TE Bvwg Beschluss 2020/11/16 W207 2235405-1

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Veröffentlicht am 16.11.2020
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Entscheidungsdatum

16.11.2020

Norm

BBG §42
BBG §45
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch

W207 2235405-1/5E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Michael SCHWARZGRUBER als Vorsitzender und die Richterin Mag. Natascha GRUBER sowie den fachkundigen Laienrichter Mag. Gerald SOMMERHUBER als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , vertreten durch Gernot FUCHS, gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Niederösterreich, vom 27.07.2020, OB: XXXX , betreffend Abweisung des Antrages auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass, beschlossen:

A)

In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3, 2. Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Sozialministeriumservice zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Türkei, stellte am 12.06.2020 beim Sozialministeriumsservice (in der Folge auch als belangte Behörde bezeichnet) die gegenständlichen Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses sowie eines Ausweises gemäß § 29b StVO (Parkausweis für Menschen mit Behinderungen), der entsprechend dem vom Beschwerdeführer unterfertigten Antragsformular für den - auf den Beschwerdeführer zutreffenden - Fall, dass er nicht über einen Behindertenpass mit der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in diesem Behindertenpass verfügt, auch als Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses bzw. auf Vornahme der genannten Zusatzeintragung in den Behindertenpass gilt. Diesen Anträgen wurden eine Arbeitsunfähigkeitsmeldung vom 11.10.2019, ein Arztbrief vom 03.10.2019, ein Verpflichtungsschreiben der OÖ GKK, eine Kopie des Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt-EU“ des Beschwerdeführers, Bescheide der AUVA betreffend die Anerkennung eines Arbeitsunfalles vom 06.11.2019 und 08.04.2020 (Minderung der Erwerbsfähigkeit ab 13.03.2020 100 von Hundert) sowie ein Schreiben der AUVA betreffend die Aufnahme in ein näher genanntes Rehabilitationszentrum vom 11.03.2020 beigelegt.

Daraufhin wurde von der belangten Behörde im Hinblick auf das Verfahren betreffend Ausstellung eines Behindertenpasses eine als „Sofortige Beantwortung“ bezeichnete Beurteilung des Ärztlichen Dienstes vom 23.06.2020 eingeholt. Diese hat – hier in inhaltlicher Hinsicht vollständig wiedergegeben – folgenden Inhalt:

„Frage(n):

. Welche Funktionsbeeinträchtigung(en) liegt bzw. liegen vor?

. Welchem Richtsatz bzw. welchen Richtsätzen ist oder sind diese gemäß der EVO

zuzuordnen?

. Welche (Einzel – und Gesamt)einschätzung ergibt sich unter Berücksichtigung der

festgestellten Funktionsbeeinträchtigung(en)?

. Welche funktionellen Einschränkungen sind besserungsfähig?

. Könnte der Gesamtgrad der Behinderung kleiner als 50% werden bzw. könnten die

Voraussetzungen für eine oder mehrere Zusatzeintragungen wegfallen? Falls ja:

Nachuntersuchungstermin angeben.

. Die Antragstellerin oder der Antragsteller ist auf den überwiegenden Gebrauch eines

Rollstuhles angewiesen (ja/nein)

. Die Antragstellerin oder der Antragsteller ist blind (ja/nein)

. Die Antragstellerin oder der Antragsteller ist hochgradig sehbehindert im Sinne des

Pflegegeldgesetzes (ja/nein)

. Die Antragstellerin oder der Antragsteller ist gehörlos (ja/nein)

. Die Antragstellerin oder der Antragsteller ist schwer hörbehindert (ja/nein)

. Die Antragstellerin oder der Antragsteller ist taubblind (ja/nein)

. Die Antragstellerin oder der Antragsteller ist Epileptikerin/Epileptiker (ja/nein)

. Die Antragstellerin oder der Antragsteller ist Trägerin oder Träger eines Cochlea –

Implantates (ja/nein)

. Die Antragstellerin oder der Antragsteller bedarf einer Begleitperson (ja/nein)

. Die Antragstellerin oder der Antragsteller ist Trägerin oder Träger von

Osteosynthesematerial (ja/nein) Falls "ja", welches?

. Die Antragstellerin oder der Antragsteller ist Orthesen-/ProthesenträgerIn (ja/nein) Falls

"ja", welche?

. Der Antragstellerin oder dem Antragsteller ist die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel

unzumutbar (ja/nein)

. Welche Funktionsbeeinträchtigung(en) im Sinne von Mehraufwendungen wegen

Krankendiätverpflegung liegt/liegen vor?

. Welcher GdB wird für die Funktionsbeeinträchtigung im Sinne von Mehraufwendungenwegen Krankendiätverpflegung festgestellt?

Antwort(en):

Träger von Osteosynthesematerial, Orthesenträger

Sonstige Zusatzeintragungen aufgrund fehlender Befunde nicht möglich.“

Mit Schreiben der belangten Behörde vom 30.06.2020 wurde der Beschwerdeführer über das Ergebnis der Beweisaufnahme in Kenntnis gesetzt; die eingeholte „Sofortige Beantwortung“ vom 23.06.2020 wurde dem Beschwerdeführer gemeinsam mit diesem Parteiengehörschreiben übermittelt. Dem Beschwerdeführer wurde in Wahrung des Parteiengehörs die Gelegenheit eingeräumt, binnen zwei Wochen ab Zustellung des Schreibens eine Stellungnahme abzugeben.

Der Beschwerdeführer brachte innerhalb der ihm dafür eingeräumten Frist keine Stellungnahme ein.

Mit Schreiben der belangten Behörde vom 27.07.2020 wurde dem Beschwerdeführer aufgrund seines Antrages vom 12.06.2020 mitgeteilt, dass laut Ergebnis des medizinischen Ermittlungsverfahrens ein Grad der Behinderung von 100 von Hundert (v.H.) festgestellt worden sei. Die Voraussetzungen für die Zusatzeintragung „Der Inhaber/die Inhaberin des Passes ist TrägerIn von Osteosynthesematerial“ würde vorliegen. Der Behindertenpass im Scheckkartenformat werde in den nächsten Tagen übermittelt werden. Der Behindertenpass werde unbefristet ausgestellt.

Hingegen wurde mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 27.07.2020 der Antrag des Beschwerdeführers vom 12.06.2020 auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass abgewiesen. Begründend wurde ausgeführt, dass im Ermittlungsverfahren ein Gutachten (gemeint offenkundig: die oben vollständig wiedergegebene „Sofortige Beantwortung“ vom 23.06.2020, weil in der Begründung weiters ausgeführt wird, die wesentlichen Ergebnisse des ärztlichen Begutachtungsverfahrens seien der Beilage, die einen Bestandteil der Begründung bilde, zu entnehmen) eingeholt worden sei. Nach diesem Gutachten würden die Voraussetzungen für die Zusatzeintragung nicht vorliegen. Die Ergebnisse des ärztlichen Begutachtungsverfahrens seien als schlüssig erkannt und in freier Beweiswürdigung der Entscheidung zugrunde gelegt worden. Die „Sofortige Beantwortung“ vom 23.06.2020 wurde dem Beschwerdeführer als Beilage gemeinsam mit dem Bescheid übermittelt.

Ein formaler bescheidmäßiger Abspruch über den Antrag auf Ausstellung eines Ausweises gemäß § 29 b StVO (Parkausweis) erfolgte durch das Sozialministeriumservice nicht.

Mit Begleitschreiben der belangten Behörde vom 30.07.2020 wurde dem Beschwerdeführer ein unbefristeter Behindertenpass mit einem eingetragenen Grad der Behinderung von 100 v.H. übermittelt. Diesem Behindertenpass kommt gemäß der Bestimmung des § 45 Abs. 2 BBG Bescheidcharakter zu.

Am 10.09.2020 erhob der Beschwerdeführer per E-Mail im Wege seiner nunmehrigen Rechtsvertretung fristgerecht Beschwerde gegen den Bescheid vom 27.07.2020, mit dem sein Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ abgewiesen worden war. Zwar wird im Betreff der Beschwerde die Geschäftszahl der behördlichen Schreiben vom 27.07.2020 bzw. 30.07.2020 betreffend die Passausstellung angeführt, aus dem Inhalt der Beschwerde und ihrem objektivem Erklärungswert ergibt sich jedoch zweifelsfrei, dass sich diese gegen die Nichtvornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass richtet, zumal der ausgestellte Behindertenpass mit einem GdB von 100% ohnedies den höchstmöglichen Grad der Behinderung aufweist. In dieser Beschwerde wird in inhaltlicher Hinsicht - hier in den wesentlichen Teilen wiedergegeben – Folgendes ausgeführt:

„Sehr geehrte Damen und Herren,

Ich bekam am 31.07.2020 den Behindertenpass ausgestellt, leider ohne Zusatzeintrag der Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel.

Da ich starke Schmerzen und Probleme beim Gehen habe und sich mein Zustand nicht gebessert hat ersuche ich bitte um neuerliche Überprüfung und Ergänzung dieses für mich wichtigen Zusatzeintrages.

Neue Befunde anbei.

Besten Dank im Vorhinein.

Mit freundlichen Grüßen

Name und Unterschrift des Beschwerdeführers“

Der Beschwerde wurden eine vom Beschwerdeführer gezeichnete Vollmacht zugunsten seiner Rechtsvertretung, ein Auszug aus der Krankengeschichte der AUVA vom 26.08.2020 und ein Verordnungsschein für Heilbehelfe und Hilfsmittel beigelegt.

Die belangte Behörde legte am 24.09.2020 dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde und den Bezug habenden Verwaltungsakt zur Entscheidung vor.

Am 14.10.2020 wurde dem Bundesverwaltungsgericht im Wege der belangten Behörde ein Bescheid der AUVA vom 30.09.2020 (Minderung der Erwerbsfähigkeit ab 07.09.2020 auf 25 v.H.) übermittelt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zu Spruchteil A)

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn

-        der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

-        die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

Das Modell der Aufhebung des Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, allerdings mit dem Unterschied, dass die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 28 Abs. 3 VwGVG nicht erforderlich ist (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren 2013, § 28 VwGVG, Anm. 11.)

§ 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn „die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen“ hat.

Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, zur Auslegung des § 28 Abs. 3 zweiter Satz ausgeführt hat, wird eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer "Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht, vgl. Holoubek, Kognitionsbefugnis, Beschwerdelegitimation und Beschwerdegegenstand, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, erster Instanz, 2013, Seite 127, Seite 137; siehe schon Merli, Die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte erster Instanz, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz, 2008, Seite 65, Seite 73 f).

Die im Beschwerdefall relevanten Bestimmungen des Bundesbehindertengesetzes (BBG) lauten auszugsweise:

„§ 42. (1) Der Behindertenpass hat den Vornamen sowie den Familien- oder Nachnamen, das Geburtsdatum eine allfällige Versicherungsnummer und den festgestellten Grad der Behinderung oder der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu enthalten und ist mit einem Lichtbild auszustatten. Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig. Die Eintragung ist vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen vorzunehmen.

§ 45. (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluss der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.

(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht stattgegeben oder der Pass eingezogen wird.

(3) In Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung hat die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen.

(4) Bei Senatsentscheidungen in Verfahren gemäß Abs. 3 hat eine Vertreterin oder ein Vertreter der Interessenvertretung der Menschen mit Behinderung als fachkundige Laienrichterin oder fachkundiger Laienrichter mitzuwirken. Die fachkundigen Laienrichterinnen oder Laienrichter (Ersatzmitglieder) haben für die jeweiligen Agenden die erforderliche Qualifikation (insbesondere Fachkunde im Bereich des Sozialrechts) aufzuweisen.

§ 47. Der Bundesminister für Arbeit und Soziales ist ermächtigt, mit Verordnung die näheren Bestimmungen über den nach § 40 auszustellenden Behindertenpaß und damit verbundene Berechtigungen festzusetzen.“

§ 1 Abs. 2 der Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen, StF: BGBl. II Nr. 495/2013, lautet – soweit im gegenständlichen Fall relevant - auszugsweise:

„§ 1 …

(2) Auf Antrag des Menschen mit Behinderung ist jedenfalls einzutragen:

1. …

2. …

3. die Feststellung, dass dem Inhaber/der Inhaberin des Passes die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung nicht zumutbar ist; die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist insbesondere dann nicht zumutbar, wenn das 36. Lebensmonat vollendet ist und
-         erhebliche Einschränkungen der Funktionen der unteren Extremitäten oder
-         erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit oder
-         erhebliche Einschränkungen psychischer, neurologischer oder intellektueller
Fähigkeiten, Funktionen oder
-         eine schwere anhaltende Erkrankung des Immunsystems oder
-         eine hochgradige Sehbehinderung, Blindheit oder Taubblindheit nach § 1
Abs. 2 Z 1 lit. b oder d vorliegen.

(3) Grundlage für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen für die in § 1 Abs. 2 genannten Eintragungen erfüllt sind, bildet ein Gutachten eines ärztlichen Sachverständigen des Bundessozialamtes. Soweit es zur ganzheitlichen Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen erforderlich erscheint, können Experten/Expertinnen aus anderen Fachbereichen beigezogen werden. Bei der Ermittlung der Funktionsbeeinträchtigungen sind alle zumutbaren therapeutischen Optionen, wechselseitigen Beeinflussungen und Kompensationsmöglichkeiten zu berücksichtigen.

(4)…“

In den Erläuterungen zur Stammfassung der Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen, StF: BGBl. II Nr. 495/2013, wird betreffend § 1 Abs. 2 Z 3 (in der Stammfassung) unter anderem – soweit im gegenständlichen Fall in Betracht kommend – Folgendes ausgeführt:
„§ 1 Abs. 2 Z 3:

Durch die Verwendung des Begriffes „dauerhafte Mobilitätseinschränkung“ hat schon der Gesetzgeber (StVO-Novelle) zum Ausdruck gebracht, dass es sich um eine Funktionsbeeinträchtigung handeln muss, die zumindest 6 Monate andauert. Dieser Zeitraum entspricht auch den grundsätzlichen Voraussetzungen für die Erlangung eines Behindertenpasses.

Unter erheblicher Einschränkung der Funktionen der unteren Extremitäten sind ungeachtet der Ursache eingeschränkte Gelenksfunktionen, Funktionseinschränkungen durch Erkrankungen von Knochen, Knorpeln, Sehnen, Bändern, Muskeln, Nerven, Gefäßen, durch Narbenzüge, Missbildungen und Traumen zu verstehen.

Komorbiditäten der oberen Extremitäten und eingeschränkte Kompensationsmöglichkeiten sind zu berücksichtigen. Eine erhebliche Funktionseinschränkung wird in der Regel ab einer Beinverkürzung von 8 cm vorliegen.

Erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit betreffen vorrangig cardiopulmonale Funktionseinschränkungen. Bei den folgenden Einschränkungen liegt jedenfalls eine Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel vor:

-        arterielle Verschlusskrankheit ab II/B nach Fontaine bei fehlender therapeutischer Option

-        Herzinsuffizienz mit hochgradigen Dekompensationszeichen

-        hochgradige Rechtsherzinsuffizienz

-        Lungengerüsterkrankungen unter Langzeitsauerstofftherapie

-        COPD IV mit Langzeitsauerstofftherapie

-        Emphysem mit Langzeitsauerstofftherapie

-        mobiles Gerät mit Flüssigsauerstoff muss nachweislich benützt werden

Erhebliche Einschränkungen psychischer, neurologischer oder intellektueller Funktionen umfassen im Hinblick auf eine Beurteilung der Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel folgende Krankheitsbilder:

Klaustrophobie, Soziophobie und phobische Angststörungen als Hauptdiagnose nach ICD 10 und nach Ausschöpfung des therapeutischen Angebotes und einer nachgewiesenen Behandlung von mindestens 1 Jahr,

-        hochgradige Entwicklungsstörungen mit gravierenden Verhaltensauffälligkeiten,

-        schwere kognitive Einschränkungen, die mit einer eingeschränkten Gefahreneinschätzung des öffentlichen Raumes einhergehen,

-        nachweislich therapierefraktäres, schweres, cerebrales Anfallsleiden – Begleitperson ist erforderlich.

Eine schwere anhaltende Erkrankung des Immunsystems, die eine Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel wegen signifikanter Infektanfälligkeit einschränkt, liegt vor bei:

anlagebedingten, schweren Erkrankungen des Immunsystems (SCID – sever combined immundeficiency),

schweren, hämatologischen Erkrankungen mit dauerhaftem, hochgradigem Immundefizit (z.B: akute Leukämie bei Kindern im 2. Halbjahr der Behandlungsphase, Nachuntersuchung nach Ende der Therapie),

fortgeschrittenen Infektionskrankheiten mit dauerhaftem, hochgradigem Immundefizit,

selten auftretenden chronischen Abstoßungsreaktion nach Nierentransplantationen, die zu zusätzlichem Immunglobulinverlust führen.

Bei Chemo- und/oder Strahlentherapien im Rahmen der Behandlung onkologischer Erkrankungen, kommt es im Zuge des zyklenhaften Therapieverlaufes zu tageweisem Absinken der Abwehrkraft. Eine anhaltende Funktionseinschränkung resultiert daraus nicht.

Anzumerken ist noch, dass in dieser kurzen Phase die Patienten in einem stark reduzierten Allgemeinzustand sind und im Bedarfsfall ein Krankentransport indiziert ist.

Bei allen frisch transplantierten Patienten kommt es nach einer anfänglichen Akutphase mit hochdosierter Immunsuppression, nach etwa 3 Monaten zu einer Reduktion auf eine Dauermedikation, die keinen wesentlichen Einfluss auf die Abwehrkräfte bei üblicher Exposition im öffentlichen Raum hat.

Keine Einschränkung im Hinblick auf die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel haben:

vorübergehende Funktionseinschränkungen des Immunsystem als Nebenwirkung im Rahmen von Chemo-und /oder Strahlentherapien,

laufende Erhaltungstherapien mit dem therapeutischen Ziel, Abstoßreaktionen von Transplantaten zu verhindern oder die Aktivität von Autoimmunerkrankungen einzuschränken,

Kleinwuchs,

gut versorgte Ileostoma, Colostoma und Ähnliches mit dichtem Verschluss. Es kommt weder zu Austritt von Stuhl oder Stuhlwasser noch zu Geruchsbelästigungen. Lediglich bei ungünstiger Lokalisation und deswegen permanent undichter Versorgung ist in Ausnahmefällen die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel unzumutbar,

bei Inkontinenz, da die am Markt üblichen Inkontinenzprodukte ausreichend sicher sind und Verunreinigungen der Person durch Stuhl oder Harn vorbeugen. Lediglich bei anhaltend schweren Erkrankungen des Verdauungstraktes ist in Ausnahmefällen die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel unzumutbar.“

…“

Der Beschwerdeführer ist aktuell Inhaber eines unbefristeten Behindertenpasses mit einem festgestellten Grad der Behinderung von 100 v.H. Dem gegenständlichen Beschwerdeverfahren liegt nun die Abweisung eines Antrages auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass zu Grunde.

Um die Frage der (Un)Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel beurteilen zu können, hat die Behörde nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu ermitteln, ob der Antragsteller dauernd an seiner Gesundheit geschädigt ist und wie sich diese Gesundheitsschädigung nach ihrer Art und ihrer Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt. Sofern nicht die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auf Grund der Art und der Schwere der Gesundheitsschädigung auf der Hand liegt, bedarf es in einem Verfahren über einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung" regelmäßig eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, in dem die dauernde Gesundheitsschädigung und ihre Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in nachvollziehbarer Weise dargestellt werden. Nur dadurch wird die Behörde in die Lage versetzt, zu beurteilen, ob dem Betreffenden die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung unzumutbar ist (vgl. VwGH 23.02.2011, 2007/11/0142, und die dort zitierten Erkenntnisse vom 18.12.2006, 2006/11/0211, und vom 17.11.2009, 2006/11/0178, jeweils mwN.).

Ein solches Sachverständigengutachten muss sich mit der Frage befassen, ob der Antragsteller dauernd an seiner Gesundheit geschädigt ist und wie sich diese Gesundheitsschädigung nach ihrer Art und ihrer Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt (VwGH 20.03.2001, 2000/11/0321). Dabei ist auf die konkrete Fähigkeit des Beschwerdeführers zur Benützung öffentlicher Verkehrsmittel einzugehen, dies unter Berücksichtigung der hiebei zurückzulegenden größeren Entfernungen, der zu überwindenden Niveauunterschiede beim Aus- und Einsteigen, der Schwierigkeiten beim Stehen, bei der Sitzplatzsuche, bei notwendig werdender Fortbewegung im Verkehrsmittel während der Fahrt etc. (VwGH 22.10.2002, 2001/11/0242; VwGH 14.05.2009, 2007/11/0080).

Der angefochtene Bescheid erweist sich in Bezug auf den zu ermittelnden Sachverhalt als mangelhaft, und zwar aus folgenden Gründen:

Das im gegenständlichen Verfahren betreffend die Frage der Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass eingeholte und oben vollständig wiedergegebene „Gutachten“, nämlich die „Sofortige Beantwortung“ vom 23.06.2020, welche zudem offenkundig ohne persönliche Untersuchung des Beschwerdeführers erfolgte, entspricht nicht den – oben wiedergegeben - Kriterien des Verwaltungsgerichtshofes an ein vollständiges und schlüssiges Sachverständigengutachten. Nur durch die Einholung eines vollständigen und nachvollziehbaren Gutachtens in Bezug auf die dauernden Gesundheitsschädigungen und ihre Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wird die Behörde in die Lage versetzt, zu beurteilen, ob dem Betreffenden die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung unzumutbar ist.

In dieser von der belangten Behörde eingeholten „Sofortigen Beantwortung“ vom 23.06.2020 wird lediglich ausgeführt: „Antwort(en): Träger von Osteosynthesematerial, Orthesenträger; Sonstige Zusatzeintragungen aufgrund fehlender Befunde nicht möglich.“ Da diese „Sofortige Beantwortung“ den Anforderungen an die Schlüssigkeit und Vollständigkeit eines Gutachtens in Bezug auf die im gegenständlichen Verfahren entscheidungserheblichen Fragen nicht gerecht wird und ergänzungsbedürftig ist, ist sie im gegebenen Zusammenhang nicht geeignet, zur ausreichenden Sachverhaltsklärung beizutragen.

Die Entscheidung der belangten Behörde wäre daher auf Grundlage eines medizinischen Sachverständigengutachtens zu treffen gewesen, welches sich mit der beantragten Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass sachgerecht auseinandersetzt. Im gegenständlichen Fall ist jedenfalls davon auszugehen, dass die belangte Behörde im Sinne der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes den Sachverhalt – bezogen auf den konkreten Verfahrensgegenstand der Frage der (Un)Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel – nur ansatzweise ermittelt hat bzw. die Ermittlung des Sachverhaltes in entscheidungswesentlichen Fragen an das Bundesverwaltungsgericht delegiert hat.

Die belangte Behörde machte auch von der ihr gemäß § 14 VwGVG eingeräumten Möglichkeit der Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung (die unter anderem auch dazu dienen kann, anlässlich des Beschwerdevorbringens bei allenfalls gleichbleibendem Bescheidergebnis wesentliche Sachverhalts- oder auch Begründungselemente nachzutragen) trotz des entsprechenden Beschwerdevorbringens („Da ich starke Schmerzen und Probleme beim Gehen habe und sich mein Zustand nicht gebessert hat, ersuche ich bitte um neuerliche Überprüfung und Ergänzung dieses für mich wichtigen Zusatzeintrages.“) und der Vorlage neuer Befunde im Rahmen der Beschwerdeerhebung (insbesondere des Auszuges aus der Krankengeschichte der AUVA vom 26.08.2020) keinen Gebrauch und legte dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde mit dem Verwaltungsakt zur Entscheidung vor.

Die unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht läge angesichts des gegenständlichen mangelhaft geführten verwaltungsbehördlichen Ermittlungsverfahrens nicht im Interesse der Raschheit und wäre auch nicht mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden. Zu berücksichtigen ist auch, dass mit dem verwaltungsgerichtlichen Mehrparteienverfahren ein höherer Aufwand verbunden ist.

Die belangte Behörde wird daher im fortgesetzten Verfahren ein medizinisches Sachverständigengutachten einzuholen haben, welches sich – bezogen auf den gegenständlichen Fall auch auf Grundlage einer persönlichen Untersuchung des Beschwerdeführers - sachgerecht mit der Frage befasst, ob der Beschwerdeführer dauernd an seiner Gesundheit geschädigt ist und wie sich diese Gesundheitsschädigung nach ihrer Art und ihrer Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt. Dabei wird auf die konkrete Fähigkeit des Beschwerdeführers zur Benützung öffentlicher Verkehrsmittel einzugehen sein, dies unter Berücksichtigung der hiebei zurückzulegenden größeren Entfernungen, der zu überwindenden Niveauunterschiede beim Aus- und Einsteigen, der Schwierigkeiten beim Stehen, bei der Sitzplatzsuche, bei notwendig werdender Fortbewegung im Verkehrsmittel während der Fahrt etc.

Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben. Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall des Beschwerdeführers noch nicht feststeht und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht rasch und kostengünstig festgestellt werden kann, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid der belangten Behörde gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Sozialministeriumservice zurückzuverweisen.

Zu Spruchteil B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Dieser Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung, des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.

In den rechtlichen Ausführungen zu Spruchteil A wurde ausführlich unter Bezugnahme auf die oben zitierte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes und des Verfassungsgerichtshofes ausgeführt, dass im verwaltungsbehördlichen Verfahren notwendige Ermittlungen unterlassen wurden. Betreffend die Anwendbarkeit des § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG im gegenständlichen Fall liegt in Anbetracht des oben zitierten Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, zur Auslegung des § 28 Abs. 3 zweiter Satz keine grundsätzliche Rechtsfrage vor.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte

Behindertenpass Ermittlungspflicht Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Sachverständigengutachten Zusatzeintragung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W207.2235405.1.00

Im RIS seit

08.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

08.01.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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