Entscheidungsdatum
16.11.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W253 2142821-1/15E
W253 2191414-1/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Jörg C. BINDER als Einzelrichter über die Beschwerde von 1. XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, Alster Straße 20, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.12.2016 1.), Zl. 1113375809-160619329, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 05.11.2019 zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Jörg C. BINDER als Einzelrichter über die Beschwerde von 2. XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch das Amt der niederösterreichischen Landesregierung, Landhausplatz 1, 3109 St. Pölten, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.02.2018 2.), Zl. 1113368009-160619353, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 05.11.2019 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 16.11.2021 erteilt.
IV. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführer stellten am 02.05.2016 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz. Der Erst- und der Zweitbeschwerdeführer sind Brüder.
Am selben Tag fanden ihre Erstbefragungen vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Der Erstbeschwerdeführer gab dabei zusammengefasst an, dass er am XXXX in XXXX , Afghanistan geboren worden sei. Er sei sunnitischer Muslim und gehöre der Volksgruppe der Paschtunen an. Zudem habe er drei Jahre die Grundschule besucht und den Beruf des Landarbeiters ausgeübt. Zu seinen Fluchtgründen gab er an, dass seine Eltern bei einem Angriff der Taliban auf ihr Haus getötet worden seien. Der Erstbeschwerdeführer habe sich mit seinen drei Brüdern in einem anderen Zimmer befunden und dort versteckt. Die Taliban hätten schon vorher seinen Vater bedroht, weil dieser als LKW-Fahrer Waren zwischen Pakistan und Afghanistan hin- und zurückbefördert habe. Aus Angst um ihr Leben seien sie (der Erstbeschwerdeführer mit seinen Brüdern) kurze Zeit später geflohen. Zwei seiner Brüder seien an der iranisch-türkischen Grenze verschwunden.
Der Zweitbeschwerdeführer gab im Wesentlichen ergänzend an, dass er am XXXX in XXXX , Afghanistan geboren worden sei, die Grundschule habe er drei Jahre lang besucht. Befragt zu seinen Fluchtgründen gab er an, dass sein Vater, welcher LKW-Fahrer gewesen sei, vor ca. sechs Monaten bei einem Angriff der Taliban auf ihr Haus getötet worden sei, auch die Mutter sei dabei ums Leben gekommen. Seine Brüder und er seien in einem anderen Zimmer gewesen, weswegen sie überlebt hätten. Aus Angst um ihr Leben seien sie vor ca. sechs Monaten gemeinsam geflohen.
2. Am 01.12.2016 wurde der Erstbeschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich einvernommen. Der Erstbeschwerdeführer gab im Wesentlichen an, dass er aus der Provinz Parwan, Distrikt XXXX , Ort XXXX , Dorf XXXX sei. Er habe sein genaues Geburtsdatum nicht gewusst, mit Hinblick auf die unterzogene Altersfeststellung, würde die Feststellung des Arztes „schon korrekt sein“. Zwar habe er vier Jahre die Schule besucht, dort aber keine Bildung bekommen. Seit seiner Kindheit (mit ca. zehn bis zwölf Jahren) habe er als Landwirt auf dem familieneigenen Grundstück bis zu seiner Ausreise gearbeitet. Sein Vater sei Fahrer gewesen und sei zwischen Pakistan und XXXX gefahren. Abgesehen von seinen Brüdern habe der Erstbeschwerdeführer keine Familienangehörigen. Zwei seiner Brüder habe er an der Grenze zur Türkei „verloren“, der dritte Bruder sei gemeinsam mit ihm in Österreich. Im Rahmen der Einvernahme legte er eine Teilnahmebestätigung für einen Deutschkurs vor.
Zu seinen Fluchtgründen gab der Erstbeschwerdeführer an, dass die Taliban seine Eltern umgebracht hätten, weil sein Vater als Fahrer Waren von Afghanistan nach Pakistan und umgekehrt geliefert habe. Der Vater sei deshalb mehrmals bedroht und einmal von den Taliban geschlagen worden. Die Eltern des Beschwerdeführers seien dann in ihrem Schlafzimmer im eigenen Haus, im Heimatdorf von den Taliban ermordet worden. Der Erstbeschwerdeführer habe während des Angriffs in der Nacht mit seinen Brüdern in einem anderen Zimmer geschlafen, welches sich „unten“, im Keller befunden habe, und sei durch die Schüsse geweckt worden. Aus Angst hätten sie ihr Zimmer nicht verlassen und der Erstbeschwerdeführer habe versucht, seine verängstigten Geschwister zu beruhigen. Am nächsten Morgen hätten sie ihr Zimmer verlassen und „durch das Fenster“ die Leichen ihrer Eltern in deren Schlafzimmer gesehen. Die Leichen seien im Bett gelegen und es sei viel Blut geflossen, der Erstbeschwerdeführer und seine Brüder hätten nach ihnen gerufen, es sei aber keine Antwort gekommen. Daraufhin hätten sie die Leichen ihrer Eltern dort liegen gelassen und seien geflüchtet. Der Erstbeschwerdeführer sei nicht persönlich bedroht worden, jedoch nachdem sein Vater ermordet worden sei, hätten die Taliban die Nachbarn gefragt, ob der Vater noch weitere Söhne habe, die sie rekrutieren könnten. Vor der Flucht hätten die Nachbarn dies dem Erstbeschwerdeführer und seinen Brüdern mittgeteilt. Sie seien anschließend nach Kabul und von dort nach Nimruz gereist um ins Ausland flüchten zu können.
3. Die niederschriftliche Einvernahme des Zweitbeschwerdeführers fand am 06.02.2017 vor dem BFA statt. Der Zweitbeschwerdeführer gab zu seinen persönlichen Umständen an, dass er für zwei Jahre eine Schule in Parwan, Distrikt XXXX besucht habe. Er habe in seinem Leben noch nicht gearbeitet. Der Zweibeschwerdeführer habe immer in seinem Heimatdorf, in einem Eigentumshaus mit seinen Eltern gelebt, er wisse aber nicht mehr wie es dort ausgesehen habe. Sein Vater sei Fahrer gewesen und habe Obst, etc. von XXXX nach Kabul gebracht, seine Mutter sei Hausfrau gewesen. In Afghanistan habe er niemanden mehr, nur seinen Bruder in Österreich. In der Einvernahme wurde eine Schulbesuchsbestätigung des Zweitbeschwerdeführers vorgelegt.
Zu seinen Fluchtgründen gab der Zweitbeschwerdeführer zusammengefasst an, die Taliban hätten zu seinem Vater gesagt, dass dieser der Regierung geholfen habe. Seinen Bruder hätten sie damit bedroht, dass er gegen die Regierung kämpfen müsse. Bei einem Angriff auf ihr Haus in der Früh, als es noch ein „bisschen dunkel“ gewesen sei, hätten die Taliban die Eltern des Zweitbeschwerdeführers getötet. Zu diesem Zeitpunkt seien der Zweitbeschwerdeführer und seine Brüder in einem anderen Zimmer gewesen. Dieses Zimmer sei „unten“ gewesen, jenes seiner Eltern „oben“, der Zweitbeschwerdeführer habe aber vergessen wie viele Räume das Haus gehabt habe, bzw. wisse er nicht mehr, wo sich ihr Zimmer genau befunden habe. Nachdem sie die Schüsse gehört hätten, seien sie aus ihrem Zimmer rausgegangen, die Taliban selber habe der Zweitbeschwerdeführer bei diesem Vorfall nicht gesehen. Wie viel Zeit zwischen den Schüssen und dem Verlassen des Zimmers vergangen sei, wisse er nicht mehr. Sein Bruder habe die verstorbenen Eltern gesehen und dann seien sie geflüchtet.
4. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 02.12.2016 wies das BFA den Antrag des Erstbeschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Es wurde dem Erstbeschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen festgesetzt (Spruchpunkt IV.).
Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass der Erstbeschwerdeführer die vorgebrachte Furcht vor Verfolgung nicht glaubhaft dargelegt habe, vielmehr sei dem Vorbringen jegliche Glaubwürdigkeit abzusprechen, da seine Ausführungen in höchstem Maße vage, widersprüchlich und zudem in keiner Weise plausibel gehalten seien. Der Erstbeschwerdeführer sei gesund, arbeitswillig und im arbeitsfähigen Alter. Es liege auch keine Gefährdungslage in Bezug auf die unmittelbare Heimatprovinz vor, der Erstbeschwerdeführer könne im Fall einer Rückkehr in der Heimatprovinz Arbeitsmöglichkeiten vorfinden. Der Beschwerdeführer würde in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe, verfügen. Der Bruder des Erstbeschwerdeführers befinde sich zwar in Österreich in einem laufenden Asylverfahren, um eine Bindung im Sinne des Art. 8 EMRK anzeigen zu können, bedürfe es aber einer Bezugsperson mit einem dauernden Aufenthaltsrecht.
5. Mit Urkundenvorlage vom 08.02.2017 legte der Zweibeschwerdeführer eine Schulnachricht und eine Auszeichnung für „seinen beeindruckenden Fleiß und seine ausgesprochene Höflichkeit“ vor.
6. Mit Schreiben vom 08.09.2017 wurde seitens des Zweitbeschwerdeführers eine Schulbesuchsbestätigung vorgelegt.
7. Mit Schreiben vom 21.12.2017 legte der Zweitbeschwerdeführer ein ÖSD Zertifikat A2 (Prüfung gut bestanden) vor.
8. Das BFA wies den Antrag des Zweitbeschwerdeführers auf internationalen Schutz mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid vom 07.02.2018 sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab und erteilte dem Zweitbeschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungs-würdigen Gründen (Spruchpunkt III.). Gegen den Zweitbeschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt IV. und V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 2 Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
Der Begründung des oben genannten Bescheides des BFA ist im Wesentlichen zu entnehmen, dass der angeführte Fluchtgrund nicht glaubhaft sei. Bei dem Vorbringen handle es sich um ein bloßes Konstrukt, der Zweitbeschwerdeführer habe die wahren Beweggründe für die Asylantragsstellung nicht dargelegt. Es drohe ihm auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Der Zweitbeschwerdeführer sei bei einer Rückkehr nicht bedroht oder gefährdet. Er verfüge über Angehörige im Heimatland und sei wirtschaftlich ausreichend abgesichert. Es liege zwar ein schützenswertes Familienleben in Österreich vor, sein Bruder sei jedoch im selben Umfang von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen betroffen, weshalb diesbezüglich die Ausweisung keinen Eingriff in das Familienleben des Zweitbeschwerdeführers darstelle. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung stelle sohin keine Verletzung des Zweitbeschwerdeführers in seinem Recht auf Privat- und Familienleben dar. Es sei ihm möglich, von Österreich aus mit seinem Bruder Kabul und dann die Provinz Parwan und schließlich sein Heimatdorf zu erreichen.
9. Die Beschwerdeführer erhoben jeweils gegen oben genannte Bescheide fristgerecht Beschwerde. Der Erstbeschwerdeführer brachte im Wesentlichen vor, dass die erkennende Behörde von einer unrichtigen Beweiswürdigung ausgehe. Aufgrund der Zugehörigkeit des Erstbeschwerdeführers zur sozialen Gruppe junger Männer im rekrutierungsfähigen Alter liege ein „real risk“ für Leib und Leben des Erstbeschwerdeführers vor. Er habe vollkommen nachvollziehbar und stringent seine direkte Bedrohung geschildert und diese würde auch bei einer Rückkehr weiterhin bestehen. Es würde im Bescheid pauschal auf die Länderfeststellungen Bezug genommen und damit argumentiert, dass somit eine Rückkehr zumutbar sei. Auch hier mangle es an einer gründlichen Beweiswürdigung, weshalb ein wesentlicher Verfahrensmangel bestehe. Bei einer Rückkehr des Erstbeschwerdeführers nach Afghanistan sei er einer direkten Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt, daher ersucht er um eine Zuerkennung der §§ 3 und 8 AsylG.
Der Zweitbeschwerdeführer führte in seiner Beschwerde zusammengefasst aus, dass Ungereimtheiten oder Widersprüche in seinem Vorbringen, vor allem zeitliche, mit einem milderen Maßstab zu beurteilen seien würden. Das BFA habe diese Glaubwürdigkeitsprüfkriterien nicht in seine Entscheidung einfließen lassen. Der Zweitbeschwerdeführer habe ein altersentsprechend detailliertes Fluchtvorbringen erstattet, welches im Einklang mit der tatsächlichen Lage in Afghanistan und den Länderberichten stehe. Im Rahmen seiner Manduktionspflicht habe das BFA alle dem Zweitbeschwerdeführer möglichen drohenden Gefahren von sich aus zu berücksichtigen, im gegenständlichen Fall sei jedoch die Sicherheitslage und die konkrete spezielle Gefährdung Minderjähriger verkannt worden. Durch das Wiedererstarken der Taliban habe sich seine Gefährdungslage massiv verschlechtert, in Afghanistan würden ihm vielfältige Verfolgungshandlungen im Sinne der GFK drohen. Zudem bestehe eine ernsthafte Bedrohung des Lebens bzw. der körperlichen Unversehrtheit des Zweitbeschwerdeführers, einerseits durch die Sicherheitslage, andererseits aufgrund seiner nicht gesicherten Lebensgrundlage. Es könne nicht als erwiesen gelten, dass sein Lebensunterhalt derart gesichert sein würde, um nicht in eine, im Hinblick auf Art. 3 EMRK relevante, aussichtslose Lage zu geraten. Bei Minderjährigen sei überdies ein erhöhter Maßstab anzulegen. Eine Ausweisung aus Österreich mit ungeklärter Versorgungs- und prekärer Sicherheitslage in Afghanistan entspreche nicht dem Kindeswohl. Bei richtiger Tatsachenfeststellung, Berücksichtigung der Länderberichte und richtiger rechtlicher Beurteilung sei zumindest subsidiärer Schutz zuzuerkennen.
10. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt hinsichtlich des Erstbeschwerdeführers langten am 21.12.2016, hinsichtlich des Zweitbeschwerdeführers am 05.04.2018, beim Bundesverwaltungsgericht ein.
11. Am 17.04.2018 übersandte der Zweitbeschwerdeführer per E-Mail ergänzend zu seiner Beschwerde Integrationsunterlagen.
12. Mit E-Mail vom 02.07.2018 übermittelte der Zweitbeschwerdeführer ein Jahreszeugnis sowie eine diesbezügliche „ergänzende differenzierende Leistungsbeschreibung“.
13. Am 05.11.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein der Beschwerdeführer, ihrer Vertreter, einer Vertreterin des BFA, einer Vertrauensperson und einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu statt, in welcher die Beschwerdeführer ausführlich zu ihren Fluchtgründen befragt und ihnen Gelegenheit gegeben wurde, diese umfassend darzulegen. Zudem legte der Erstbeschwerdeführer ein ÖSD Zertifikat A1 vor, seitens des Zweitbeschwerdeführers wurde ein Konvolut an Integrationsunterlagen vorgelegt. Die Verfahren der Beschwerdeführer wurden zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Das Bundesverwaltungsgericht brachte die aktuellen Länderinformationen in das Verfahren ein und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben.
14. Mit Eingabe vom 11.11.2019 erstattete der Zweitbeschwerdeführer eine Stellungnahme, in der er im Wesentlichen ausführte, dass das durchgeführte Beweisverfahren ergeben habe, dass die Furcht des Zweitbeschwerdeführers vor Verfolgung zweifelsohne berechtigt sei. Dieser habe stringent angegeben, dass seine Eltern von regierungsfeindlichen Gruppen ermordet worden seien und er aus Angst vor dem gleichen Schicksal unmittelbar nach diesem Vorfall mit seinen drei Brüdern geflüchtet sei. Zudem sei in Hinblick auf die UNHCR-Richtlinien der Zweitbeschwerdeführer auch der Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban ausgesetzt. Der vorliegende Sachverhalt sei daher jedenfalls unter § 3 AsylG zu subsumieren. Zumindest habe das erkennende Gericht dem Zweitbeschwerdeführer den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen. Es würden bei ihm aufgrund der vorliegenden Situation besondere Gefahrenmomente vorliegen, die zwangsläufig dazu führen würden, dass er einer Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sei. Da er über keine Verwandten in Afghanistan verfüge, könne er bei einer Rückkehr keinerlei Unterstützung erwarten, weiters sei er der Gefahr, als Straßenkind zu enden, ausgesetzt. Eine innerstaatliche Fluchtalternative biete sich für den Zweitbeschwerdeführer nicht.
Mit der Stellungnahme wurden ein Auszug aus dem Dienstbuch des XXXX betreffend den Zeitraum XXXX bis XXXX und ein Bericht der Bezirkshauptmannschaft XXXX vorgelegt. Dazu ergänzte der Zweitbeschwerdeführer, dass aus diesen Urkunden klar hervorgehe, dass wann immer es ihm möglich sei, er Zeit mit seinem Bruder (dem Erstbeschwerdeführer) verbringe. Die Beziehung der beiden gehe schon aufgrund der tragischen Familiengeschichte weit über das Verhältnis zweier normaler Brüder hinaus, der Erstbeschwerdeführer sei eine wichtige Bezugsperson für den Zweitbeschwerdeführer. Eine Rückkehr des Erstbeschwerdeführers nach Afghanistan würde einen massiven Verlust an familiären Wurzeln für den Zweitbeschwerdeführer darstellen.
15. Mit Parteiengehör vom 23.10.2020 wurde den Beschwerdeführern aktuelle Länderinformationen übermittelt. Die Beschwerdeführer wurden aufgefordert allfällige Neuerungen, die seit der letzten Verhandlung eingetreten sind, dem Gericht bekannt zu geben. Seitens des Erstbeschwerdeführers erfolgte hierauf keine Stellungnahme.
16. Am 11.11.2020 erging seitens des Zweitbeschwerdeführers eine Stellungnahme, der zusammengefasst zu entnehmen ist, dass seine Eltern von den Taliban getötet worden seien und er über keine Angehörigen in Afghanistan verfüge. Sein einzig lebender Verwandter sei sein in Österreich aufhältiger Bruder. In Afghanistan stelle die Familie die wichtigste soziale und ökonomische Einheit dar, gerade für Rückkehrer seien solche sozialen, ethnischen und familiären Netzwerke überlebensnotwendig. Die afghanische Gesellschaft nehme Rückkehrer aus Europa häufig misstrauisch wahr, weiters stelle der Mangel an Arbeitsplätzen für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hänge maßgeblich von lokalen Netzwerken ab, über die der Zweitbeschwerdeführer wegen seiner langen Abwesenheit aus Afghanistan überhaupt nicht mehr verfüge. Die Sicherheitslage in Afghanistan sei nach wie vor volatil, zudem seien die Auswirkungen der derzeit in Afghanistan grassierenden COVID-19 Pandemie zu berücksichtigen. Aufgrund dieser Situation sei die medizinische Versorgung eingeschränkt und die Lebensmittelpreise hätten eine pandemiebedingte Steigerung erfahren. Darüber hinaus könne der Zweitbeschwerdeführer, wenn überhaupt, ein allenfalls existenznotwendiges Einkommen lediglich mit Gelegenheitsarbeiten aufbringen. Besonders auf Gelegenheitsarbeiten angewiesene Personen seien von den ausgedehnten, covid-bedingten Sperrmaßnahmen der afghanischen Regierung massiv betroffen. Zusammenfassend würden in casu die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten in eventu des subsidiär Schutzberechtigten vorliegen. Der Zweitbeschwerdeführer legte außerdem ein Jahreszeugnis der XXXX vor.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zum Verfahrensgang
Die Beschwerdeführer stellten am 02.05.2016 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid vom 02.12.2016 wies das BFA den Antrag des Erstbeschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Es wurde dem Erstbeschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen festgesetzt (Spruchpunkt IV.). Das BFA wies den Antrag des Zweitbeschwerdeführers auf internationalen Schutz mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid vom 07.02.2018 sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab und erteilte dem Zweitbeschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungs-würdigen Gründen (Spruchpunkt III.). Gegen den Zweitbeschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt IV. und V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 2 Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Die Beschwerdeführer erhoben jeweils gegen oben genannte Bescheide fristgerecht Beschwerde. Am 05.11.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein der Beschwerdeführer, ihrer Vertreter, einer Vertreterin des BFA, einer Vertrauensperson und einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu statt, in welcher die Beschwerdeführer ausführlich zu ihren Fluchtgründen befragt und ihnen Gelegenheit gegeben wurde, diese umfassend darzulegen.
1.2. Zu den Beschwerdeführern
Die Beschwerdeführer sind Brüder.
Der volljährige Erstbeschwerdeführer führt den im Spruch angeführten Namen und ist zum dort angegebenen Datum geboren. Er ist ledig und hat keine Kinder.
Der minderjährige Zweitbeschwerdeführer führt den im Spruch angeführten Namen und ist zum dort angegebenen Datum geboren.
Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige, gehören der Volksgruppe der Paschtunen an und bekennen sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben. Die Beschwerdeführer sprechen Paschtu als Muttersprache, der Erstbeschwerdeführer spricht auch etwas Dari.
Die Beschwerdeführer stammen aus dem Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Parwan und wuchsen dort gemeinsam mit ihren Eltern und zwei weiteren Brüdern auf. Sie haben dort bis zur gemeinsamen Ausreise nach Europa in einem Eigentumshaus gelebt.
Die Beschwerdeführer haben keine ihnen bekannten Angehörigen in Afghanistan, die Eltern sind verstorben. Die zwei weiteren Brüder der Beschwerdeführer sind, während der gemeinsamen Ausreise nach Europa, an der iranisch-türkischen Grenze verschwunden. Seither haben sie keinen Kontakt mehr zu diesen.
Der Erstbeschwerdeführer hat zwei oder drei Jahre lang die Grundschule besucht, er wurde dort jedoch kaum unterrichtet und ist Analphabet. Seit ungefähr seinem zehnten Lebensjahr hat er als Landwirt auf den Grundstücken seines Vaters gearbeitet, diese Tätigkeit übte er bis zu seiner Ausreise aus.
Der Zweitbeschwerdeführer hat drei Jahre lang die Grundschule besucht. Er hat keinen Beruf erlernt und noch nie gearbeitet.
Die Beschwerdeführer sind nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert.
Die Beschwerdeführer sind gesund.
1.2.1 Zum (Privat)Leben der Beschwerdeführer in Österreich:
Der Erstbeschwerdeführer beherrscht die deutsche Sprache zumindest auf A1 Niveau und hat Deutschkurse besucht. Er war für zwei Tage bei der XXXX als Reinigungskraft ehrenamtlich tätig. Der Erstbeschwerdeführer lebt von der Grundversorgung, er ist am österreichischen Arbeitsmarkt nicht integriert und geht derzeit keiner Erwerbstätigkeit nach.
Der Erstbeschwerdeführer verfügt über freundschaftliche Kontakte in Österreich und spielt regelmäßig Fußball. Für einige Zeit ging er ins Fitnessstudio. Er ist kein Mitglied in einem Verein. Eine außergewöhnliche Integration kann nicht festgestellt werden.
Der Zweitbeschwerdeführer hat sich gute Deutschkenntnisse aneignen können sowie das ÖSD Zertifikat A1 mit gutem Erfolg bestanden. Von XXXX bis Sommer XXXX besuchte er als ordentlicher Schüler die XXXX . Seit XXXX besucht er die XXXX in XXXX .
Der Zweitbeschwerdeführer nimmt an schulischen Aktivitäten teil. Im Rahmen der Berufspraxistage absolvierte er ein Praktikum bei einem Augenoptiker.
Der Zweitbeschwerdeführer hat einige freundschaftliche Kontakte geknüpft. Er spielt öfters Fußball, weshalb er auch schon Mitglied bei einem Fußballverein war.
Die Beschwerdeführer haben, abgesehen von einander, keine familiären Anknüpfungspunkte in Österreich. Die beiden haben regelmäßig Kontakt, leben aber in keinem gemeinsamen Haushalt. Sie stehen in keinem Abhängigkeitsverhältnis zueinander. An den meisten Wochenenden, oftmals auch unter der Woche besucht der Zweitbeschwerdeführer den Erstbeschwerdeführer, manchmal übernachtet der Zweitbeschwerdeführer dann auch bei diesem in seiner Unterkunft. Mitunter gehen sie, anlässlich der Besuche des Zweitbeschwerdeführers, auch gemeinsam „shoppen“ und anderen Freizeitaktivitäten nach.
Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.3. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer
Der Vorfall, wonach die Eltern der Beschwerdeführer in ihrem Haus von den Taliban erschossen worden seien, hat sich nicht ereignet.
Der Erstbeschwerdeführer wurde in Afghanistan nicht aufgefordert sich den Taliban anzuschließen.
Es droht dem Erstbeschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine Verfolgung aufgrund eines Abfalles vom islamischen Glauben.
Die Beschwerdeführer wurden in Afghanistan niemals konkret bedroht und waren keiner Verfolgung durch die Taliban, staatliche Organe oder sonstige Personen ausgesetzt. Die Beschwerdeführer haben Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht den Beschwerdeführern individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban, staatliche Organe oder durch andere Personen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht den Beschwerdeführern auch keine Zwangsrekrutierung durch die Taliban oder durch andere Personen.
1.4. Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführer in den Herkunftsstaat
Der Erstbeschwerdeführer ist im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan (in die Städte Mazar-e Sharif oder Herat) nicht in Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Es ist dem Erstbeschwerdeführer möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten, nach einer Ansiedlung in der Stadt Herat/Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Er kann auch Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.
Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr des Erstbeschwerdeführers nach Mazar-e Sharif oder Herat ausschließen könnten, können nicht festgestellt werden. Er kann dort seine Existenz-zumindest anfänglich-mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Es kann nicht festgestellt werden, dass er nicht in der Lage ist in Herat oder Mazar-e Sharif eine einfache Unterkunft zu finden. Herat und Mazar-e Sharif sind über die dortigen Flughäfen sicher zu erreichen.
Der Zweitbeschwerdeführer ist ein Minderjähriger. Dieser kann seine grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht selber befriedigen. Durch die COVID-19-Situation hat sich die wirtschaftliche Lage in Afghanistan angespannt, die Arbeitslosigkeit ist gestiegen und besonders Familien sowie Gelegenheitsarbeiter sind von den wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Situation betroffen. Es ist dem Erstbeschwerdeführer aufgrund der COVID-19-Situation und der damit zusammenhängenden wirtschaftlich angespannten Versorgunglage derzeit nicht möglich den notwendigen Lebensunterhalt für den minderjährigen Zweitbeschwerdeführer in der Provinz Parwan oder in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif ausreichend sicher zu stellen.
Es ist dem Zweitbeschwerdeführern somit nicht möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Rückkehr nach Afghanistan in der Provinz Parwan oder in der Stadt Herat/Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Bei einer dortigen Ansiedlung liefe der Zweitbeschwerdeführer vielmehr Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Erstbeschwerdeführer, bei einer Rückkehr nach Afghanistan, in seiner Herkunftsprovinz Parwan eine über die allgemeine Gefährdungslage hinausgehende Gefährdung drohen würde.
1.5. Zur Situation im Herkunftsstaat:
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
-Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019, mit Stand 21.07.2020 (LIB),
- UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),
-EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)
-Arbeitsübersetzung Landinfo Report "Afghanistan: Rekrutierung durch die Taliban“ vom 29.06. 2017 (Landinfo 2)
1.5.1. Allgemeine Sicherheitslage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).
Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).
Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 4).
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).
1.5.1.1. Aktuelle Entwicklungen
Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 1).
Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2).
Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1).
Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).
1.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).
Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).
Der durchschnittliche Lohn beträgt in etwa 300 Afghani (ca. USD 4,3) für Hilfsarbeiter, während gelernte Kräfte bis zu 1.000 Afghani (ca. USD 14,5) pro Tag verdienen können (EASO Netzwerke, Kapitel 4.1).
In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt. Dem Lock down Folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen:
In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei welchem bedürftigen Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden. In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes. Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern. Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).
Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.).
Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
1.5.3. Medizinische Versorgung
Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).
90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).
Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).
Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Berichten zufolge, haben sich mehr als 35.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt, mehr als 1.280 sind daran gestorben. Aufgrund der begrenzten Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der begrenzten Testkapazitäten sowie des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt zu wenig gemeldet. 10 Prozent der insgesamt bestätigten COVID-19-Fälle entfallen auf das Gesundheitspersonal. Beamte des afghanischen Gesundheitsministeriums erklärten, dass die Zahl der aktiven Fälle von COVID-19 in den Städten zurückgegangen ist, die Pandemie in den Dörfern und in den abgelegenen Regionen des Landes jedoch zunimmt. Der Gesundheitsminister gab an, dass 500 Beatmungsgeräte aus Deutschland angekauft wurden und 106 davon in den Provinzen verteilt werden würden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
1.5.4. Ethnische Minderheiten
In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).
Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments – jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in ANA und der ANP repräsentiert (LIB, Kapitel 16.1).
Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden, und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen (LIB, Kapitel 16.1).
1.5.5. Religionen
Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15).
1.5.6. Allgemeine Menschenrechtslage
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).
Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).
Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).
1.5.7. Bewegungsfreiheit und Meldewesen
Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).
In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden. In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
Die großen COVID-19 bedingten Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen. Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wiederaufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird. Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wiederaufgenommen. Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wiederaufgenommen. Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich. Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).
1.5.8. Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).
Taliban:
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).
Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).
Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Kapitel 2).
Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).
Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
1.5.8.1. Rekrutierung durch die Taliban
Menschen schließen sich den Taliban zum einen aus materiellen und wirtschaftlichen Gründen zum anderen aus kulturellen und religiösen Gründen an. Die Rekruten sind durch Armut, fehlende Chancen und die Tatsache, dass die Taliban relativ gute Löhne bieten, motiviert. Es spielt auch die Vorstellung, dass die Behörden und die internationale Gemeinschaft den Islam und die traditionellen Standards nicht respektieren würden, eine zentrale Rolle, wobei sich die Motive überschneiden. Bei Elitetruppen sind beide Parameter stark ausgeprägt. Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen, vielfach junger Männer, deren Motiv der Wunsch nach Rache, Heldentum gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen sind (Landinfo 2, Kapitel 4.1). Die Billigung der Taliban in der Bevölkerung ist nicht durch religiöse Radikalisierung bedingt, sondern Ausdruck der Unzufriedenheit über Korruption und Misswirtschaft (Landinfo 2, Kapitel 4.1.1).
Die Taliban sind aktiver als bisher bemüht Personen mit militärischem Hintergrund sowie mit militärischen Fertigkeiten zu rekrutieren. Die Taliban versuchen daher das Personal der afghanischen Sicherheitskräfte auf ihre Seite zu ziehen. Da ein Schwerpunkt auf militärisches Wissen und Erfahrungen gelegt wird, ist mit einem Anstieg des Durchschnittsalters zu rechnen Landinfo 2, Kapitel 3). Durch das Anwerben von Personen mit militärischem Hintergrund bzw. von Mitgliedern der Sicherheitskräfte erhalten Taliban Waffen, Uniformen und Wissen über die Sicherheitskräfte. Auch Personen die über Knowhow und Qualifikationen verfügen (z.B. Reparatur von Waffen), können von Interesse für die Taliban sein (Landinfo 2, Kapitel 5.1).
Die Mehrheit der Taliban sind Paschtunen. Die Rekrutierung aus anderen ethnischen Gruppen ist weniger üblich. Um eine breitere Außenwirkung zu bekommen, möchte die Talibanführung eine stärkere multiethnische Bewegung entwickeln. Die Zahl der mobilisierten Hazara ist unerheblich, nur wenige Kommandanten der Hazara sind mit Taliban verbündet. Es ist für die Taliban wichtig sich auf die Rekruten verlassen zu können (Landinfo 2, Kapitel 3.3).
Die Taliban waren mit ihrer Expansion noch nicht genötigt Zwangsmaßnahmen zur Rekrutierung anzuwenden. Zwangsrekrutierung ist noch kein herausragendes Merkmal für den Konflikt. Die Taliban bedienen sich nur sehr vereinzelt der Zwangsrekrutierung, indem sie männliche Dorfbewohner in von ihnen kontrollierten Gebieten, die mit der Sache nicht sympathisieren, zwingen, als Lastenträger zu dienen (Landinfo 2, Kapitel 5.1). Die Taliban betreiben eine Zwangsrekrutierung nicht automatisch. Personen die sich gegen die Rekrutierung wehren, werden keine rechtsverletzenden Sanktionen angedroht. Eine auf Zwang beruhende Mobilisierungspraxis steht auch den im Pashtunwali (Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunen) enthaltenen fundamentalen Werten von Familie, Freiheit und Gleichheit entgegen. Es kommt nur in Ausnahmefällen und nur in sehr beschränktem Ausmaß zu unmittelbaren Zwangsrekrutierungen durch die Taliban. Die Taliban haben ausreichend Zugriff zu freiwilligen Rekruten. Zudem ist es schwierig einen Afghanen zu zwingen, gegen seinen Willen gegen jemanden oder etwas zu kämpfen (Landinfo 2, Kapitel 5.1).
Im Kontext Afghanistans verläuft die Grenze zwischen Jungen und Mann fließend. Ausschlaggebend für diese Beurteilung sind Faktoren wie Pubertät, Bartwuchs, Mut, Unabhängigkeit, Stärke und die Fähigkeit die erweiterte Familie zu repräsentieren. Der Familienälteste ist das Oberhaupt, absolute Loyalität gegenüber getroffenen Entscheidungen wird vorausgesetzt. Kinder unterstehen der Obrigkeit der erweiterten Familie. Es stünde im Widerspruch mit der afghanischen Kultur, würde man Kinder gegen den Wunsch der Familie und ohne entsprechende Entscheidung des Familienverbandes aus dem Familienverband „herauslösen“ (Landinfo 2, Kapitel 6).
1.5.9. Provinzen und Städte
1.5.9.1. Herkunftsprovinz Parwan
Parwan liegt im zentralen Teil Afghanistans. Die Bevölkerung besteht hauptsächlich aus Paschtunen, Tadschiken, Usbeken, Qizilbash, Kuchi und Hazara. Die Provinz hat 724.561 Einwohner (LIB, Kapitel 2.28).
Die Provinz Parwan zählt zu den relativ friedlichen Provinzen Afghanistans, in deren abgelegenen Distrikten Aufständische oftmals den Versuch unternehmen, terroristische Aktivitäten auszuführen. In manchen Distrikten der Provinz hat sich die Sicherheitslage in den vergangenen Jahren Verschlechtert. Im August 2018 waren Taliban-Aufständische in den Distrikten Koh-e-Safi, Sayyid Khel, Shinwari, Siyahgird und Surkhi Parsa aktiv. Von dort aus planten sie Angriffe auf die Provinzhauptstadt Charikar und die Luftwaffenbasis Bagram (größte NATO-Militärbasis in Afghanistan). In der Provinz werden Sicherheitsoperationen durch die afghanischen Sicherheitskräfte ausgeführt. Bei manchen dieser Operationen wurden auch Zivilisten getötet. Auch kommt es immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Aufständischen und afghanischen Streitkräften. Außerdem greifen Aufständische der Taliban, manchmal auch gemeinsam mit Al-Qaida, in regelmäßigen Abständen das Bagram Airfield an. Im Jahr 2019 gab es 246 zivile Opfer (65 Tote und 181 Verletzte) in der Provinz Parwan. Dies entspricht einer Steigerung von 500% gegenüber 2018. Die Hauptursachen für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von Kämpfen am Boden und Suchoperationen (LIB, Kapitel 2.28).
In der Provinz Parwan findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund wi