem für die Bevölkerung darstellt. Aufgrund der mangelnden Infrastruktur und der Angrenzung an die volatilen Provinzen Ghor, Ghazni und Uruzgan kann eine sichere Erreichbarkeit der Heimatprovinz nicht gewährleitet werden.

Die Stadt Kabul steht dem Beschwerdeführer nicht als innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung.

Aktuell herrscht eine weltweite Covid-19-Pandemie. Aufgrund der Verschlechterung der Sicherheitslage sowie der nicht sicheren Erreichbarkeit, der zahlreichen Iran-Rückkehrer sowie der massiven Verschlechterung der Wirtschafts- und Versorgungslage ist eine innerstaatliche Fluchtalternative in Herat-Stadt nicht zumutbar.

Es kann nicht festgestellt werden, ob sich die Familie des Beschwerdeführers noch in seinem Heimatdorf befindet. Seine Ex-Ehefrau hat erneut geheiratet und befindet sich mit den zwei Töchtern in der Provinz Ghazni. Zu seiner Kernfamilie, insbesondere zu seinen Brüdern steht der Beschwerdeführer nicht in Kontakt. Der Beschwerdeführer hat lediglich Kontakt zu seiner im Iran lebenden älteren Schwester. Der Beschwerdeführer hat insgesamt sieben Onkel, wovon einer bereits verstorben ist, vier im Iran und zwei im Nachbardorf lebten. Der Beschwerdeführer hat eine Tante, welche ebenfalls im Iran lebt. Der Beschwerdeführer hat weder zu seinen Onkeln, noch zu seiner Tante Kontakt. Er kann mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit weder mit finanzieller Unterstützung seiner Familie rechnen, noch auf sonstige traditionelle Unterstützungsnetzwerke zurückgreifen.

Der Beschwerdeführer verfügt jedenfalls über kein soziales Netzwerk in Mazar-e Sharif oder einer anderen afghanischen Großstadt.

Ausgehend von aktuellen Länderberichten zu Afghanistan und unter Berücksichtigung der UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 und den Berichten des EASO aus Juni 2019 sowie die aktuelle Berichterstattung zur Covid-19 Pandemie in Afghanistan berücksichtigend, ist dem Beschwerdeführer aufgrund seiner individuellen Verhältnisse eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zumutbar.

Nach wie vor ist hinsichtlich der aktuellen Covid-19-Fallzahlen von einer sehr hohen Dunkelziffer an sowohl mit dem Covid-19 Virus infizierten Personen als auch bereits daran Verstorbenen auszugehen.

In Mazar-e Sharif wurde insbesondere seit Anfang 2020 ein erheblicher Anstieg von Kriminalität und sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet. Mazar-e Sharif verfügt über einen internationalen Flughafen, sodass die Anreise weitgehend gefahrfrei erfolgen könnte.

Der Beschwerdeführer würde jedoch aufgrund seiner persönlichen Verhältnisse in Afghanistan keine Lebensgrundlage vorfinden, sodass von ihm die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz nicht gedeckt werden können. Es ist dem Beschwerdeführer insbesondere aufgrund der anhaltenden Nahrungsmittelknappheit und der angespannten wirtschaftlichen Situation nicht möglich, in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif, Kabul oder an einem anderen Ort in Afghanistan Fuß zu fassen und sich dort eine Existenz aufzubauen.

Auch ohne die Berücksichtigung der Covid-19 Pandemie wäre die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in den Städten Herat und Mazar-e Sharif zu verneinen.

Der Beschwerdeführer verfügt über keine Schulbildung und kann in den landesüblichen Sprachen Afghanistans weder lesen noch schreiben. Er kann lediglich Arbeitserfahrung als Hirte vorweisen und hat die meiste Zeit seines Lebens, seit seinem fünften Lebensjahr, gemeinsam mit Tieren auf Weiden in den Bergen verbracht. Diese Arbeitserfahrung könnte dem Beschwerdeführer jedenfalls nicht in einer Großstadt helfen. Der Beschwerdeführer ist zwar jung, gesund, volljährig und arbeitsfähig, er verfügt jedoch über keine finanzielle Unterstützung durch seine Kernfamilie oder sonstige Verwandte.

Der notwendige Zugang zu Nahrungsmitteln, einer Arbeit, einer Unterkunft und zu medizinsicher Versorgung kann aufgrund der individuellen Umstände des Beschwerdeführers nicht sichergestellt werden.

In einer Zusammenschau der aus den spezifischen individuellen Merkmalen des Beschwerdeführers (Volksgruppenzugehörigkeit, fehlendes soziales Netzwerk in Afghanistan, fehlende finanzielle Unterstützung seiner Familie, fehlende lokale Kenntnisse, fehlende Schulbildung, nur Arbeitserfahrung als Hirte) resultierenden Erschwernisse unter Berücksichtigung der aufgrund der durch die Covid-19 Pandemie verursachten angespannten und nicht nur vorübergehend verschlechterten Arbeits-, Nahrungs- und Wohnsituation im Herkunftsstaat ist im Fall des Beschwerdeführers nicht davon auszugehen, dass er in Herat oder Mazar-e Sharif Fuß fassen und ein Leben ohne unbillige Härte wird führen können. Es ist im Fall einer dortigen Ansiedelung sehr wahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung und Kleidung nicht befriedigen wird können und in eine ausweglose Situation gerät.

2.5      Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019, mit letzter Kurzinformation vom 21.07.2020 (LIB 13.11.2019),

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO) und

-        Dossier der Staatendokumentation zur Stammes- und Clanstruktur (2016)

-        ACCORD – Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 15.01.2020,

-        EASO Special Report 07.05.2020 – Asylum Trends and COVID-19ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Mazar-e Sharif vom 30.04.2020,

-        ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Herat vom 23.04.2020, sowie

-        die aktuellen COVID-19-Zahlen zu Afghanistan OCHA, WHO: Afghanistan Flash Update: Daily Brief: COVID-19, No. 80 (08.10.2020)

-        diverse zitierte Quellen, welche ebenfalls im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan verwendet werden.

2.5.1   Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB 13.11.2019).

Nach Jahrzehnten gewaltsamer Konflikte befindet sich Afghanistan in einer schwierigen Aufbauphase und einer weiterhin volatilen Sicherheitslage. Die staatlichen Strukturen sind noch nicht voll arbeitsfähig. Tradierte Werte stehen häufig einer umfassenden Modernisierung der afghanischen Gesellschaft entgegen (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 02.09.2019).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan, und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB 13.11.2019).

Ende Februar 2020 unterzeichneten die USA und die Taliban ein Friedensabkommen, welches den Abzug der US-Truppen vorsieht. Die afghanische Regierung wurde daran jedoch nicht beteiligt. Ein beidseitiger Gefangenenaustausch gilt als Voraussetzung für direkte Gespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban. Über die Umsetzung gibt es aber Streit, speziell bei der Frage, ob die Regierung auch ranghohe Befehlshaber der Extremisten freilässt (Zeit-Online 11.04.2020).

Pressemeldungen zufolge hat es seit dem Friedensabkommen mit den USA (29.02.2020) über 4.500 Angriffe der Taliban gegeben, bei denen über 900 Soldaten oder Polizisten und 610 Taliban-Kämpfer getötet wurden. Dabei griffen die Taliban keine Städte oder Provinzzentren an, sondern fokussierten sich auf Dörfer in den Provinzen Herat, Kabul, Kandahar und Balkh. Nach Angaben des afghanischen Nationalen Sicherheitsrates wurden bei Angriffen oder Anschlägen der Taliban in der ersten Woche des Ramadans (24.04.2020 bis ca. 30.04.2020) mindestens 66 Zivilisten verletzt oder getötet. Medienberichten zufolge gab es auch in der vergangenen Woche Kämpfe und Anschläge in zahlreichen Provinzen. So wurden etwa am 29.04.20 bei einem Selbstmordanschlag in der Nähe eines Stützpunkts der afghanischen Spezialkräfte im Südwesten der Hauptstadt Kabul (Polizeidistrikt 7) mindestens drei Menschen getötet und 15 verletzt. Die NATO meldet ebenso wie die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA, vgl. BN v. 27.04.2020), einen deutlichen Rückgang der zivilen Opfer im ersten Quartal 2020. Die NATO hat allerdings inzwischen die Veröffentlichung von Daten über Angriffe der Taliban eingestellt. Man wolle die derzeit laufenden politischen Verhandlungen zwischen den USA und den Taliban nicht belasten. Am 02.05.2020 entließ die Regierung 98 weitere gefangene Taliban und somit insgesamt 748 der geforderten 5.000 Personen. Die Taliban haben im Gegenzug 112 von den versprochenen 1.000 ihrer Gefangenen freigelassen (Deutsches Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Briefing Notes 04.05.2020).

Aktuell liegen weiterhin Berichte aus vielen Provinzen über Kampfhandlungen und Anschläge, bei denen auch Zivilisten zu Schaden kommen, vor. Nach Informationen der New York Times seien im Juli 2020 bisher mindestens 137 Sicherheitskräfte und 51 Zivilisten getötet worden. Beispielhaft seien folgende Ereignisse genannt: Bei einem Feuergefecht zwischen afghanischen und pakistanischen Soldaten wurden am 15./16.07.2020 in der östlichen Provinz Kunar (Distrikt Sarkano) mindestens 20 Zivilisten verletzt oder getötet. Nach afghanischer Darstellung hätten pakistanische Streitkräfte versucht, einen Checkpoint auf afghanischem Gebiet zu errichten. Auch in der Provinz Nangarhar sollen pakistanische Kräfte Checkpoints vor der Grenze zu Pakistan auf afghanischem Gebiet errichtet haben.Während des Besuchs von Präsident Ghani in Ghazni City (Südosten) wurden mehrere Raketen auf die Stadt abgefeuert, wobei vier Zivilisten verletzt wurden. Ein Vertreter des Provinzrats von Ghazni erklärte, dass sechs der neun Distrikte der Provinz belagert würden. Am 19.07.20 wurden in den Provinzen Zabul und Paktika zwei Polizeichefs von Distrikten bei Anschlägen getötet und mehrere Polizisten verletzt.

Die Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC) hat in den letzten neun Monaten 17 Angriffe auf religiöse Einrichtungen dokumentiert, bei denen 170 Menschen getötet und 272 verletzt wurden. Hervorzuheben seien Angriffe auf zwei Moscheen in Kabul, auf Sikh Tempel in Kabul und Jalalabad, sowie Übergriffe auf Geistliche in Takhar, Parwan, Laghman, Paktia und Helmand. Einen Imam im Dorf Kohna Masjid (Distrikt Dahana-e-Ghori, Provinz Baghlan) sollen die Taliban gefoltert und getötet haben, weil er eine Beerdigungszeremonie für einen lokalen Polizeikommandanten abgehalten haben soll.

Die USA haben mit dem im Friedensabkommen mit den Taliban vereinbarten Truppenabzug begonnen und Soldaten aus den Provinzen Helmand, Uruzgan, Paktika und Laghman zurückgezogen. Gleichzeitig besteht die US-Regierung auf der Erfüllung weiterer Vereinbarungen, wie dem Abschluss der Freilassung von Gefangenen, der Reduzierung der Gewalt sowie der Aufnahme von innerafghanischen Gesprächen. Der Gefangenenaustausch verläuft schleppend. Nach Angaben der afghanischen Regierung seien bisher 4.400 der versprochenen 5.000 gefangenen Taliban freigelassen worden. Hinsichtlich der übrigen 600 Gefangenen verweigert die Regierung die Freilassung, da sie wegen schwerer Verbrechen inhaftiert seien, die Taliban sollten eine neue Liste vorlegen. Die Taliban haben inzwischen 600 von 1.000 afghanischen Sicherheitskräften freigelassen (Deutsches Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Briefing Notes 20.07.2020).

2.5.2   Sicherheitslage im Zeitraum 10.12.2019 bis Ende Februar 2020:

Die Sicherheitslage bleibt volatil. Zwischen 08.11.2019 und 06.02.2020 wurden von UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet (ähnlich wie in derselben Periode des vorherigen Jahres). Die meisten Vorfälle fanden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, welche gemeinsam insgesamt 68% der Vorfälle ausmachten. Die Regionen mit den meisten Vorfällen waren Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh. Die Kampfhandlungen verringerten sich zu Jahresende 2019 und Jahresbeginn 2020, infolge der saisonalen Trends in den Wintermonaten. Am 22.02.2020 konnte infolge der Gespräche der USA mit den Taliban eine nationale Reduktion der Gewalt verzeichnet werden.

Die etablierten Trends bleiben jedoch bestehen; mit 2.811 bewaffneten Zusammenstößen, welche 57% aller Vorfälle ausmachen, gab es im Vergleich zur selben Zeitperiode des vorherigen Jahres eine Verringerung um 4%. Die Verwendung von improvisierten Sprengkörpern bleibt die zweithöchste Art von Vorfällen, mit einer Steigerung von 21%, im Vergleich zur selben Zeitperiode des vorherigen Jahres, während sich Selbstmord-Attentaten um 25% verringert haben. Die 330 Luftangriffe des afghanischen Militärs erreichte eine 18%ige Verringerung, verglichen mit derselben Periode im Jahr 2019. In den Provinzen Helmand, Kandahar und Farah wurden 44% der Luftangriffe durchgeführt.

Am 31.12.2019 wurde berichtet, dass die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Darzab in der Provinz Jawzjan, aufgrund des Abzuges der Security Forces erlangten. Vorübergehend erlangten die Taliban Kontrolle über den Distrikt Arghandab in der Provinz Zabul, während die Security Forces den Distrikt Guzargahi Nur in der Provinz Baghlan, welcher sich seit September 2019 unter Taliban Kontrolle befand, zurückeroberten (Bericht des UNO-Generalsekretärs zu politischen, humanitären, menschenrechtlichen und sicherheitsrelevanten Entwicklungen vom 10.12.2019 bis Ende Februar 2020).

2.5.3   Sicherheitslage im Jahr 2019:

Berichtete Konfliktvorfälle nach Provinzen:

Provinz

Anzahl Vorfälle

Anzahl Vorfälle mit Todesopfern

Anzahl Todesopfer

Badakhshan

200

95

798

Badghis

325

200

1863

Baghlan

395

184

1465

Balkh

615

269

1821

Bamyan

17

1

2

Daykundi

31

15

189

Farah

426

220

1562

Faryab

539

342

2601

Ghazni

1285

743

4484

Ghor

172

95

782

Helmand

1523

582

3030

Herat

456

229

1146

Jawzjan

189

101

705

Kabul

301

85

501

Kandahar

1157

435

3270

Kapisa

216

74

334

Khost

309

53

194

Kunar

294

129

757

Kunduz

493

281

2073

Laghman

269

83

384

Logar

415

169

985

Nangarhar

734

443

2736

Nimroz

119

27

114

Nuristan

54

16

119

Paktika

301

136

745

Paktia

592

133

741

Panjshir

6

0

0

Parwan

183

30

147

Samangan

76

41

289

Sar-e-Pul

125

71

404

Takhar

262

181

1404

Uruzgan

594

387

2872

Wardak

552

194

1207

Zabul

690

282

1956

(ACCORD-Kurzübersicht über Konfliktvorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project 29.06.2020).

Der afghanischen Regierung ist es weiterhin gelungen, die Kontrolle über die Hauptstadt Kabul, die größeren Bevölkerungszentren, die meisten wichtigen Straßen, über Provinzzentren und die Mehrheit der Distrikte aufrecht zu erhalten. Die afghanischen Sicherheitskräfte verfügen jedoch nicht über genügend Kräfte, um den Taliban-Offensiven, die in über der Hälfte der 34 Provinzen stattfinden, standzuhalten (Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe 12.09.2019).

Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit, das Kampfniveau deutlich zurückging und sowohl regierungsfreundliche Kräfte als auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten. Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren. Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.08.2018 – 31.10.2018) verstärkt (LIB 13.11.2019).

Weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente erzielten zuletzt signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet. In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten. So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit – insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan.

Für den Berichtszeitraum 10.05.2019 – 08.08.2019 registriert die Vereinten Nationen insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle – eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert. Für den Berichtszeitraum 08.02.2019 – 09.05.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle – ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist. Für den Berichtszeitraum 10.05.2019 – 08.08.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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