Entscheidungsdatum
10.11.2020Norm
AsylG 2005 §54Spruch
W191 2133582-1/53E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von Herrn XXXX , geboren am XXXX alias XXXX Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Mario Züger, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.08.2016, Zahl 1063450308-150384332, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 16.04.2018 und 23.10.2020 zu Recht:
A)
I. Die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides werden behoben und die Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 9 BFA-Verfahrensgesetz auf Dauer für unzulässig erklärt.
II. XXXX wird gemäß §§ 54, 55 Abs. 1 und § 58 Abs. 2 Asylgesetz 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
1. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte nach seinem Aufgriff am 16.04.2015 in Neusiedl (Burgenland) gemeinsam mit mehreren anderen Fremden im Zuge einer fremdenrechtlichen Kontrolle mangels eines gültigen Aufenthaltstitels einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).
1.2. In seiner Erstbefragung am 17.04.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu, gab der BF an, er sei Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, [sunnitischer] Moslem und ledig. Das Geburtsdatum des BF wurde nach seinen Angaben mit 01.01.1998 festgehalten. Er stamme aus der Provinz Nangarhar und habe zehn Klassen die Grundschule besucht. Zu Hause lebten noch seine Eltern, zwei Brüder und eine Schwester, ein Bruder sei verstorben. Sein Bruder XXXX sei ca. 20 Jahre alt, sein Bruder XXXX 15 Jahre alt.
Der BF gab an, er sei vor ca. vier Monaten per Flugzeug von Kabul nach Teheran gereist und von dort über die Türkei schlepperunterstützt bis nach Österreich gebracht worden.
Als Fluchtgrund gab der BF an, dass zwei seiner Brüder beim Militär gewesen seien und er selbst als Bodyguard eines Kommandanten gearbeitet hätte. Deshalb seien sie ständig von den Taliban bedroht und sein Bruder XXXX von ihnen getötet worden. Deshalb sei er aus Angst um sein Leben aus Afghanistan geflüchtet.
1.3. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) hatte offenbar Zweifel an dem vom BF angegebenen Alter (Aktenvermerk Indikatoren für Altersfeststellung, Röntgenaufnahme der linken Hand) und veranlasste eine sachverständige medizinische multifaktorielle Altersschätzung.
Dem Gutachten vom 29.06.2015 (nach Untersuchung am 05.06.2015) folgend stellte das BFA im Zuge einer Einvernahme des BF am 16.07.2015 mit Verfahrensanordnung das Geburtsdatum des BF – dem fiktiven Mindestalter entsprechend – mit XXXX fest.
1.4. Bei seiner Einvernahme vor dem BFA, Regionaldirektion Vorarlberg, am 23.06.2016, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu, bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisherigen Angaben.
Er stamme aus XXXX , Distrikt Koghiani, Provinz Nangarhar, wo seine Familie nach wie vor wohne. Seine Mutter sei nach seiner Ausreise zu ihrem Vater im Nachbardorf gezogen, ob sie nun wieder zu seinem Vater zurückgekehrt sei, wisse er nicht. Die Schule habe er nach zehn Jahren abgebrochen und sei 20 Tage lang Leibwächter gewesen.
Zu seinem Fluchtgrund befragt führte er sein Vorbringen aus der Erstbefragung näher aus. Sein älterer Bruder sei Offizier bei der nationalen Armee gewesen, sein zweiter Bruder dort Soldat. Der BF sei zweimal von den Taliban bedroht worden, weil er für seinen Englischkurs englische Filme auf sein Handy heruntergeladen hatte. Sein Bruder XXXX sei gestorben, als die Taliban auf ein Auto, besetzt mit sieben Personen, darunter sein Bruder, geschossen hätten. Davon sei auch im Fernsehen berichtet worden. Bei seiner Tätigkeit als Leibwächter sei er in einem Auto unterwegs gewesen. Sein Onkel sei auch – leicht – verletzt worden, die Leute auf den hinteren Sitzen seien getötet worden. Bei einem Schusswechsel mit den Taliban seien zwei Taliban getötet worden. Er habe seinen Bruder XXXX , der damals am Flughafen in Jalalabad gearbeitet habe, angerufen, der sofort die Ausreise des BF organisiert habe. Der Bruder habe zuvor Drohbriefe erhalten.
Zum Beleg für sein Vorbringen legte der BF seine Tazkira (afghanisches Personaldokument), Schriftstücke betreffend seinen angegebenen Fluchtgrund samt Übersetzung (Bestätigung des Distriktsvorstehers, Anzeige bei der Behörde gegen Terrorismus, Drohbriefe der Taliban an seine Brüder und Drohbrief an den BF, nachdem sein Bruder getötet worden sei sowie Fotos), CDs mit drei Videos aus Afghanistan, die sein Bruder auf Facebook gefunden hätte, und Integrationsbelege (mehrere Empfehlungsschreiben, Deutschkursbestätigung, Teilnahmebestätigung Vorbereitungslehrgang für den Pflichtschulabschluss) vor.
Auf die Möglichkeit, zu ihm vom BFA zur Einsicht angebotenen Länderfeststellungen Stellung zu nehmen, verzichtete der BF.
1.5. Mit Bescheid vom 05.08.2016 wie das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 16.04.2015 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.
Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.
Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse – im Gegensatz zu seinem Fluchtvorbringen – glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.
Sein Fluchtvorbringen beurteilte das BFA als unglaubhaft und begründete dies im Wesentlichen mit mehreren angeführten Unplausibilitäten. Die vorgelegten Dokumente könnten nicht als echt verifiziert werden und es gebe erhebliche Zweifel an ihrer inhaltlichen Richtigkeit. Der BF hätte in seiner Befragung einen unglaubwürdigen Eindruck erweckt und offenbar eine „abenteuerliche, fiktive Fluchtgeschichte“ aufbauen wollen.
Subsidiärer Schutz wurde dem BF nicht zuerkannt, da ihm im Falle seiner Rückkehr eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul oder Mazar-e Sharif zur Verfügung stehe.
1.6. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit Schreiben seines zur Vertretung bevollmächtigten Rechtsberaters vom 22.08.2016 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit sowie wegen Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften ein.
In der Beschwerdebegründung wurde im Wesentlichen moniert, dass der BF sein Vorbringen detailliert und nachvollziehbar dargelegt und Belege vorgelegt hätte, die die belangte Behörde nicht hinreichend gewürdigt habe.
Das BFA habe ausgesprochen, dass ihm eine Rückkehr in seine Heimatprovinz „nicht zumutbar“ sei, aber über das Vorliegen eines sozialen Netzwerkes keine Aussagen getroffen. Die Voraussetzungen für das Vorliegen einer innerstaatliche Fluchtalternative seien daher nicht hinreichend geprüft worden.
Beigelegt waren der Beschwerde weitere Schriftstücke aus Afghanistan sowie ein weiterer Integrationsbeleg.
Beantragt wurde unter anderem die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.
1.7. Das BVwG veranlasste eine Übersetzung der der Beschwerde angeschlossenen Schriftstücke (zwei Drohbriefe, Anzeige seiner Mutter an die Behörde und Bestätigung der Behörde, in denen das Vorbringen des BF vor dem BFA wiedergegeben wurde).
1.8. Im Zuge des Beschwerdeverfahrens legte der BF weitere Belege zu seiner Integration vor (Sprachkurse A2 und B1, Erste-Hilfe-Kurs bei der Wiener Rettung).
1.9. Mit Schreiben des Präsidiums des BVwG vom 12.12.2017 wurde der zuständigen Gerichtsabteilung mitgeteilt, dass seitens der Volksanwaltschaft ein Schreiben hinsichtlich einer Beschwerde über die Verfahrensdauer eingelangt sei.
1.10. Das BVwG führte am 16.04.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu durch, zu der der BF mit seinem nunmehrigen anwaltlichen Vertreter persönlich erschien. Die belangte Behörde verzichtete im Vorhinein auf die Teilnahme an der Verhandlung.
Dabei gab der BF auf richterliche Befragung im Wesentlichen Folgendes an (Auszug aus der Verhandlungsschrift):
„[...] RI [Richter]: Was ist Ihre Muttersprache?
BF: Paschtu. Ich spreche darüber hinaus Dari und etwas Englisch, und ich habe auch in Österreich als Dolmetscher für Paschtu, Dari, Englisch und Deutsch – etwa bei der Caritas – gedolmetscht.
RI an D [Dolmetsch]: In welcher Sprache übersetzen Sie für den BF?
D: Paschtu.
RI befragt BF, ob er D gut verstehe; dies wird bejaht.
[...]
Der BF hat bisher Belege zu seiner Identität (Tazkira), zu seinem Fluchtvorbringen (zwei Drohbriefe von den Taliban, eine Bestätigung des Distriktsvorstehers, eine Anzeige bei der Behörde, Fotos) sowie zu seiner Integration (ein Konvolut an Empfehlungsschreiben und Fotos, ein A2-Deutschkursdiplom, mehrere Deutschkursbestätigungen, darunter eine B1-Kursbestätigung, ein Schreiben der Caritas betreffend eine Beschäftigungsbewilligung für eine Lehrstelle) vorgelegt.
Heute wird vorgelegt:
Ein Lehrvertrag als Maurer, der in Kopie zum Akt genommen wird, ein Konvolut an Empfehlungsschreiben und Fotos sowie eine Bestätigung des Bildungsministeriums in Afghanistan, dass der BF die Schule abgebrochen habe, die zum Akt genommen werden.
[...]
Zur Identität und Herkunft sowie zu den persönlichen Lebensumständen:
JM [Juristische Mitarbeiterin]: Sind die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen zu Ihrem Namen und Geburtsdatum sowie zu Ihrer Staatsangehörigkeit korrekt?
BF: Mein Name ist korrekt. Mein Geburtsdatum ist falsch. Ich bin in Wirklichkeit 20 Jahre alt. Mein richtiges Geburtsdatum ist XXXX (umgerechnet XXXX ). Der Vater hat dieses Geburtsdatum in einem Heft aufgeschrieben. Auch in meiner Tazkira wurde im Jahr 2014 festgehalten, dass ich damals 16 Jahre alt gewesen bin.
Angemerkt wird, dass sich eine rege Diskussion zwischen allen Anwesenden über das Geburtsdatum über Auffälligkeiten ergibt (9. oder 10. Monat, Umrechnung in beiden Fällen auf den XXXX ). Der BF bezeichnet sein Geburtsmonat als Jadi, laut D der 10. Monat.
Auf Ersuchen des BFV [Vertreter des BF] wird festgehalten, dass der BF angegeben hat, dass auch der Umstand, dass er noch nicht verheiratet ist, für seine Altersangabe spricht.
[...]
JM: Sind Sie verlobt, oder beabsichtigen Sie, in nächster Zeit zu heiraten?
BF: Ich bin in meiner Kindheit meiner Cousine versprochen worden. Es ist die Tochter meines Onkels väterlicherseits.
JM: Haben Sie Kinder?
BF: Nein.
JM: Wo sind Sie geboren und aufgewachsen?
BF: Ich bin in XXXX im Distrikt Koghiani geboren.
JM: Waren Sie darüber hinaus noch an anderen Orten in Afghanistan wohnhaft?
BF: Nein ich habe nur dort gelebt. 20 Tage war ich als Leibwache tätig.
JM: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?
BF: Ich habe die Schule bis zur 10. Klasse besucht.
JM: Womit haben Sie sich in Ihrem Herkunftsstaat Ihren Lebensunterhalt verdient bzw. wer ist für Ihren Lebensunterhalt aufgekommen?
BF: Mein Bruder war ein Offizier. Wir hatten Felder im Ausmaß von vier bis fünf Jirib.
JM: Wer hat diese Felder bewirtschaftet?
BF: Mein Vater. Nach der Schule und in den Schulferien haben wir ihm auch geholfen.
JM: Wann haben Sie den Englischkurs besucht?
BF: Ich habe den Englischkurs ca. einen Monat vor meiner Ausreise aus Afghanistan abgebrochen. Ich habe den Kurs ca. sieben Monate lang besucht.
JM: Haben Sie die Schule abgeschlossen? Warum nicht?
BF: Nein. Ich habe die Schule auch abgebrochen. Aufgrund der Taliban und des Krieges habe ich die Schule abgebrochen. Ich habe die Schule und den Englischkurs gleichzeitig besucht.
JM: Wann haben Sie begonnen, als Leibwächter zu arbeiten?
BF: Ich war auf dem Weg in den Englischkurs. Ich wurde zwei Mal von den Taliban angehalten. Nachdem mein Bruder ermordet wurde, habe ich als Leibwächter gearbeitet. Das war ca. am Ende des siebenten Monats 1393 laut unserem Kalender.
JM: Wann haben Sie Ihren Herkunftsstaat zuletzt genau verlassen?
BF: Ca. am Ende des achten Monats 1393.
JM: Wer hat Ihre Ausreise organisiert?
BF: Mein Vater. Ich habe mit meinem Bruder Kontakt aufgenommen, und mein Vater hat die Ausreise organisiert.
JM: Wie viel hat Ihre Ausreise gekostet?
BF: Das weiß ich nicht, mein Vater weiß es.
Zur derzeitigen Situation in Österreich:
JM: Haben Sie in Österreich lebende Familienangehörige oder Verwandte?
BF: Nein, ich habe keine Verwandten in Österreich. Aber es gibt einen Jungen, der stammt aus einem Nachbardorf. Dieser lebt in Bregenz.
JM ersucht D, die folgenden Fragen nicht zu übersetzen. JM stellt diverse Fragen.
RI stellt fest, dass der BF die zuletzt gestellten und nicht übersetzten Fragen verstanden und auf Deutsch beantwortet hat.
JM: Besuchen Sie derzeit einen Deutschkurs, oder haben Sie einen Deutschkurs bereits besucht?
BF: Nein, ich habe eine Lehrstelle und habe keine Zeit.
JM: Besuchen Sie in Österreich bestimmte Kurse oder eine Schule, oder sind Sie aktives Mitglied in einem Verein? Gehen Sie sportlichen oder kulturellen Aktivitäten nach?
BF: Ich arbeite seit längerer Zeit bei der Caritas als Dolmetscher (seit 2015). Ich gehe ins Fitnesstudio. Wenn ich Zeit habe, besuche ich meine Freunde und österreichische Familien, ich habe Kontakt zu ihnen. Der Name der Familie ist XXXX und XXXX .
JM: Wurden Sie in Österreich jemals von einem Gericht wegen einer Straftat verurteilt oder von einer Behörde mit einem Aufenthaltsverbot oder Rückkehrverbot belegt?
BF: Nein.
JM: Unterhalten Sie von Österreich aus noch Bindungen an Ihren Herkunftsstaat, insbesondere Kontakte zu dort lebenden Familienangehörigen, Verwandten, Freunden oder zu sonstigen Personen? Wenn ja, wie sieht dieser Kontakt konkret aus (telefonisch, brieflich, per E-Mail), bzw. wie regelmäßig ist dieser Kontakt?
BF: Ich habe Kontakt zu meinem Bruder namens XXXX . Wir schreiben uns oft am Wochenende Nachrichten über Facebook, die meiste Zeit über hält er sich an seiner Arbeitsstelle am Flughafen in Jalalabad auf. Er ist ein Offizier am Flughafen. Ich habe nur zu meinem Bruder Kontakt.
Der BF machte detaillierte Angaben zu seinem Fluchtvorbringen.
Der Vertreter des BF brachte vor: „Der BF gehört einer gefährdeten, exponierten Personengruppe an, und zwar jenen Personen, die mit der Regierung verbunden sind und diese tatsächlich unterstützen, und war direkt an der Tötung von zwei Taliban beteiligt. Weder in Kabul, noch in einer anderen Großstadt verfügt der BF über ein starkes soziales Netzwerk, das gemäß UNHCR – Stellungnahme 2016 Voraussetzung für die Annahme einer zumutbaren IFA wäre.“
Der Vertreter regte eine Vorortrechere an.
Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).
Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift übermittelt.
1.11. Mit Schreiben vom 16.05.2018 beauftragte das BVwG eine Länderkundige für Afghanistan mit deren Zustimmung mit der Vornahme von Recherchen zur Überprüfung der Angaben des BF. Nachdem sie kein Rechercheergebnis vorlegte, wurde dieser Länderkundigen nach erfolglosen Urgenzen vom 14.01.2019, 21.03.2019 und 05.06.2019 dieser Auftrag mit Schreiben des BVwG vom 07.08.2019 wieder entzogen.
1.12. Der Vertreter des BF legte mit Eingaben vom 06.11.2018 und 21.06.2019 weitere Belege für die Integration des BF vor (Integrationsprüfungszeugnis mit Deutschprüfung B1, Gehaltsabrechnungen, Empfehlungs- bzw. Referenzschreiben) und gab mit Schreiben vom 09.08.2019 an, die bei der Volksanwaltschaft eingereichte Beschwerde wegen des Misstandes einer überlangen Verfahrensdauer werde zurückgezogen.
1.13. Mit Schreiben vom 14.08.2019 beauftragte das BVwG den Länderkundigen Dr. Sarajuddin Rasuly mit der Vornahme von Recherchen zur Überprüfung der Angaben des BF.
1.14. Mit Schreiben vom 03.01.2020 teilte der Vertreter des BF dem BFA mit, dass der BF seit 01.03.2018 in einem Lehrverhältnis als Maurer stehe, und übermittelte den Lehrvertrag. Das BFA übermittelte dem BF eine Information betreffend die Hemmung der Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55a FPG.
1.15. Mit Eingabe vom 22.03.2020 übermittelte der Länderkundige eine gutachterliche Stellungnahme über das Ergebnis der beauftragten Recherche, derzufolge mehrere Angaben des BF verifiziert werden konnten, andere – für das Fluchtvorbringen erhebliche – hingegen nicht.
1.16. Das BVwG übermittelte diese gutachterliche Stellungnahme vom 22.03.2020 an den BF zur Stellungnahme und nachrichtlich an das BFA.
1.17. Mit Schreiben seines Vertreters vom 02.05.2020 nahm der BF zu einzelnen monierten Punkten in der o.a. gutachterlichen Stellungnahme Bezug.
Darüberhinaus übermittelte er ein Konvolut an Integrationsbelegen (Einkommensteuerbescheid 2019, Gehaltsabrechnungen über Lehrlingsentschädigung, Berufsschulzeugnis, Teilnahmebestätigungen an diversen betrieblichen Ausbildungen, Wohnungsbenutzungsvereinbarung mit der Caritas Feldkirch, Empfehlungsschreiben).
Mit weiterer Eingabe vom 23.05.2020 legte der BF eine Wahlkarte seines Bruders XXXX , einen weiteren Lohnzettel und ein weiteres Empfehlungsschreiben vor.
Auch diese Eingaben wurden dem BFA übermittelt.
Das BVwG veranlasste eine Übersetzung der vorgelegten Wahlkarte.
1.18. Das BVwG führte am 23.10.2020 eine ergänzende mündliche Beschwerdeverhandlung im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu durch, zu der der BF in Begleitung seines anwaltlichen Vertreters persönlich erschien.
Das BFA entschuldigte mit Schreiben vom 02.09.2020 seine Nichtteilnahme an der Verhandlung, beantragte die Abweisung der Beschwerde und die Übersendung des Verhandlungsprotokolls.
Im Zuge der Verhandlung zog der BF seine Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. (Asyl) und II. (subsidiärer Schutz) zurück und beantragte, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig erklärt und ihm in Berücksichtigung seiner Bemühungen um die Integration in Österreich in Beachtung von Art. 8 EMRK (Privat- und Familienleben) und seiner abgelegten Integrationsprüfung mit Deutschzertifikat B1 sowie einem regelmäßigen Einkommen weit über dem relevanten Mindestsatz eine Aufenthaltsberechtigung plus zuerkannt werde.
Das BvWG brachte weitere Erkenntnisquellen in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).
Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift übermittelt. Es gab dazu keine Stellungnahme ab.
1.19. Unmittelbar nach der Verhandlung übermittelte der BF noch ergänzend sein Zeugnis über die vor der Verhandlung erfolgreich abgelegte Deutschprüfung B2.
2. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
? Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend u.a. die Niederschriften der Erstbefragung am 19.12.2014 und der Einvernahmen vor dem BFA am 16.07.2015 und 23.06.2016, das medizinische Sachverständigengutachten zur Altersschätzung des BF vom 25.06.2015, die vom BF vorgelegten Belege zu seiner Integration in Österreich (ein A2-Deutschkursdiplom, mehrere Deutschkursbestätigungen, darunter eine B1-Kursbestätigung, ein Schreiben der Caritas betreffend eine Beschäftigungsbewilligung für eine Lehrstelle, ein Konvolut an Empfehlungsschreiben und Fotos) und zu seinem Fluchtvorbringen (zwei Drohbriefe von den Taliban, eine Bestätigung des Distriktsvorstehers, eine Anzeige bei der Behörde, Fotos), den angefochtenen Bescheid sowie die gegenständliche Beschwerde
? Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Aktenseiten 281 bis 336)
? Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 16.04.2018 und 23.10.2020 sowie Einsicht in die vom BF im Beschwerdeverfahren vorgelegten Belege zu seiner Integration (Integrationsprüfungszeugnis mit Deutschprüfung B1, Gehaltsabrechnungen, Empfehlungs- bzw. Referenzschreiben, Lehrvertrag als Maurer, Einkommensteuerbescheid 2019, Gehaltsabrechnungen über Lehrlingsentschädigung, Berufsschulzeugnis, Teilnahmebestätigungen an diversen betrieblichen Ausbildungen, Wohnungsbenutzungsvereinbarung mit der Caritas Feldkirch, mehrere Empfehlungsschreiben)
? Einsicht in das Rechercheergebnis vom 22.03.2020
? Einsicht in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 16.04.2018 und 23.10.2020 zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:
o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie in der Provinz Nangarhar (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 02.03.2017, zuletzt aktualisiert am 30.01.2018 sowie vom 13.11.2019, zuletzt aktualisiert am 21.07.2020),
o Zusammenfassung der UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom April 2016 und Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Innern vom Dezember 2016
o Artikel in Asylmagazin 3/2017 „Überleben in Afghanistan? Zur humanitären Lage von Rückkehrenden und ihren Chancen auf familiäre Unterstützung“ von Friederike Stahlmann sowie
o Auszug aus einer gutachterlichen Stellungnahme des Länderkundigen Dr. Sarajuddin Rasuly in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof am 13.06.2012 im Verfahren C15 410.319-1/2009
3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):
Das BVwG geht auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen, glaubhaft gemachten Sachverhalt aus:
3.1. Zur Person des BF:
3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , stammt aus XXXX , Distrikt Koghiani, Provinz Nangarhar, Afghanistan, ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Paschtu, er spricht darüber hinaus auch Dari und etwas Englisch. Der BF besuchte zehn Jahre lang die Schule. Er ist ledig und hat keine Kinder.
3.1.2. Der BF verließ zu Jahresbeginn 2015 seine Heimat aus angegebenen Gründen mit Hilfe seines Vaters per Flugzeug und reiste von Kabul nach Teheran und von dort schlepperunterstützt über die Türkei über ihm unbekannte Länder bis nach Europa, wo er am 16.04.2015 in Österreich gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
3.1.3. Der BF ist seit April 2015 in Österreich aufhältig. Er ist als junger Mann (mit ca. 23 Jahren) nach Österreich gekommen und hat ernsthaft und erfolgreich Integrationsbemühungen gesetzt. Er verfügt über gute soziale Kontakte zu Österreichern. Er betreibt Sport.
Der BF hat im Jahr 2018 eine Lehre als Maurer begonnen (Lehrvertrag bis 2021) und verdient derzeit monatlich netto 1653,26 Euro.
Er hat die Integrationsprüfung mit Deutschzertifikat B1 (und B2) abgelegt.
Der BF hat nach seinen Angaben regelmäßigen telefonischen Kontakt mit seiner Familie.
3.1.4. Der BF ist irregulär in das Bundesgebiet eingereist. Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Das Vorliegen schwerwiegender Verwaltungsübertretungen ist nicht bekannt.
3.2. Die Frage der asylrelevanten Verfolgung des BF in seinem Herkunftsstaat sowie die Frage, ob ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zu gewähren ist, ist nach Zurückziehung seiner Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides nicht mehr Gegenstand dieses Verfahrens.
3.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:
3.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan („Gesamtaktualisierung am 13.11.2019“, zuletzt aktualisiert 21.07.2020, Schreibfehler teilweise korrigiert):
„[…] 2. Politische Lage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).
In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an – eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.04.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.05.2019). Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für fünf Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).
Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14.11.2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden, und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben, und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.03.2019).
Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.05.2019).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.05.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004, USDOS 29.05.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.01.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 02.09.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 02.09.2019; vgl. AAN 06.05.2018, DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 02.09.2019).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).
Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss, und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.01.2019).
Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.06.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.01.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.06.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.08.2019) – bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 08.09.2019) – mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als „Marionette“ des Westens betrachten – auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.08.2019; vgl. NZZ 12.08.2019; DZ 08.09.2019).
Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln, und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.01.2019; vgl. DP 28.01.2019, MS 28.01.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigte Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.05.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehrere Warlords, statt (Qantara 12.02.2019; vgl. TN 31.05.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.02.2019; vgl. NYT 07.03.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.03.2019; vgl. WP 18.03.2019).
Vom 29.04.2019 bis 03.05.2019 tagte in Kabul die „große Ratsversammlung“ (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 06.05.2019 bis 04.06.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 06.05.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.05.2019).
3. Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 03.09.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison – was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.04.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.06.2019; vgl. AJ 12.04.2019; NYT 12.04.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.04.2019; vgl. NYT 12.04.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.06.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt – dies hatte zum Ziel, die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.01.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss, als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten – als Reaktion auf einen Anschlag – absagte (DZ 08.09.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 03.09.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 07.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.08. – 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.04.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte, die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren, und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran, ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 03.09.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich es keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 03.09.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 07.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 07.12.2018; vgl. ARN 23.06.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit – insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan (UNGASC 03.09.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.02.2019).
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Für den Berichtszeitraum 10.05. – 08.08.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevante Vorfälle – eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 03.09.2019). Für den Berichtszeitraum 08.02 – 09.05.2019 registrierte die UN insgesamt 5249 sicherheitsrelevante Vorfälle – ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.06.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.05 – 08.08.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle, bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet – 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 03.09.2019).
Im Gegensatz dazu registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
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Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.01.2019).
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.01.2019).
Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.04.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019).
Zivile Opfer
Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 01.01. – 30.09.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) – dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September – im Gegensatz zu 2019 – von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.04.2019) berichtet, bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl – Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) – 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.02.2019; vgl. SIGAR 30.04.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.02.2019).
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High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 01.06.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 01.12.2018 und 15.05.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.02.2019).
Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.02.2019).
Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018
Die afghanische Regierung bemühte sich, Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten „Geldbußen“ und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.03.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.04.2018) bis Ende des Jahres 2018 wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.02.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):
Taliban
Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.08.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.07.2019). Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.08.2019; vgl. FA 03.01.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.05.2016) – Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.01.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 04.07.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 06.12.2018).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.06.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.08.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.01.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.08.2017; vgl. AAN 03.01.2017; AAN 17.03.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen betreiben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig, und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.08.2019).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.08.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.08.2017).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.02.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 01.07.2010; vgl. USDOS 19.09.2018; vgl. CRS 12.02.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015 als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).
Als gefährlichster Arm der Taliban hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.08.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.02.2019).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 05.03.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 01.08.2017; vgl. LW 04.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.09.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.06.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 03.06.2019; vgl. VOA 21.05.2019).
Berichten zufolge besteht der ISKP in Pakistan hauptsächlich aus ehemaligen Teherik-e Taliban Mitgliedern, die vor der pakistanischen Armee und ihrer militärischen Operationen in der FATA geflohen sind (CRS 12.02.201