RS Vfgh 2019/10/1 G330/2018

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 01.10.2019
beobachten
merken

Index

20/05 Wohn- und Mietrecht

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art140 Abs1 Z1 litd
WohnungseigentumsG 2002 §9 Abs2, §10 Abs2
StGG Art5
ABGB §878
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Keine Verletzung im Gleichheitsrecht und im Recht auf Unversehrtheit des Eigentums durch eine Regelung im WohnungseigentumsG; Geltendmachung der gerichtlichen Nutzwertfestsetzung innerhalb einer Einjahresfrist bei einer Abweichung des (privaten) Nutzwertgutachtens von 3 % von der tatsächlichen Sachlage einerseits sowie die Möglichkeit der unbefristeten Geltendmachung bei Verstößen gegen zwingende Grundsätze der Nutzwertfeststellung andererseits nicht unsachlich

Rechtssatz

Abweisung des ersten - zulässigen - Eventualantrags einer Partei auf Aufhebung des §10 Abs2 WohnungseigentumsG 2002 (WEG 2002) idF BGBl I 30/2012; Zurückweisung des Hauptantrags mangels Mitanfechtung des Fristbeginns für Wohnungseigentumsbewerber ab Verständigung von der Einverleibung des Wohnungseigentums wegen Unzulässigkeit.

Unterschiedliche Befristung der Geltendmachung der Nutzwertfeststellung sachlich begründet:

Der OGH geht davon aus, dass ein Verstoß gegen zwingende Grundsätze der Nutzwertfeststellung ("grobe Systemfehler") gemäß §9 Abs2 Z1 WEG 2002 die Nutzwertfestsetzung samt einer darauf beruhenden Grundbucheintragung gemäß §878 ABGB rechtlich unmöglich und daher nichtig machen kann, weshalb die Wohnungseigentümer bis zu einer Rückabwicklung und anschließenden Neubegründung entgegen dem Grundbuchsstand nicht Wohnungseigentümer, sondern bloße Miteigentümer sind.

§9 Abs2 Z2 WEG 2002 erfasst demgegenüber Abweichungen von mehr als 3 vH zwischen der Festsetzung der Nutzwerte und der tatsächlichen Sachlage, etwa auf Grund von "reinen Messfehlern" (Rechen- oder Vermessungsfehlern) des Nutzwertgutachtens. Diese Abweichungen führen jedoch selbst bei erheblichen quantitativen Abweichungen - im Gegensatz zu den Verstößen gegen zwingende Grundsätze der Nutzwertfeststellung nach §9 Abs2 Z1 WEG 2002 - nicht zur Nichtigkeit der Eintragung des Wohnungseigentumes im Grundbuch.

Die Möglichkeit zur unbefristeten Geltendmachung eines Verstoßes gegen zwingende Grundsätze der Nutzwertfestsetzung ist dementsprechend vor dem Hintergrund zu sehen, dass ein solcher Verstoß zur - absoluten oder doch zumindest relativen - Nichtigkeit der Nutzwertfestsetzung und darauf beruhender Grundbucheintragungen führt.

Nichtigkeit kann nach allgemeinen zivilrechtlichen Regeln zeitlich unbegrenzt, jedenfalls aber 30 Jahre lang geltend gemacht werden. Darüber hinaus ist im vorliegenden Zusammenhang zu berücksichtigen, dass den Parteien die Möglichkeit gegeben werden muss, eine nichtige Grundbucheintragung als Wohnungseigentümer zu sanieren und die intendierte Begründung von Wohnungseigentum nachzuholen. Andernfalls würde nur schlichtes Miteigentum vorliegen, was von den Parteien aber nicht gewollt gewesen ist.

Demgegenüber ergeben sich im Fall des bloßen Abweichens des Nutzwertgutachtens von den tatsächlichen Gegebenheiten in Höhe von mehr als 3 vH nach §9 Abs2 Z2 WEG 2002 keine vergleichbaren gravierenden Folgen grundbuchsrechtlicher Natur und daher auch nicht für das Eigentumsrecht. Vor diesem Hintergrund ist es nicht unsachlich, wenn der Gesetzgeber zwischen den beiden genannten Arten von Verstößen bei der Erstellung des Nutzwertgutachtens differenziert und für die Geltendmachung von Verstößen gegen zwingende Grundsätze der Nutzwertfeststellung gemäß §9 Abs2 Z1 WEG 2002 keine Frist zur Geltendmachung vorsieht, insbesondere um den Parteien die Sanierung einer nichtigen Grundbucheintragung zu ermöglichen, bei bloßen Abweichungen iSd §9 Abs2 Z2 WEG 2002 hingegen eine Jahresfrist anordnet.

Es kann Grenzfälle geben, in denen nicht leicht zu bestimmen sein dürfte, ob ein Verstoß gegen zwingende Grundsätze der Nutzwertberechnung oder ein bloßes Abweichen von den tatsächlichen Verhältnissen vorliegt. Entsprechende Abgrenzungsprobleme sind jedoch keine Besonderheit der vorliegenden Regelung, sondern können vielmehr immer dann auftreten, wenn der Gesetzgeber hinsichtlich unterschiedlicher Sachverhalte verschiedene Fristen vorsieht. Der Umstand, dass eine Frist im Einzelfall zu Härtefallen führen kann, macht diese noch nicht unsachlich.

Gemäß der Rspr des OGH soll die Festlegung der Nutzwerte durch eine Neufestsetzung - aus Gründen der Rechtssicherheit - nur im unbedingt notwendigen Ausmaß durchbrochen werden. Die von der Antragstellerin intendierte zeitlich unbegrenzte Möglichkeit zur Geltendmachung von Abweichungen des Nutzwertgutachtens von den tatsächlichen Gegebenheiten stellte ihrerseits eine Beeinträchtigung der Rechtssicherheit der anderen Miteigentümer dar, weswegen die in §10 Abs2 WEG 2002 vorgesehene Einjahresfrist für die Neufestsetzung in Fällen des §9 Abs2 Z2 WEG 2002 nicht unsachlich ist.

Keine Bedenken gegen die Länge der Frist zur Geltendmachung von Verstößen nach §9 Abs2 Z2 iVm §10 Abs2 WEG 2002:

Eine Frist vergleichbarer Art wäre nur dann nicht sachlich gerechtfertigt, wenn sie jeglicher Erfahrung entgegenstünde. Im Rahmen einer Durchschnittsbetrachtung kann nicht davon gesprochen werden, dass die hier in Rede stehende Einjahresfrist zu kurz bemessen wäre.

Die gerichtliche Festsetzung der Nutzwerte kann nach Rspr des OGH bereits vor der Einverleibung begehrt werden; dies wird mit der möglichst uneingeschränkten Überprüfbarkeit der (privaten) Nutzwertgutachten begründet. Eine gerichtliche Überprüfung der Nutzwerte ist daher einerseits bereits vor Einverleibung des Wohnungseigentumes, andererseits danach im Rahmen der von §10 Abs2 WEG 2002 festgelegten Fristen möglich. Insofern kann nicht davon gesprochen werden, dass einem Wohnungseigentümer gegen die fehlerhafte Festsetzung der Nutzwerte nur ein unzureichender Rechtsschutz zur Verfügung stünde.

Soweit die Antragstellerin vorbringt, dass §10 Abs2 WEG 2002 deshalb unsachlich sei, weil die Bestimmung nicht auf gröblich benachteiligende Situationen Rücksicht nehme, ist dem entgegenzuhalten, dass es gerade in den von ihr angesprochenen "eklatanten" Fällen problemlos möglich sein sollte, die Abweichung der Nutzwertfestsetzung von den tatsächlichen Gegebenheiten festzustellen und binnen der Einjahresfrist eine gerichtliche Neufestsetzung zu beantragen.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Wohnungseigentum, Grundbuch, Fristen, Rechtsschutz, VfGH / Präjudizialität, VfGH / Prüfungsumfang, VfGH / Parteiantrag

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2019:G330.2018

Zuletzt aktualisiert am

12.01.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten