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66/02 Andere SozialversicherungsgesetzeNorm
B-VG Art140 Abs1 Z1 litaLeitsatz
Kein Verstoß gegen das Sachlichkeitsgebot durch die vereinfachte Zustellung bestimmter behördlicher Schriftstücke an Scheinunternehmen nach dem SozialbetrugsbekämpfungsG; effektiver Rechtsschutz betreffend die Zustellung der Verdachtsmitteilung und Feststellung des Verdachts auf Vorliegen eines Scheinunternehmens auch ohne Zustellnachweis gewährleistet; öffentliches Interesse an der ehestmöglichen Feststellung der Scheinunternehmerschaft rechtfertigt einwöchige RechtsmittelfristenRechtssatz
Abweisung eines Antrags des Bundesfinanzgerichtes (BFG) auf Aufhebung näher bezeichneter Teile von §8 SozialbetrugsbekämpfungsG (SBBG) idF BGBl I 32/2018.
Für den VfGH besteht kein Zweifel, dass das antragstellende BFG in dem bei ihm anhängigen Verfahren für die Beurteilung der Rechtzeitigkeit der Beschwerde gegen den Feststellungsbescheid gemäß §8 Abs8 SBBG die angefochtenen Bestimmungen des §8 Abs4 zweiter Satz, Abs6, Abs7, Abs8 und Abs12 Z1 sowie Z2 erster Satz SBBG anzuwenden hat. Die zudem angefochtene Bestimmung des §8 Abs5 SBBG betreffend die elektronische Zustellung steht mit diesen (präjudiziellen) Bestimmungen nicht offenkundig in keinem Zusammenhang. Insoweit erweist sich der Antrag - anders als die Bundesregierung meint - auch betreffend den §8 Abs5 SBBG als zulässig. Gleiches gilt für die darüber hinaus angefochtenen Wortfolgen in §8 Abs9 und Abs12 Z3 SBBG.
Kein Verstoß von § 8 Abs5, Abs6 und Abs8 zweiter Satz SBBG gegen den Gleichheitsgrundsatz sowie gegen effektiven Rechtsschutz:
Nach Auffassung des VfGH ist dem BFG zwar zuzustimmen, dass es sich bei der Mitteilung über den Verdacht auf Vorliegen eines Scheinunternehmens (§8 Abs4 zweiter Satz SBBG) sowie beim Bescheid über die Feststellung, dass ein Scheinunternehmen vorliegt (§8 Abs8 erster Satz SBBG), um mit den "wichtigen Angelegenheiten" iSd §102 erster Satz BAO vergleichbare behördliche Dokumente ("schriftliche Ausfertigungen") handelt. Das BFG lässt jedoch in seinem Antrag außer Acht, dass die angefochtenen (Sonder-)Bestimmungen zur Zustellung dieser Dokumente den besonderen Merkmalen des Adressaten, nämlich eines (verdächtigten) Scheinunternehmens iSd §8 Abs1, Abs2 und Abs3 SBBG, Rechnung tragen.
Bei einem "Scheinunternehmen" iSd §8 SBBG handelt es sich um einen Rechtsträger, der einen geschäftlichen Betrieb nur zum Schein zum Zweck der Abgabenverkürzung oder des unrechtmäßigen Bezuges von Transferleistungen angibt. Die angefochtenen Bestimmungen des §8 Abs5, Abs6 und Abs8 zweiter Satz SBBG regeln die Zustellung der Mitteilung des Verdachtes auf Vorliegen eines solchen Scheinunternehmens (§8 Abs4 zweiter Satz SBBG) und des Feststellungsbescheides über das Vorliegen eines Scheinunternehmens bei unterlassenem Widerspruch (§8 Abs8 SBBG). §8 Abs6 und Abs8 zweiter Satz SBBG sieht vor, dass diese Schriftstücke im Fall der fehlenden Möglichkeit der elektronischen Zustellung jeweils physisch ohne Zustellnachweis (§26 ZustG) an das (verdächtigte) Scheinunternehmen zuzustellen sind. Als Abgabestelle gelten die der Abgabenbehörde zuletzt bekannt gegebene Adresse und eine allfällig im Firmenbuch eingetragene Geschäftsanschrift (§8 Abs6 erster Satz SBBG). Ist nun an der Abgabestelle der Empfänger (§13 Abs3 ZustG) oder ein Vertreter (§16 Abs1 ZustG) nicht (persönlich) anzutreffen, kann das jeweilige Schriftstück durch Einlegen in die Abgabeeinrichtung (§17 Abs2 ZustG) oder - bei fehlender Abgabeeinrichtung - durch Zurücklassen an der Abgabestelle (etwa durch Ankleben an die Eingangstüre) wirksam zugestellt werden. Die Zustellung wird ungeachtet der Abwesenheit des Empfängers am Tag des Einlegens bzw Zurücklassens durch die Abgabenbehörde bzw am dritten Tag nach Übergabe an den Zustelldienst jedenfalls wirksam bewirkt (§8 Abs6 SBBG in Abweichung zu §26 Abs2 zweiter und dritter Satz ZustG).
Das Vorbringen des BFG verkennt zunächst, dass die - vom BFG für geboten erachtete - Zustellung mit Zustellnachweis, die im Fall des Nichtantreffens des Empfängers die Hinterlegung des Schriftstückes gemäß §17 ZustG vorsieht, bei einem (verdächtigten) Scheinunternehmen regelmäßig von vornherein nicht in Betracht kommen wird: Gemäß §17 Abs1 ZustG ist eine Hinterlegung nur dann möglich, wenn der Zusteller Grund zur Annahme hat, dass sich der Empfänger oder ein Vertreter regelmäßig an der Abgabestelle aufhält. Hegt die Abgabenbehörde den Verdacht, dass ein Scheinunternehmen iSd §8 Abs1, Abs2 und Abs3 SBBG vorliegt und die bekannt gegebene Adresse die Abgabestelle eines bestimmten nur zum Schein betriebenen Unternehmens bezeichnet, kann der Gesetzgeber vertretbarerweise im Allgemeinen davon ausgehen, dass sich der Adressat der Dokumente regelmäßig nicht an der betreffenden Abgabestelle aufhält oder dass es sich nicht um eine Abgabestelle iSd §2 Z4 ZustG handelt. Die Materialien sowie die Bundesregierung in ihrer Äußerung weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es sich bei den "offiziellen Firmensitzen" von Scheinunternehmen regelmäßig um nichtexistente Türnummern, verwaiste Kellerabteile, Lagerräume in Innenhöfen oder reine Briefkastenadressen handle. Die rechtswirksame Zustellung durch Hinterlegung gemäß §17 ZustG scheidet in diesen Fällen bei (verdächtigten) Scheinunternehmen aus.
Der vom BFG angestellte Vergleich zwischen einerseits Angelegenheiten, bei denen eine (physische) Zustellung mit Zustellnachweis (insbesondere "wichtigen Angelegenheiten" gemäß §102 erster Satz BAO iVm §17 und §22 ZustG) vorgesehen ist, und andererseits den angefochtenen Regelungen des §8 Abs5, Abs6 und Abs8 zweiter Satz SBBG, die eine Zustellung ohne Zustellnachweis vorsehen, lässt die Besonderheit des (verdächtigten) Scheinunternehmers als Empfänger der behördlichen Erledigungen außer Betracht. Bei den Adressaten einer Verdachtsmitteilung (§8 Abs4 zweiter Satz SBBG) und eines Bescheides nach §8 Abs8 SBBG handelt es sich definitionsgemäß - im Unterschied zu Adressaten von behördlichen Dokumenten iSd §102 BAO - um Unternehmen, die einen bestimmten geschäftlichen Betrieb eben nur dem Anschein nach, zum Zweck der Verkürzung von Abgaben und Beiträgen sowie zur Erschleichung von Versicherungs-, Sozial- oder sonstigen Transferleistungen führen. Anders als das BFG (auch im Hinblick auf die Behauptung der unsachlichen Gleichbehandlung von Unternehmen bei der Qualifikation als Abgabestelle gemäß §8 Abs6 SBBG) offenbar meint, kommen die angefochtenen Bestimmungen über die Zustellung nach §8 Abs5, Abs6 und Abs8 zweiter Satz SBBG nur zur Anwendung, wenn ein Verdacht auf Vorliegen eines Scheinunternehmens gemäß §8 Abs2 und Abs3 SBBG besteht. Vor diesem Hintergrund vermag das Vorbringen des Antrages keine Gleichheitswidrigkeit des §8 Abs5, Abs6 und Abs8 SBBG aufzuzeigen.
Zur unzulässigen Ungleichbehandlung dadurch, dass ein Bescheid über die Feststellung des Vorliegens eines Scheinunternehmens nach erhobenem Widerspruch gemäß §8 Abs9 SBBG mit Zustellnachweis zugestellt werde, ist darauf hinzuweisen, dass §8 Abs9 zweiter Satz SBBG zwar die Zustellung mit Zustellnachweis gemäß §102 BAO vorsieht, §8 Abs9 vierter Satz SBBG jedoch eine dem §8 Abs6 zweiter Satz SBBG entsprechende Regelung trifft. Demgemäß ist es der zustellenden Behörde (auch) möglich, die Verständigung über die Hinterlegung des Feststellungsbescheides gemäß §8 Abs9 SBBG ungeachtet der Abwesenheit des Empfängers durch Zurücklassen an der Abgabestelle wirksam zuzustellen.
Die (nur) im Fall des §8 Abs9 SBBG vorgesehene physische Zustellmöglichkeit durch Hinterlegung ist insoweit sachlich gerechtfertigt, als die Behörde im Fall des erhobenen Widerspruches gegen die Verdachtsmitteilung zu Recht - wegen der zuvor behobenen Verdachtsmitteilung - gemäß §17 Abs1 ZustG davon ausgehen kann, dass sich der Empfänger des Feststellungsbescheides regelmäßig an der Abgabestelle aufhält. In Anbetracht dieses Umstandes in Fällen des §8 Abs9 SBBG erweist sich die (differenzierende) Regelung als geboten. Eine unsachliche Ungleichbehandlung gleicher Sachverhalte liegt sohin auch im Hinblick auf §8 Abs9 SBBG nicht vor.
Schließlich teilt der VfGH auch das Bedenken, die Zustellung gemäß §8 Abs6 und Abs8 zweiter Satz SBBG verstoße gegen das allgemeine Sachlichkeitsgebot, nicht: Es ist dem Gesetzgeber aus dem Blickwinkel des allgemeinen Sachlichkeitsgebotes nicht entgegenzutreten, wenn er dem Umstand, dass bei der Abgabestelle eines (verdächtigten) Scheinunternehmens iSd §8 Abs1, Abs2 und Abs3 SBBG regelmäßig weder deren Vertreter bzw ein Ersatzempfänger anzutreffen sein wird, damit begegnet, dass dieses betreffende behördliche Schriftstücke (letztlich) durch Zurücklassen an der Abgabestelle wirksam zugestellt werden können. Eine solche Regelung ist sachlich gerechtfertigt, weil anderenfalls eine Zustellung von Schriftstücken an (verdächtigte) Scheinunternehmen - die ihrer Natur nach oftmals gerade nicht über einen anwesenden Empfänger bzw Vertreter noch über eine Abgabeeinrichtung an der Abgabestelle verfügen - nicht rechtswirksam erfolgen könnte.
Kein Verstoß von §8 Abs8 erster Satz SBBG gegen das rechtsstaatliche Prinzip sowie gegen Art87 Abs1, Art130 Abs1 Z1, Art130 Abs4 und Art132 Abs1 Z1 B-VG:
Gemäß §8 Abs8 erster Satz SBBG hat die Abgabenbehörde, wenn kein Widerspruch gegen eine Verdachtsmitteilung erhoben wird, mit Bescheid festzustellen, dass das Unternehmen, hinsichtlich dessen ein Verdacht nach §8 Abs2 SBBG vorliegt, als Scheinunternehmen gilt. Im Unterschied zur offenbaren Auffassung des BFG wird der "Verdacht" auf Vorliegen eines Scheinunternehmens iSd §8 Abs8 erster Satz SBBG durch den Gesetzgeber in §8 Abs2 und Abs3 SBBG näher umschrieben: Eine Verdachtsmitteilung hat seitens der Abgabenbehörde nur dann zu ergehen, wenn konkrete und gewichtige Anhaltspunkte Zweifel begründen, ob die Anmeldung zur Sozialversicherung oder die Meldung bei der Bauarbeiter-Urlaubs- und Abfertigungskasse vom Vorsatz getragen ist, die in Folge der Anmeldung oder Meldung auflaufenden Lohn- und Sozialabgaben oder Zuschläge nach dem Bauarbeiter-Urlaubs- und Abfertigungsgesetz (BUAG) zur Gänze zu entrichten (§8 Abs2 Z1 SBBG), oder die Anmeldung zur Sozialversicherung vom Vorsatz getragen ist, dass die angemeldeten Personen eine unselbstständige Erwerbstätigkeit aufnehmen (§8 Abs2 Z2 SBBG). Die Abgabenbehörde hat dazu - vor Erlass einer Verdachtsmitteilung gemäß §8 Abs4 zweiter Satz SBBG - Ermittlungen vorzunehmen.
Von einer Verdachtsmitteilung betroffene Rechtsträger können zunächst durch die Erhebung eines Widerspruches im Wege der mündlichen Vorsprache bei der Abgabenbehörde dartun, dass ein Verdacht iSd §8 Abs2 und Abs3 SBBG (und damit auch ein Scheinunternehmen iSd §8 Abs1 SBBG) nicht vorliegt oder nicht begründet ist. Die Abgabenbehörde hat allerdings auch bei Nichterhebung eines Widerspruches gegen die Verdachtsmitteilung von Amts wegen die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse zu ermitteln (§115 Abs1 BAO) und hat auch auf neue Tatsachen, die ihr zur Kenntnis gelangen, oder Anregungen Bedacht zu nehmen (§270 erster Satz BAO). Im Beschwerdeverfahren gegen einen gemäß §8 Abs8 erster Satz SBBG ergangenen Feststellungsbescheid ist es dem betroffenen Unternehmen weiterhin möglich - wie auch das Bundesfinanzgericht in seinem Antrag einräumt -, darzulegen, dass kein Verdacht iSd §8 Abs2 und Abs3 SBBG (und damit auch kein Scheinunternehmen iSd §8 Abs1 SBBG) vorliegt.
Der VfGH geht somit - entgegen der Rechtsauffassung des BFG - davon aus, dass im Fall des Nichtvorliegens eines Scheinunternehmens gemäß §8 Abs1 SBBG auch ein entsprechendes Beschwerdevorbringen gegen einen Feststellungsbescheid nach §8 Abs8 erster Satz SBBG begründet und vom BFG wahrzunehmen ist.
Keine Verletzung im Gleichheitsrecht durch die Festlegung einer einwöchigen Frist gemäß §8 Abs7 und Abs12 Z2 erster Satz SBBG auf Grund des weiten rechtspolitischen Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers:
Es ist dem Gesetzgeber aus der Sicht des Gleichheitsgrundsatzes nicht entgegenzutreten, wenn er vor dem Hintergrund des öffentlichen Interesses an der ehestmöglichen Feststellung des Vorliegens eines Scheinunternehmens die Frist zur Erhebung eines Widerspruches gemäß §8 Abs7 SBBG und zur Erhebung einer Beschwerde gegen einen Feststellungsbescheid gemäß §8 Abs12 Z2 erster Satz SBBG mit jeweils einer Woche festlegt. Im Hinblick auf die einwöchige Frist zur Erhebung eines Widerspruches gemäß §8 Abs7 SBBG gewährleistet diese ihrer Dauer und dem mit einer persönlichen Vorsprache bei der Abgabenbehörde verbundenen Aufwand nach, dass ein Widerspruch effektiv wahrgenommen werden kann. Auch einem gegen den Feststellungsbescheid Rechtsschutzsuchenden ist durch die Frist von einer Woche gemäß §8 Abs12 Z2 erster Satz SBBG gewährleistet, das Rechtsmittel der Beschwerde innerhalb dieser Frist in einer Weise ausführen zu können, die sowohl dem Inhalt des anzufechtenden Feststellungsbescheides als auch dem zu dieser Entscheidung führenden, allenfalls mit Mängeln belasteten Verfahren in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht adäquat ist. Für eine Beschwerde nach §8 Abs12 Z4 SBBG sind keine besonderen inhaltlichen Voraussetzungen vorgesehen und überdies besteht im Verfahren vor dem BFG gemäß §270 zweiter Satz BAO kein Neuerungsverbot.
Soweit das BFG eine gleichheitswidrige Ungleichbehandlung durch die angefochtenen Fristenregelungen im Vergleich zu Rechtsmittelfristen in anderen (Straf-)Verfahren behauptet, ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rsp des VfGH der bloße Vergleich der Länge von Rechtsmittelfristen ohne Berücksichtigung des jeweiligen Systems des Rechtsmittelrechtes nicht aussagekräftig ist.
Schlagworte
Zustellung, Rechtsmittel, Fristen, Rechtsstaatsprinzip, VfGH / PräjudizialitätEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2019:G117.2019Zuletzt aktualisiert am
12.01.2021