TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/11 W192 2166246-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.11.2020
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Entscheidungsdatum

11.11.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AVG §68 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W192 2166246-2/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Ruso über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA.: Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.09.2020, Zl. 1092819604/20039681, zu Recht erkannt:

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 68 Abs. 1 AVG behoben.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

1.1. Die Beschwerdeführerin, eine volljährige Staatsangehörige von Afghanistan, reiste gemeinsam mit ihren Eltern, vier Brüdern, einer Schwägerin und einem Neffen illegal in das Bundesgebiet ein und stellten am 30.10.2015 mit ihren Familienangehörigen einen ersten Antrag auf internationalen Schutz.

Diese Anträge wurden durch Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts vom 08.08.2019 nach Durchführung von mündlichen Beschwerdeverhandlungen gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen und gegen die Beschwerdeführer jeweils Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG 2005 erlassen, festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise eingeräumt. In dieser Entscheidung hat das Bundesverwaltungsgericht über die Beschwerdeführer folgende Feststellungen getroffen:

„Die Beschwerdeführer (…) sind allesamt afghanische Staatsangehörige, schiitischen Glaubens, gehören der Volksgruppe der Tadschiken an und stammen (…) aus Herat. Die letzten vier Jahre vor ihrer Ausreise nach Europa verbrachten die Beschwerdeführer im Iran. Sie sprechen die Sprache Dari auf muttersprachlichem Niveau.

Die Beschwerdeführer waren in Afghanistan keiner konkreten individuellen Verfolgung ausgesetzt und wurden von ihnen asylrelevante Gründe für das Verlassen ihres Heimatstaates nicht glaubhaft dargetan. Es ist nicht glaubhaft, dass den Beschwerdeführern in Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung Verfolgung droht.

Es ist nicht glaubhaft, dass die BF8 (Schwägerin der Beschwerdeführerin) und die übrigen Beschwerdeführer aufgrund einer vermeintlichen Verteilung von CDs im Rahmen ihrer Lehrtätigkeit als Koranlehrerin für Kinder bedroht wurden. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer deshalb konkret und individuell mit der Ausübung von physischer und/oder psychischer Gewalt bedroht worden sind noch, dass sie konkreten Verfolgungshandlungen ausgesetzt waren oder sind.

Festgestellt wird auch, dass dem BF1 (Vater der Beschwerdeführerin) und seiner Familie keine Verfolgung aufgrund seiner Vortragstätigkeit als Maddah, die er jahrzehntelang ausgeübt hat, gedroht hat und auch nach wie vor nicht droht.

Festgestellt wird, dass den Beschwerdeführern auch nicht wegen ihrer Zugehörigkeit zum schiitischen Islam oder der tadschikischen Volksgruppe konkret und individuell physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan droht.

Bei den BF2 (Mutter der Beschwerdeführerin), BF4 (Beschwerdeführerin) und BF8 (Schwägerin der Beschwerdeführerin) handelt es sich auch nicht um auf Eigenständigkeit bedachte Frauen, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert sind. Die Beschwerdeführer verließen ihre Heimat nicht deshalb, weil sich die Beschwerdeführerinnen von den vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Sitten ihres Heimatlandes lösen wollten und es gibt auch seit ihrem Aufenthalt in Österreich keine substantiellen Hinweise, dass sie ein selbstbestimmtes Leben einer „westlich“ orientierten Frau führen oder führen wollen. Die Beschwerdeführer halten sich erst seit 30.10.2015 in Österreich auf. Es konnte nicht glaubhaft dargelegt werden, dass sie während dieses relativ kurzen Aufenthalts in Österreich eine Lebensweise angenommen hätten, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde. Ihre persönliche Haltung über die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft steht nicht im Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind. Sie haben keine Lebensweise angenommen, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Eine solche Lebensführung ist nicht wesentlicher Bestandteil der Identitäten der BF2, BF4 und BF8 geworden. Für außergewöhnliche Integrationsbestrebungen gibt es keinen Hinweis. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass es den weiblichen Beschwerdeführerinnen unmöglich oder unzumutbar wäre, sich (wieder) in das afghanische Gesellschaftssystem zu integrieren.

Die BF4 (Beschwerdeführerin) hat ebenfalls gute Deutschkenntnisse und kann eine Konversation führen. Sie arbeitet ehrenamtlich als Dolmetscherin für die Diakonie Flüchtlingsdienst. Sie hat die neunte Schulstufe der Handelsschule positiv absolviert und von Oktober 2018 bis Mai 2019 ein aufgrund schulrechtlicher Bestimmungen vorgesehenes Berufspraktikum (1 Tag pro Woche) im Verwaltungsarchiv bzw. in der Registratur einer Stadtgemeinde absolviert. Sie ist Schülerin und lebt ebenfalls von der Grundversorgung.“

In der Begründung der Entscheidung führte das Bundesverwaltungsgericht aus:

„Die Feststellungen zu den BF2, BF4 und BF8 als nicht am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte afghanische Frauen ergeben sich aus ihren Angaben beim Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung sowie insbesondere dem persönlichen Eindruck, der durch die erkennende Richterin von den Beschwerdeführerinnen in der Verhandlung gewonnen werden konnte und aus vorliegenden Fotos.

Auf den in der Verfahrensakte aufliegenden Fotos sieht man die Beschwerdeführerinnen allesamt nur traditionell gekleidet, wie es für afghanische Frauen üblich ist. Das Ablegen des Schleiers der Beschwerdeführerinnen vor der mündlichen Verhandlung ist für die erkennende Richterin daher nicht als emanzipatorischer Akt, sondern als reiner äußerlicher Akt der Anpassung zu werten und überdies keineswegs glaubhaft gewesen. So gaben die Beschwerdeführerinnen zwar allesamt an, dass sie kein Kopftuch mehr tragen würden, gaben sodann jedoch selbst an, nicht im Vorhinein über diese Entscheidung miteinander kommuniziert zu haben. Dies ist jedoch keineswegs überzeugend, zumal es sich beim Ablegen des Kopftuches für eine afghanische Frau um ein einschneidendes Ereignis gehandelt haben müsste. Insbesondere war ihr diesbezügliches Auftreten nicht zuletzt auch deshalb unglaubwürdig und nicht überzeugend, als sie in einem Zeitungsbericht einer österreichischen Zeitung im Oktober 2018 alle drei noch einen Schleier trugen und der BF5 danach befragt auch bestätigte, dass das Foto im Oktober 2018 gemacht wurde. Insbesondere wird festgehalten, dass die BF4 auch bei ihrem Praktikum im Jänner 2019 noch einen Schleier trug und somit keinesfalls glaubhaft ist, dass die Beschwerdeführerinnen ihre Kopftücher tatsächlich abgelegt haben wollen, sondern vielmehr einen „westlichen“ Eindruck erwecken wollten, was ihnen im Ergebnis jedoch keineswegs gelungen ist.

So gab die BF4, widersprüchlich zu den Bildaufnahmen, sogar an, dass sie, als sie ihr Praktikum beim Magistrat begonnen hätte, ihr Kopftuch abgenommen hätte. Sohin trage sie ihr Kopftuch seit dem ersten Arbeitstag am 03.10.2018 nicht mehr. Auf Vorhalt eines Zeitungsartikels über ihr Berufspraktikum vom 23.01.2019 und ein damit veröffentlichtes Foto, in dem sie aber sehr wohl ein Kopftuch trägt, gab sie völlig unglaubwürdig an, dass sie gefragt worden sei, ob sie damit einverstanden sei, wenn es im Internet veröffentlicht werde. Sie hätte dann nur für das Foto ein Kopftuch getragen, weil sie nicht gewollt hätte, dass ihre Freunde in Afghanistan sie ohne Kopftuch sehen und ihr sodann etwas unterstellen würden. Nachdem das Foto gemacht worden sei, hätte sie das Kopftuch wieder abgelegt. Diese Ausführungen vermochten die erkennende Richterin jedoch keineswegs zu überzeugen, sondern werden als reiner Versuch der Rechtfertigung für den offenbaren Widerspruch gewertet.

Die Beschwerdeführerinnen präsentierten sich vor dem Bundesverwaltungsgericht allesamt mit offenen bzw. zusammengebundenen Haaren (ohne Schleier), (starker) Schminke, Schmuck und Jeanshosen. Eine „westliche Orientierung“ allein aufgrund dieses Umstandes abzuleiten würde jedoch die Konsequenz zur Folge haben, dass sich Beschwerdeführerinnen – ungeachtet ihrer tatsächlichen inneren Einstellung – lediglich in „westlicher Mode“ vor dem Gericht mit dem Hinweis präsentieren müssten, dass ein derartiges Auftreten in Afghanistan keinesfalls zulässig wäre und den Beschwerdeführerinnen demzufolge automatisch der Asylstatus zuzuerkennen wäre. Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes kann aber der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur „westlichen Orientierung“ von Frauen in Afghanistan keine derartige Intention unterstellt werden. Ferner können so allgemein gehaltene Aussagen, wonach Frauen „vollkommen frei“ sein und die „gleichen Rechte wie Männer“ haben sollten keineswegs bereits als ausschlaggebendes Motiv für eine „westliche Orientierung“ der Beschwerdeführerinnen angesehen werden, andernfalls ähnlich stereotyp gelagerte Antworten automatisch dazu führen müssten, dass Beschwerdeführerinnen in jedem Falle Asyl aufgrund der sozialen Gruppe „Frauen“ zu gewähren wäre.

Als wesentlich entscheidender als das äußere Erscheinungsbild sieht das Bundesverwaltungsgericht jedoch die Tatsache, dass sich die Beschwerdeführerinnen zu wenig bemüht haben, sich eine Lebensweise einer „westlich“ orientierten Frau anzueignen.

Zu BF4: Eingangs ist neuerlich festzuhalten, dass die BF4 widersprüchlich zu den in der Verfahrensakte aufliegenden Bildaufnahmen angab, dass sie, als sie ihr Praktikum beim Magistrat begonnen hätte, ihr Kopftuch abgenommen hätte. Auf Vorhalt eines Zeitungsartikels über ihr Berufspraktikum und ein damit veröffentlichtest Foto, in dem sie sehr wohl ein Kopftuch trägt, machte sie völlig unglaubwürdige Angaben und hinterließ bereits eingangs einen überaus unglaubwürdigen Eindruck. Ebenso unglaubwürdig ist ihre Aussage, wonach sie nach dem (unglaubwürdigen) Vorfall mit den CDs eine Burka in Herat tragen hätte müssen, damit sie die Leute nicht erkannt hätten.

Zwar nimmt die BF4 Möglichkeiten der Freizeitgestaltung in Anspruch und knüpfte soziale Kontakte, sodass sie sich grundsätzlich nicht gegenüber typischer Freizeitgestaltung und dem Kontakt mit Österreicherinnen und Österreichern verschließt. Dass sie gut Deutsch spricht und ihre Wohnung verlässt, um ihrer Schulbildung nachzukommen und gelegentlich an Freizeitaktivitäten teilzunehmen, ist als nach außen tretende Verhaltensweise jedoch keine ausreichende Grundlage für das Führen eines selbstbestimmten Lebens. Der von ihr im Rahmen der mündlichen Verhandlung gewonnene persönliche Eindruck bestätigt, dass sie keine Lebensweise angenommen hat, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt und dass eine solche Lebensführung nicht zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist. Dass sie ein Berufspraktikum im Ausmaß von einem Tag pro Woche über acht Monate hinweg gemacht hat, um ihrer schulischen Verpflichtung nachzukommen, kann ebenso wenig einen Grund darstellen, von einer „westlichen“ Orientierung auszugehen. So nutzte die BF4 exemplarisch und geradezu auffallend auch diesen Umstand, um auf die schlechte Lage afghanischer Frauen und ihre Abhängigkeit von Männern in Afghanistan hinzuweisen. Auf entsprechenden Vorhalt, dass ihre Schwägerin doch genau das Gegenteil bewiesen habe und es ihr möglich war, als Lehrerin in der Stadt Herat zu arbeiten, gab die BF4 lediglich an, dass sie von ihrem Bruder abhängig gewesen sei. Wenn er sie nicht zur Arbeit gebracht und wieder abgeholt hätte, hätte sie diesen Beruf nicht ausüben können. Hierzu ist festzuhalten, dass selbst wenn die Umstände auch erschwert gewesen sein mögen, unter denen der BF8 eine Berufsausübung möglich gewesen ist, dennoch festzuhalten ist, dass eine solche nicht ausgeschlossen, sondern vielmehr, wie im konkreten Fall vorliegend, eben möglich war und ist. Auch aus den Länderfeststellungen ergibt sich, dass die städtische Bevölkerung kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter mehr hat. Davor war der Widerstand gegen arbeitende Frauen groß und wurde damit begründet, dass ein Arbeitsplatz ein schlechtes Umfeld für Frauen darstelle, etc. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und afghanische Frauen sehen sich immer noch Hindernissen ausgesetzt, wenn es um Arbeit außerhalb ihres Heimes geht. So gehen im ländlichen Afghanistan viele Frauen, aus Furcht vor sozialer Ächtung, keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach. Diese Probleme treffen jedoch nicht auf die BF4 und die übrigen Beschwerdeführerinnen zu, da sich ihre Familie für ihre Bildung und eine Berufsausübung ausgesprochen hat und eine solche in Herat Stadt, das nicht zum ländlichen Afghanistan zählt, auch tatsächlich möglich ist.

Insgesamt hinterließ die BF4 zu keinem Zeitpunkt ihrer Einvernahme einen glaubwürdigen Eindruck, sondern schien sie bei der Beantwortung der Fragen vielmehr ausschließlich auf ihren persönlichen Vorteil in Bezug auf die Darlegung einer vermeintlichen westlichen Orientierung und der schlechten Lage der Frauen in Afghanistan bedacht zu sein. Ihre Antworten schienen aber gerade aus diesem Grund völlig unglaubwürdig und waren nicht geeignet, den Eindruck herbeizuführen, dass sie tatsächlich der Wahrheit entsprechen. Insbesondere aufgrund dieses im Rahmen der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks von der BF4 war ihr die Glaubwürdigkeit in Bezug auf ihr Vorbringen der „westlichen“ Orientierung als völlig unglaubwürdig abzusprechen und schienen ihre Antworten vielmehr einstudiert zu sein, um einen möglichst „westlichen“ Eindruck zu hinterlassen.

Unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen und insbesondere aus dem im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung gewonnenen Gesamteindruck, den die BF4 in der Verhandlung hinterlassen hat, lässt sich eine Verinnerlichung einer „westlichen Lebensweise“, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt, auch bei ihr nicht ableiten.“

Das Erkenntnis des BVwG erwuchs am 21.08.2019 in Rechtskraft.

1.2. Am 12.05.2020 stellte die Beschwerdeführerin den verfahrensgegenständlichen Folgeantrag.

Sie gab dazu bei der Erstbefragung an, dass die im Verfahren über den ersten Asylantrag genannten alten Fluchtgründe aufrecht bleiben würden und die Feinde ihrer Familie mächtiger geworden seien. Weiters brachte sie vor, sie sei eine westlich orientierte Frau und könne mit ihrer Einstellung in Afghanistan nicht leben. Sie besuche hier die Handelsschule und wolle hier arbeiten. In Afghanistan habe sie diese Möglichkeit nicht und habe als Frau keine Rechte.

Bei der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 30.07.2020 brachte die Beschwerdeführerin vor, dass sie und ihre Familie in Afghanistan aus den im Verfahren über ihren ersten Antrag vorgebrachten Gründen durch den näher bezeichneten Mullah verfolgt würden. Zum Vorhalt, dass diese Angaben in Verfahren über die ersten Asylanträge als nicht glaubhaft beurteilt worden seien, brachte sie vor, dass der Verfolger jetzt noch mächtiger geworden sei.

Zum Hinweis, dass die Beschwerdeführerin im Herkunftsstaat vor der Ausreise eine Schule besucht habe und es dort auch berufstätige Frauen gebe, brachte sie vor, dass sie fünf Jahre in Österreich gelebt habe und nicht so leben könne, wie die Frauen dort. Im Herkunftsstaat werde eine Frau nur als Objekt gesehen und ihre Stimme zähle nicht.

Sie sei als Mädchen in Afghanistan in ihrer Familie, in der es keinen Unterschied zwischen Mann und Frau gebe, gut behandelt worden. Ihre Familie hätte gegen ein Studium oder eine Berufstätigkeit keine Einwände gehabt, sie habe außerhalb des Familienkreises die Probleme. Für ihre Familie und sie selbst seien Religion und Herkunft nicht wichtig. Die Beschwerdeführerin legte das Zeugnis der am 25.06.2020 abgelegten Integrationsprüfung auf Sprachniveau B1, Jahreszeugnisse der Handelsschule (zuletzt im Schuljahr 2019/2020 Absolvierung der zweiten Klasse unter sehr guter Beurteilung im Pflichtgegenstand „Betriebswirtschaft, Wirtschaftliches Rechnen, Rechnungswesen), Fotos von Schulveranstaltungen, auf denen sie nicht verschleiert und nicht nach afghanischer Tradition gekleidet ist, Bestätigungen über ein Pflichtpraktikum an der Handelsschule vom Oktober 2019 bis Mai 2020 und über ein Praktikum in der Registratur einer Magistratsdirektion vom Oktober 2018 bis Mai 2019 sowie Empfehlungsschreiben ihrer Lehrer vor.

Über Ihre Freizeitgestaltung gab sie nach Bezeichnung einzelner Aktivitäten an, dass sie, seitdem sie in Österreich lebe, erst wisse, was leben heiße. Sie werde hier als Mensch und nicht als Frau gesehen und es seien die Rechte der Frauen und Männer gleich. Obwohl hier in Österreich nicht ihre Kultur und Sprache sei, habe sie ein besseres Gefühl. Ihr größter Wunsch sei seit ihrer Kindheit, Buchhalterin zu werden. In Afghanistan könnte sie das niemals machen.

Seit sie Afghanistan verlassen habe, habe sich ihr Kleidungsstil geändert. In Afghanistan habe sie nicht gewagt, alleine das Haus zu verlassen und sich nicht getraut, ihre Meinung zu vertreten. Sie habe in Afghanistan keine Ziele gehabt und gewusst, dass sie solche sowieso nicht erreichen würde. Sie habe in der Schule gute Noten gehabt, aber gewusst, dass sie auch mit guten Noten nicht arbeiten könne. Sie habe keine körperliche Sicherheit und kein Selbstvertrauen gehabt und sei depressiv gewesen. Hier müsse sie noch ein Jahr zur Schule gehen und wisse, dass sie ihr Ziel erreichen könne. Sie habe die Möglichkeit und Sicherheit, dies habe sie Afghanistan nicht.

Sie wolle mit ihrer Familie in Sicherheit leben und ein selbstbestimmtes Leben führen. Sie wolle denjenigen heiraten, den sie liebe und auswähle, auf eigenen Beinen stehen und eigenes Geld verdienen. Sie wolle nicht von einem zukünftigen Mann abhängig sein.

Die Beschwerdeführerin fühle sich hier nicht fremd. Während ihres Aufenthaltes im Iran seien Kultur, Sprache und Religion wie in Afghanistan gewesen und sie habe sich dort nicht willkommen gefühlt, sondern so, als ob sie keine Bedeutung hätte. Hier fühle sie sich wertvoll. Sie sei kein religiöser Mensch und fühle sich von der westlichen Kultur geprägt. Man könne leben wie man möchte, keiner mische sich ein. Ihre Eltern und Brüder würden sich nicht in ihren Kleidungsstil und ihre Ansichten einmischen und es sei egal, ob sie später einen afghanischen oder österreichischen Freund habe.

1.3. Mit dem nunmehr angefochtenem Bescheid des BFA vom 03.09.2020 wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des Asylberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkt I.) und dieser Antrag hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt II.), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Die Behörde stellte fest, dass die Beschwerdeführerin im neuerlichen Asylverfahren keine weiteren relevanten Tatsachen vorgebracht habe bzw. sich kein neuer objektiver Sachverhalt ergeben habe. In der Beweiswürdigung wurde dazu ausgeführt, dass die von der Beschwerdeführerin neuerlich vorgebrachte Betrohung durch einen näher bezeichneten Mullah bereits im Vorverfahren als nicht glaubhaft beurteilt worden sei.

Sofern sich die Beschwerdeführerin in ihrem Vorbringen auf die Situation der Frauen in Afghanistan beziehe, werde auf die Ausführungen des Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts vom 08.08.2019 verwiesen. Bei der Befragung am 30.07.2020 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl seien keine neuen Anhaltspunkte dafür zutage getreten, dass die Beschwerdeführerin mittlerweile den Lebensstil einer „westlich orientierten“ Frau verinnerlicht hätte. Die Anpassung des Kleidungsstils reiche nicht aus, um einen tatsächlich verinnerlichten westlichen Lebensstil glaubhaft zu machen. Die Aussagen zu Bildungs- und Berufsmöglichkeiten, die sich in Österreich bieten, könnten eine innere Wertehaltung bezüglich der Lebensweise von westlich orientierten Frauen nicht überzeugend darlegen. Insgesamt habe die Beschwerdeführerin zu keinem Zeitpunkt einen glaubwürdigen Eindruck hinterlassen, sondern schien bei der Beantwortung der Fragen ausschließlich auf den persönlichen Vorteil in Bezug auf die Darlegung einer vermeintlichen westlichen Orientierung und der schlechten Lage der Frauen in Afghanistan bedacht zu sein.

1.4. Gegen alle Spruchpunkte dieses Bescheides erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht mit Schreiben vom 24.09.2020 Beschwerde. Darin wurde vorgebracht, dass die Beschwerdeführerin in der Einvernahme vom 30.07.2020 ausgeführt habe, dass sie ein selbstbestimmtes Leben hinsichtlich Partnerwahl und Berufstätigkeit führen wolle, was im Widerspruch zu den traditionalistischen-religiös geprägten gesellschaftlichen Auffassungen hinsichtlich Bewegungsfreiheit und der Rolle der Frau in der Gesellschaft im Herkunftsstaat bestehe. Die Beschwerdeführerin habe nicht nur ihr Erscheinungsbild geändert, sondern auch ihre westliche Orientierung in Taten umgesetzt. Sie habe die deutsche Sprache gelernt, wolle einen Beruf als Buchhalterin erlernen und einer Beschäftigung nachgehen. Sie habe eine selbstbestimmte Lebensführung verinnerlicht, deren Ablegung ihr nicht mehr zugemutet werden könne.

2. Die Feststellungen ergeben sich aus dem vorgelegten Verwaltungsakt.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1.1. Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das VwGVG, BGBl. I 2013/33 idF BGBl. I 2013/122, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

§ 1 BFA-VG, BGBl I 2012/87 idF BGBl I 2013/144 bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und FPG bleiben unberührt.

§ 16 Abs. 6 und § 18 Abs. 7 BFA-VG bestimmen für Beschwerdevorverfahren und Beschwerdeverfahren, dass §§ 13 Abs. 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anzuwenden sind.

3.1.2. Zur Zulässigkeit der Beschwerde:

Die Beschwerde gegen den Bescheid vom 03.09.2020 wurde durch die bevollmächtigte Rechtsberaterin der Beschwerdeführerin am 24.09.2020 fristgerecht eingebracht.

Zu A) Stattgebung der Beschwerde

3.2.1. Gemäß § 68 Abs. 1 AVG sind Anbringen von Beteiligten, die außer den Fällen der §§ 69 und 71 die Abänderung eines der Berufung bzw. Beschwerde nicht oder nicht mehr unterliegenden Bescheides begehren, wenn die Behörde nicht den Anlass zu einer Verfügung gemäß den Abs. 2 und 4 findet, wegen entschiedener Sache zurückzuweisen.

Verschiedene Sachen im Sinne des § 68 Abs. 1 AVG liegen vor, wenn in der für den Vorbescheid maßgeblichen Rechtslage oder in den für die Beurteilung des Parteibegehrens im Vorbescheid als maßgebend erachteten tatsächlichen Umständen eine Änderung eingetreten ist oder wenn das neue Parteibegehren von dem früheren (abgesehen von Nebenumständen, die für die rechtliche Beurteilung der Hauptsache unerheblich sind) abweicht (VwGH 10.06.1998, Zl. 96/20/0266). Liegt keine relevante Änderung der Rechtslage oder des Begehrens vor und ist in dem für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt keine Änderung eingetreten, so steht die Rechtskraft des ergangenen Bescheides dem neuerlichen Antrag entgegen und berechtigt die Behörde zu seiner Zurückweisung. Ist also eine Sachverhaltsänderung, die eine andere rechtliche Beurteilung nicht von vornherein ausgeschlossen erscheinen ließe, entgegen den Behauptungen der Partei in Wahrheit nicht eingetreten, so ist der Asylantrag gemäß § 68 Abs. 1 AVG zurückzuweisen (VwGH 21.09.2000, Zl. 98/20/0564).

Auch Bescheide, die - auf einer unvollständigen Sachverhaltsbasis ergangen - in Rechtskraft erwachsen sind, sind verbindlich und nur im Rahmen des § 69 Abs. 1 AVG einer Korrektur zugänglich. Einem zweiten Asylantrag, der sich auf einen vor Beendigung des Verfahrens über den ersten Asylantrag verwirklichten Sachverhalt stützt, steht die Rechtskraft des über den ersten Antrag absprechenden Bescheides entgegen (VwGH 10.06.1998, Zl. 96/20/0266 mit Hinweis auf VwGH 24.3.1993, Zl. 92/12/0149).

Könnten die behaupteten neuen Tatsachen, gemessen an der dem rechtskräftigen Bescheid zugrunde liegenden Rechtsanschauung, zu einem anderen Verfahrensergebnis führen, so bedarf es einer die gesamten bisherigen Ermittlungsergebnisse einbeziehenden Auseinandersetzung mit ihrer Glaubwürdigkeit (Hinweis E 26. Juli 2005, 2005/20/0343; gegen den bloßen Verweis auf den inhaltlichen Zusammenhang mit dem im Erstverfahren als unglaubwürdig erachteten Vorbringen zuletzt E 27. September 2005, 2005/01/0363). Daran ändert auch der Umstand nichts, dass das neue Vorbringen in einem inhaltlichen Zusammenhang mit den im Erstverfahren nicht geglaubten Behauptungen stand. Ein solcher Zusammenhang kann für die Beweiswürdigung der behaupteten neuen Tatsachen argumentativ von Bedeutung sein, macht eine Beweiswürdigung des neuen Vorbringens aber nicht von vornherein entbehrlich oder gar – in dem Sinn, mit der seinerzeitigen Beweiswürdigung unvereinbare neue Tatsachen dürften im Folgeverfahren nicht angenommen werden – unzulässig (VwGH 29.9.2005, Zl. 2005/20/0365).

§ 68 Abs. 1 AVG soll in erster Linie die wiederholte Aufrollung einer bereits entschiedenen Sache (ohne nachträgliche Änderungen der Sach- oder Rechtslage) verhindern. Die objektive (sachliche) Grenze dieser Wirkung der Rechtskraft wird durch die "entschiedene Sache", also durch die Identität der Verwaltungssache, über die bereits mit einem formell rechtskräftigen Bescheid abgesprochen wurde, mit der im neuen Antrag intendierten bestimmt. Identität der Sache liegt dann vor, wenn einerseits weder in der Rechtslage noch in den für die Beurteilung des Parteibegehrens maßgeblichen tatsächlichen Umständen eine Änderung eingetreten ist und sich andererseits das neue Parteibegehren im Wesentlichen (von Nebenumständen, die für die rechtliche Beurteilung der Hauptsache unerheblich sind, abgesehen) mit dem früheren deckt. Dabei kommt es allein auf den normativen Inhalt des bescheidmäßigen Abspruches des rechtskräftig gewordenen Vorbescheides an. In Bezug auf wiederholte Asylanträge muss die behauptete Sachverhaltsänderung zumindest einen glaubhaften Kern aufweisen, dem Asylrelevanz zukommt und an den die positive Entscheidungsprognose anknüpfen kann. Danach kann nur eine solche behauptete Änderung des Sachverhaltes die Behörde zu einer neuen Sachentscheidung - nach etwa notwendigen amtswegigen Ermittlungen - berechtigen und verpflichten, der für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen rechtliche Relevanz zukäme. Die Behörde hat sich mit der behaupteten Sachverhaltsänderung bereits bei der Prüfung der Zulässigkeit der (neuerlichen) Antragstellung insoweit auseinander zu setzen, als von ihr - gegebenenfalls auf der Grundlage eines durchzuführenden Ermittlungsverfahrens - festzustellen ist, ob die neu vorgebrachten Tatsachen zumindest einen (glaubhaften) Kern aufweisen, dem für die Entscheidung Relevanz zukommt und an den die oben erwähnte positive Entscheidungsprognose anknüpfen kann. Ergeben die Ermittlungen der Behörde, dass eine Sachverhaltsänderung, die eine andere Beurteilung nicht von vornherein ausgeschlossen erscheinen ließe, entgegen den Behauptungen der Partei in Wahrheit nicht eingetreten ist, so ist der Antrag gemäß § 68 Abs. 1 AVG zurückzuweisen (VwGH 19.02.2009, Zl.2008/01/0344 mit Hinweisen auf VwGH 29.01.2008, Zl. 2005/11/0102 mwN; und VwGH 16.02.2006, Zl. 2006/19/0380, mwN; VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0025; 25.4.2017, Ra 2016/01/0307).

3.2.2. Da das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit dem angefochtenen Bescheid den Antrag auf internationalen Schutz zurückgewiesen hat, ist Gegenstand der vorliegenden Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nur die Beurteilung der Rechtmäßigkeit dieser Zurückweisung, nicht aber der zurückgewiesene Antrag selbst. Zu prüfen ist demnach, ob die Behörde auf Grund des von ihr zu berücksichtigenden Sachverhalts zu Recht zu dem Ergebnis gelangt ist, dass im Vergleich zum rechtskräftig entschiedenen ersten Asylverfahren keine wesentliche Änderung der maßgeblichen Umstände eingetreten ist (vgl. VwGH 22.11.2017, Ra 2017/19/0198, mwN).

Diese Prüfung der Zulässigkeit eines Folgeantrags auf Grund geänderten Sachverhalts hat – von allgemein bekannten Tatsachen abgesehen – im Beschwerdeverfahren nur anhand der Gründe, die von der Partei in erster Instanz zur Begründung ihres Begehrens vorgebracht wurden, zu erfolgen (vgl. VwGH 24.6.2014, Ra 2014/19/0018). Neues Sachverhaltsvorbringen in der Beschwerde gegen den erstinstanzlichen Bescheid nach § 68 AVG ist von der "Sache" des Beschwerdeverfahrens vor dem Bundesverwaltungsgericht somit nicht umfasst und daher unbeachtlich (VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0025; 24.5.2018, Ra 2018/19/0234).

3.2.3. Zwar ist dem Bundesamt beizupflichten, dass die Beschwerdeführerin im Verfahren über den Folgeantrag zunächst auf jene Bedrohungssituation durch einen Mullah hinwies, die auch im ersten Verfahren behauptet und als unglaubhaft beurteilt wurde, und insoweit keine Neuerungen vorliegen.

3.2.4. Jedoch ergeben sich Falle der Beschwerdeführerin jedenfalls neu hinzugetretene, sachverhaltsändernde Elemente und zwar im Hinblick darauf, dass die Beschwerdeführerin es seit Rechtskraft des Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts vom 08.08.2019 unternommen hat, einem selbstbestimmten Lebensstil nachzugehen und sie sich dadurch auch (weiterhin) von den traditionell afghanischen Werten zunehmend distanzierte.

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist nämlich Voraussetzung für die Führung eines „westlichen Lebensstils“, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung vom Heimatstaat ausgeht. Auch eine private Verfolgung kann insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren. Es sind daher konkrete Feststellungen zur Lebensweise der Asylwerberin im Entscheidungszeitpunkt zu treffen und ist ihr diesbezügliches Vorbringen einer Prüfung zu unterziehen (vgl. VwGH 22.03.2017, Ra 2016/18/0388, mwN).

Dass die Erstbeschwerdeführerin nun keine Einstellung verinnerlicht hätte, die eine Rückkehr nach Afghanistan als unzumutbar erscheinen lassen würde, wie im angefochtenen Bescheid ausgeführt, kann vom Bundesverwaltungsgericht nicht nachvollzogen werden. Es ergibt sich aus dem Verhalten der Beschwerdeführerin, welches sie auch nach dem rechtskräftigen Abschluss ihres ersten Asylverfahrens setzte, dass sie sich an eine Lebensführung ganz ohne religiös motivierten Einschränkungen angepasst hat und sich auch weiter anpassen will.

Zunächst hat sie offenkundig nunmehr tatsächlich die zum Zeitpunkt der Entscheidung über ihren ersten Antrag zumindest zweifelhafte Änderung ihres Kleidungsstils vorgenommen.

Die Beschwerdeführerin hat auch weiterhin die Schule besucht und zielgerichtet eine Ausbildung zu ihrem Berufswunsch als Buchhalterin vorangetrieben. Sie beherrscht die deutsche Sprache auf dem Niveau B 1 und ist in der Lage, ihren Gedanken auf Deutsch Ausdruck zu verleihen. So veranschaulichen auch ihre selbstständig in deutscher Sprache verfassten Schreiben (AS. 119ff, AS. 159), wie sie über die grundlegend verschiedenen Unterschiede zwischen den konservativen Traditionen Afghanistans und den Gegebenheiten in Österreich reflektiert und dass ihr diese Tatsachen mehr als nur bewusst sind. Aus ihren in diesen Schreiben niedergeschriebenen Schilderungen sowie ihren eigenen Schlussfolgerungen aufgrund der neu gewonnen Erfahrungen und Eindrücke in Österreich ist ersichtlich, wie kritisch sie die systematische Diskriminierung der Frauen in Afghanistan betrachtet und dass sie diesen Umgang auch zutiefst ablehnt. Diese belegten Tatsachen lassen erkennen, dass die Beschwerdeführerin die behauptete Bedrohung nicht (mehr), wie in der abweisenden Entscheidung vom 08.08.2019 über ihren ersten Antrag festgestellt wurde, bloß auf einstudierte Antworten in ihrem Verfahren zu stützen versucht.

Die Beschwerdeführerin ist nach ihrem Vorbringen eine junge Frau, die alleine außer Haus geht, sich ohne jegliche Orientierung an die traditionellen Kleidungsvorschriften ihres Herkunftsstaates kleidet, ihre Meinung – sowohl mündlich in ihren Einvernahmen, als auch schriftlich in ihren Briefen – offen wie deutlich kundtut, vehement für ihre berufliche Zukunft arbeitet, auch um der Gesellschaft etwas „zurückzugeben“.

Somit ist ein in der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 08.08.2019 noch festgestelltes zu wenig ausgeprägtes Bemühen, sich eine Lebensweise einer „westlich“ orientierten Frau anzueignen, angesichts des Vorbringens der Beschwerdeführerin, das durch die belegten Fortschritte ihrer Ausbildungsbestrebungen gestützt wird, nicht mehr gegeben.

Wie das Bundesamt somit zu dem Schluss kommt, eine verinnerlichte Einstellung im Sinne einer „westlichen Orientierung“, die eine Rückkehr nach Afghanistan als unzumutbar erscheinen ließe, sei bei der Erstbeschwerdeführerin von vornherein nicht zu erkennen, weshalb eine inhaltliche Prüfung des Antrages zu unterbleiben habe, ist aus den Feststellungen und der Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides nicht nachvollziehbar. Es kann jedenfalls nicht gesagt werden, dass die entsprechenden Angaben der Beschwerdeführerin keinen glaubhaften Kern aufweisen würden und es wurde im angefochtenen Bescheid auch nicht unternommen, dies aufzuzeigen.

Auch verabsäumte es die belangte Behörde, sich im gegenständlichen Fall konkret mit der Situation von Mädchen, die aus dem Westen nach Afghanistan zurückkehren, auseinanderzusetzen, was im Hinblick auf die mittlerweile erfolgte Gewährung des Status von subsidiär Schutzberechtigten an ihre Eltern jedenfalls erforderlich gewesen wäre, weshalb eine asylrelevante Verfolgung nicht von vornherein ausgeschlossen bzw. eine „entschiedene Sache“ nicht angenommen werden kann.

Das behauptete Verfolgungsrisiko steht jedenfalls im Zusammenhang mit der Zugehörigkeit der Erstbeschwerdeführerin zu einer bestimmten sozialen Gruppe (vgl. dazu VwGH 22.03.2017, 2016/17/0388; 16.04.2002, 99/20/0483; 20.06.2002, 99/20/0172), zumal nach dem Vorbringen ihre persönliche und auch nach außen dargelegte westliche Lebenseinstellung im Gegensatz zu der in Afghanistan weiterhin vorherrschenden Situation für Frauen steht. Zwar stellen alle diese Umstände keine Eingriffe von "offizieller" Seite dar, das heißt, sie sind von der gegenwärtigen afghanischen Regierung nicht angeordnet, andererseits ist es der Zentralregierung auch nicht möglich, für die umfassende Gewährleistung grundlegender Rechte und Freiheiten der afghanischen Frauen Sorge zu tragen. Gegenwärtig besteht in Afghanistan kein funktionierender Polizei- und Justizapparat. Darüber hinaus ist nicht davon auszugehen, dass im Wirkungsbereich einzelner lokaler Machthaber effektive Mechanismen zur Verhinderung von Übergriffen und Einschränkungen gegenüber Frauen bestünden; ganz im Gegenteil, liegt ein derartiges Vorgehen gegenüber Frauen teilweise ganz im Sinne der lokalen Machthaber.

Vom Bestehen einer innerstaatliche Fluchtalternative für die Erstbeschwerdeführerin kann im Lichte des Gesagten ohne nähere Prüfung des konkreten Einzelfalles ebenso wenig ausgegangen werden, zumal im gesamten Staatsgebiet von Afghanistan von einer Situation auszugehen ist, wo sie aufgrund ihrer Gesinnung potenziell einem erhöhten Sicherheitsrisiko und den daraus resultierenden Einschränkungen ausgesetzt wäre.

Aus all diesen Gründen kann ein anderes Verfahrensergebnis nicht von vornherein ausgeschlossen werden, zumal seit Abschluss des ersten Asylverfahrens der Beschwerdeführerin mit dem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 08.08.2020 bereits auch mehr als ein Jahr vergangen ist, weshalb auch aus diesem Grund und in Gesamtschau des Falles nicht von einer „entschiedenen Sache“ im Sinne des § 68 AVG auszugehen ist.

Da das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im konkreten Fall sohin den gegenständlichen Folgeantrag der Beschwerdeführerin zu Unrecht wegen „entschiedener Sache“ zurückgewiesen hat, war der angefochtene Bescheid zu beheben.

3.3. Zu den Spruchpunkten II.-VI.:

Da mit der Behebung des Spruchpunktes I. des angefochtenen Bescheides die rechtlichen Voraussetzungen für die Erlassung der Spruchpunkte II. bis VI. des angefochtenen Bescheides wegfallen, sind auch diese Spruchpunkte ersatzlos zu beheben.

3.4. Gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG kann eine Verhandlung entfallen, wenn der das vorangegangene Verwaltungsverfahren einleitende Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt oder die angefochtene Weisung für rechtswidrig zu erklären ist.

Aufgrund der Behebung des angefochtenen Bescheides konnte gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG eine Verhandlung entfallen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten des angefochtenen Bescheides wiedergegeben.

Schlagworte

Behebung der Entscheidung entschiedene Sache Folgeantrag gesamtes Staatsgebiet geschlechtsspezifische Verfolgung Schutzunfähigkeit Schutzunwilligkeit soziale Gruppe westliche Orientierung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W192.2166246.2.00

Im RIS seit

14.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

14.01.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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