Index
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
AufwandersatzV VwG 2014 §1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek und die Hofräte Dr. Kleiser, Dr. Fasching, Mag. Brandl sowie Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision der Bezirkshauptmannschaft St. Veit an der Glan gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Kärnten vom 9. Jänner 2019, Zl. KLVwG-674/15/2017, betreffend Betretungsverbot gemäß § 38a SPG (mitbeteiligte Partei: E G, vertreten durch Mag. Paul Gursch, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Kärntner Straße 10/13), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
Angefochtenes Erkenntnis
1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Landesverwaltungsgericht Kärnten (Verwaltungsgericht) der Beschwerde des Mitbeteiligten wegen behaupteter Rechtswidrigkeit der Verhängung eines Betretungsverbots nach § 38a Sicherheitspolizeigesetz (SPG) am 1. März 2017 für näher genannte Adresse in F statt und erklärte die Verhängung des Betretungsverbots für rechtswidrig (Spruchpunkt I.). Überdies wurde der Bund als Rechtsträger der belangten Behörde gegenüber dem Mitbeteiligten gemäß § 35 Abs. 2, 4 und 7 VwGVG iVm § 1 Z 1 und 2 VwG-Aufwandersatzverordnung zum Kostenersatz in der Höhe von € 2.581,60 (darin enthalten € 737,60 an Schriftsatzaufwand sowie € 1.844,-- an Verhandlungsaufwand) verpflichtet (Spruchpunkt II.) und die Revision für unzulässig erklärt (Spruchpunkt III.).
2 Begründend führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, am Abend des 1. März 2017 sei es zwischen dem Mitbeteiligten und seiner Lebensgefährtin im gemeinsamen Wohnsitz zu einer verbalen Auseinandersetzung mit Vorwürfen und Beschimpfungen gekommen. Dabei habe der Mitbeteiligte seiner Lebensgefährtin auf der Stiege einen Tritt in das Gesäß versetzt. Um ihn abzuwehren, habe die Lebensgefährtin den Mitbeteiligten mit einem Zahnputzbecher auf den Kopf geschlagen, wodurch er eine Platzwunde erlitten habe. Danach sei sie mit dem Sohn in das Bad geflüchtet, habe den Polizeinotruf gewählt und sich dort bis zum Eintreffen der Polizei eingesperrt. Auf Befragen der einschreitenden Polizeibeamten habe die Lebensgefährtin keine Drohungen und keine Gewalt des Mitbeteiligten ihr gegenüber sowie Verletzungen ihrerseits vor diesem Tag erwähnt, sondern Verbalattacken, wonach sie dick und faul sei. Sie habe dabei einen eingeschüchterten und verängstigten Eindruck gemacht und nicht mehr bleiben wollen, weil es ihr offenbar gereicht habe.
Nach Mitteilung der Lebensgefährtin, dass der Mitbeteiligte über ein Flobertgewehr und eine Gaspistole verfüge, sei von den Polizeibeamten über den Mitbeteiligten ein vorläufiges Waffenverbot ausgesprochen worden und seien die Waffen sichergestellt worden. Schließlich sei gegen den alkoholisiert wirkenden Mitbeteiligten um 22.50 Uhr gemäß § 38a SPG ein Betretungsverbot für das Wohnhaus seiner Schwester, zu dem sich die Lebensgefährtin mit dem Sohn auf ihren Wunsch hinbegeben habe, ausgesprochen worden.
Im Polizeibericht über das ausgesprochene Betretungsverbot sei das Verhalten des Mitbeteiligten als „renitent, phasenweise unhöflich, teilweise die Situation ins Lächerliche ziehend“ beschrieben worden. Als Merkmale für einen bevorstehenden gefährlichen Angriff sei „ein Fußtritt auf den Hintern des Opfers, die Alkoholisierung, bevorstehende Trennung bzw. Verlassen des Gefährders mit dem Kind und starke Verharmlosung/Verleugnung der Gewalt“ vermerkt worden. An sonstigen besonderen Auffälligkeiten sei festgehalten worden: „Mittelgradige Alkoholisierung, laut eigenen Angaben vier Flaschen Bier, Alkoholgeruch deutlich wahrnehmbar, Alkovortest verweigert bzw. bewusst abgebrochene Blasversuche um ein Ergebnis zu verhindern.“
Die konkret von den Polizeibeamten vorgenommene Gefährdungsprognose sei nicht rechtsrichtig, „weil der Polizeibeamte eben nicht von einem bevorstehenden gefährlichen Angriff auf Leben, Gesundheit oder Freiheit ausgegangen“ sei, „was sich schon aus dem von ihm verfassten Bericht vom 02.03.2017“ ergäbe, „in welchem er festgehalten“ habe, „dass es keine Hinweise auf aktuelle Drohungen und Verletzungen gegeben habe und auch die gefährdete Person keine Gewalt und keine Drohung vor dem gegenständlichen Vorfall angegeben habe“. Seine Einschätzung sei insofern verfehlt, „als von seinem Wissensstand aus ihm vorangegangene gefährliche Angriffe des Beschwerdeführers gegen seine Lebensgefährtin nicht bekannt“ gewesen seien. Der Polizeibeamte habe „in seine Prognoseentscheidung die Annahme, dass der Beschwerdeführer bei Nichtverhängung des Betretungsverbotes gegenüber seiner Lebensgefährtin Drohungen aussprechen oder ihr Gewalt antun könnte oder dass ein gefährlicher Angriff bei Nichtverhängung des Betretungsverbotes allenfalls nicht auszuschließen gewesen wäre, nicht“ einbezogen. „Bloß auf gegebener emotionaler Situation aufgrund jeglicher Gewalt entbehrlichen Verhaltensweise beruhende Annahmen“ würden für die Verhängung eines Betretungsverbots nicht ausreichen. Auch die „Angaben der Lebensgefährtin in Bezug auf Angst und Beschimpfungen und die gesteigerte Aggressivität“ böten keine solche Hinweise auf eine vom Mitbeteiligten ausgehende Gefahr iSd § 38a SPG. Die Gefühlsschwankungen des Mitbeteiligten beim Eintreffen der Polizei seien situationsbezogen zu sehen, zumal seine nervliche Anspannung auch auf die belastete Situation im Zusammenhang mit der ihm zugefügten Verletzung und seine Alkoholisierung zurückzuführen gewesen sei. Es seien keine bestimmte Tatsachen und auch kein unterhalb der Schwelle eines gefährlichen Angriffs liegendes Verhalten vorgelegen, die als Indiz für das Bevorstehen eines gefährlichen Angriffs auf Leben und Gesundheit oder Freiheit der Lebensgefährtin des Mitbeteiligten zu werten seien. Das Verhalten des bislang unbescholtenen Mitbeteiligten „vom Erscheinen der Polizeibeamten an“ habe „keinen Hinweis auf einen bevorstehenden gefährlichen Angriff gegen eines der in § 38 SPG genannten Rechtsgüter“ ergeben. Eine ernsthafte und konkrete Androhung von Gewalt, die eine Verletzungsfolge nach sich ziehen könne, sei von einer bloßen Unmutsgeste oder einer drohenden Misshandlung ohne Verletzungsfolge zu unterscheiden. Durch die von der Lebensgefährtin bereits im Zuge der Amtshandlung dokumentierte Absicht des Verlassens der gemeinsamen Wohnung und die tatsächlich erfolgte räumliche Trennung - die Lebensgefährtin habe sich mit dem Sohn zur benachbarten Schwester des Mitbeteiligten begeben - sei das Betretungsverbot für diesen Schutzbereich nicht vertretbar gewesen. Daher erweise sich das ausgesprochene Betretungsverbot im Ergebnis als rechtswidrig und unverhältnismäßig.
3 Die Kostenentscheidung stützte das Verwaltungsgericht auf § 35 Abs. 1 und 2 VwGVG. Dem Mitbeteiligten stehe als obsiegende Partei gegenüber Bund als Rechtsträger der belangten Behörde Aufwandersatz gemäß § 1 Z 1 und Z 2 der VwG-Aufwandersatzverordnung für den Schriftsatzaufwand in der Höhe von € 737,60 und den Verhandlungsaufwand für zwei Verhandlungen in der Höhe von € 1.844,--, somit gesamt € 2.581,60, zu.
4 Den Ausspruch über die Unzulässigkeit der Revision begründete das Verwaltungsgericht dahin, dass eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung auch dann nicht vorliege, wenn die Klärung dieser Rechtsfrage keine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung habe.
5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision.
Der Verwaltungsgerichtshof hat - nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung mit einem Antrag auf Aufwandersatz erstattete - erwogen:
Zulässigkeit
6 Die Amtsrevision ist zu dem im gesonderten Zulässigkeitsvorbringen aufgezeigten Abweichen von näher dargelegter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes einerseits zum Vorliegen einer Gefährdungsprognose der einschreitenden Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes als Voraussetzung für die Verhängung eines Betretungsverbots, andererseits zum Zuspruch des gemäß VwG-Aufwandersatzverordnung festgesetzten Pauschalbetrags für den Ersatz des Verhandlungsaufwandes in einfacher Höhe unabhängig von der Zahl der Verhandlungstermine, zulässig und berechtigt.
Rechtslage
7 § 38a Abs. 1, 2 und 6 Sicherheitspolizeigesetz, BGBl. Nr. 566/1991, in der zum Zeitpunkt der gegenständlichen Amtshandlung am 1. März 2017 geltenden Fassung BGBl. I Nr. 61/2016, lautete:
„Betretungsverbot und Wegweisung zum Schutz vor Gewalt
§ 38a. (1) Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind ermächtigt, einem Menschen, von dem auf Grund bestimmter Tatsachen, insbesondere wegen eines vorangegangenen gefährlichen Angriffs, anzunehmen ist, dass er einen gefährlichen Angriff auf Leben, Gesundheit oder Freiheit begehen werde (Gefährder),
1. das Betreten einer Wohnung, in der ein Gefährdeter wohnt, und deren unmittelbarer Umgebung oder
2. sofern es sich bei dem Gefährdeten um einen unmündigen Minderjährigen handelt, das Betreten
a) einer vom gefährdeten Unmündigen zur Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht im Sinne des Schulpflichtgesetzes 1985, BGBl. Nr. 76/1985, besuchten Schule oder
b) einer von ihm besuchten institutionellen Kinderbetreuungseinrichtung oder
c) eines von ihm besuchten Horts
samt eines Bereichs im Umkreis von fünfzig Metern,
zu untersagen.
(2) Bei Anordnung eines Betretungsverbotes haben die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes
1. dem Gefährder den räumlichen Bereich, auf den sich das Betretungsverbot bezieht, zur Kenntnis zu bringen, wobei der Geltungsbereich des Betretungsverbotes nach Abs. 1 Z 1 nach Maßgabe der Erfordernisse eines wirkungsvollen vorbeugenden Schutzes zu bestimmen ist,
2. ihn, im Falle einer Weigerung, den vom Betretungsverbot nach Abs. 1 umfassten Bereich zu verlassen, wegzuweisen,
3. dem Gefährder alle in seiner Gewahrsame befindlichen Schlüssel zur Wohnung gemäß Abs. 1 Z 1 abzunehmen,
4. ihm Gelegenheit zu geben, dringend benötigte Gegenstände des persönlichen Bedarfs mitzunehmen und sich darüber zu informieren, welche Möglichkeiten er hat, unterzukommen.
Bei einem Verbot, in die eigene Wohnung zurückzukehren, ist besonders darauf Bedacht zu nehmen, dass dieser Eingriff in das Privatleben des Betroffenen die Verhältnismäßigkeit (§ 29) wahrt. Sofern sich die Notwendigkeit ergibt, dass der Betroffene die Wohnung oder eine Einrichtung nach Abs. 1 Z 2, deren Betreten ihm untersagt ist, aufsucht, darf er dies nur in Gegenwart eines Organs des öffentlichen Sicherheitsdienstes tun.
...
(6) Die Anordnung eines Betretungsverbotes ist der Sicherheitsbehörde unverzüglich bekanntzugeben und von dieser binnen 48 Stunden zu überprüfen. Stellt die Sicherheitsbehörde fest, dass das Betretungsverbot nicht hätte angeordnet werden dürfen, so hat sie dieses dem Gefährder gegenüber unverzüglich aufzuheben; der Gefährdete ist unverzüglich darüber zu informieren, dass das Betretungsverbot aufgehoben werde; die Aufhebung des Betretungsverbotes sowie die Information des Gefährdeten haben nach Möglichkeit mündlich oder schriftlich durch persönliche Übergabe zu erfolgen. Die nach Abs. 2 abgenommenen Schlüssel sind mit Aufhebung des Betretungsverbotes dem Gefährder auszufolgen, im Falle eines Antrages auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung nach §§ 382b und 382e EO beim ordentlichen Gericht zu erlegen.“
Betretungsverbot gemäß § 38a SPG
8 Der Mitbeteiligte wendet sich mit seiner Beschwerde nach Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG ausschließlich gegen die Anordnung des Betretungsverbots am 1. März 2017, nicht jedoch auch gegen ein allfälliges Unterlassen dessen Überprüfung nach § 38a Abs. 6 SPG und (damit verbunden) dessen Aufrechterhaltung.
9 Im Rahmen eines Maßnahmenbeschwerdeverfahrens (vgl. zur Zulässigkeit einer Maßnahmenbeschwerde iZm § 38a SPG VwGH 6.7.2016, Ra 2015/01/0037) ist Gegenstand der Prüfung durch das Verwaltungsgericht alleine, ob der angefochtene Verwaltungsakt für rechtswidrig zu erklären ist (vgl. zum subjektiv-öffentlichen Recht eines Maßnahmenbeschwerdeführers sowie zur Entscheidung über eine Maßnahmenbeschwerde VwGH 5.12.2017, Ra 2017/01/0373).
10 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist ein Betretungsverbot (ebenso wie eine Wegweisung) an die Voraussetzung geknüpft, dass auf Grund bestimmter Tatsachen (Vorfälle) anzunehmen ist, ein gefährlicher Angriff auf Leben, Gesundheit oder Freiheit einer gefährdeten Person stehe bevor. Welche Tatsachen als solche im Sinne des § 38a SPG in Frage kommen, sagt das Gesetz nicht (ausdrücklich). Diese Tatsachen müssen (auf Grund bekannter Vorfälle) die Annahme rechtfertigen, dass plausibel und nachvollziehbar bestimmte künftige Verhaltensweisen zu erwarten sein werden. Auf Grund des sich den einschreitenden Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes bietenden Gesamtbildes muss mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein, dass ein gefährlicher Angriff im genannten Sinn durch den Wegzuweisenden bevorstehe. Dabei (bei dieser Prognose) ist vom Wissensstand des Beamten im Zeitpunkt des Einschreitens auszugehen (vgl. etwa VwGH 7.9.2020, Ro 2019/01/0005, Rn. 13; 22.6.2018, Ra 2018/01/0285, Rn. 7, jeweils mwN).
11 Das Verwaltungsgericht hat somit die Rechtmäßigkeit eines gemäß § 38a SPG angeordneten Betretungsverbots im Sinne einer objektiven ex ante-Betrachtung aus dem Blickwinkel der eingeschrittenen Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes zum Zeitpunkt ihres Einschreitens zu prüfen (vgl. zur ex ante-Betrachtung aus dem Blickwinkel der einschreitenden Exekutivbeamten VwGH 5.12.2017, Ra 2017/01/0373, mwN). Dabei hat es zu beurteilen, ob die eingeschrittenen Organe entsprechend der in Rn. 10 dargelegten Grundsätze vertretbar annehmen konnten, dass ein vom Gefährder ausgehender gefährlicher Angriff auf Leben, Gesundheit oder Freiheit bevorsteht (vgl. VwGH 21.12.2000, 2000/01/0003, mit Verweis auf VwGH 29.7.1998, 97/01/0448, zur Vertretbarkeit der Annahme der Voraussetzungen für eine Identitätsfeststellung nach § 35 Abs. 1 SPG, sowie VwGH 8.9.2009, 2008/17/0061).
12 Dafür ist ein vorangegangener gefährlicher Angriff nicht notwendig, bildet aber ex lege ein Indiz für einen möglicherweise bevorstehenden gefährlichen Angriff auf Leben, Gesundheit oder Freiheit (arg.: „insbesondere“). Die Gefahrenprognose iSd § 38a Abs. 1 SPG setzt somit weder einen solchen Angriff voraus, noch ist allein aus dem Umstand, dass es zu keinem gefährlichen Angriff des Gefährders gekommen ist, auf das Nichtvorliegen einer hinreichenden Gefahr zu schließen. Angesichts des inhärenten Präventivcharakters kann allerdings kein Zweifel bestehen, dass nach den jeweiligen Umständen etwa auch Aggressionshandlungen unter der Schwelle eines gefährlichen Angriffs oder in der Vergangenheit liegende Gewaltakte als „bestimmte Tatsachen“ iSd § 38a Abs. 1 SPG in Frage kommen können (vgl. VwGH 24.2.2004, 2002/01/0280, mwN). So kann auch die Anwendung von Gewalt in Form „bloßer“ Misshandlungen ohne Verletzungserfolg, wie etwa Stoßen, Niederwerfen, Fußtritte, auf ein erhöhtes Aggressionspotential hinweisen und im Zusammenhang mit dem sich den Beamten bietenden Gesamtbild die Prognose eines drohenden gefährlichen Angriffs begründen (vgl. etwa Thanner/Vogl, SPG² [2013], Anm. 4 und 5 zu § 38a). Bei der Gesamtsituation beim Einschreiten der Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes bei Ausspruch des Betretungsverbots weist der Gesetzgeber auf die maßgeblichen Umstände „Verhältnis von gefährdeter Person und Gefährder, bekannte Gefahrenmomente“ hin (vgl. die Erläuterungen zu § 38a SPG in RV 1151 BlgNR 25. GP, 3).
13 Bei der Gefährdungsprognose ist insbesondere zu beachten, dass nach der Intention des Gesetzgebers die sicherheitspolizeiliche Intervention bereits greifen soll, bevor eine strafrechtlich relevante Handlung gesetzt wird. Nur so kann der Zweck des § 38a SPG als vorbeugende Schutzmaßnahme Sinn ergeben (vgl. aus dem Vorblatt zur RV 252 BlgNR 20. GP, 5, sowie die Erläuterungen zu § 38a SPG in RV 252 BlgNR 20. GP, 11f, wobei sich der Gesetzeszweck des Schutzes vor Gewalt bereits aus dem Titel des Gesetzes „Bundesgesetz zum Schutz vor Gewalt in der Familie - GeSchG“ ergibt; Thanner/Vogl, SPG² [2013], Anm. 4 und 5 zu § 38a, mwN). Mit der - in der vorliegenden Rechtssache anzuwendenden - Präventionsnovelle 2016, BGBl. I Nr. 61/2016, wollte der Gesetzgeber diesen wesentlichen Gesetzeszweck („in erster Linie die präventiven Instrumente im Bereich des Schutzes vor Gewalt“) zusätzlich verbessern (vgl. aus dem Allgemeinen Teil der Erläuterungen RV 1151 BlgNR 25. GP, 1) und sah in § 38a SPG Neuerungen vor, „die den Schutz vor Gewalt erhöhen sollen“. So kann, sofern das Betretungsverbot nicht gemäß Abs. 6 aufzuheben ist, die Sicherheitsbehörde den Gefährder gemäß dem mit dieser Novelle in Kraft getretenen Abs. 6a während eines aufrechten Betretungsverbots vorladen, um diesen über rechtskonformes Verhalten nachweislich zu belehren, wenn dies wegen der Persönlichkeit des Gefährders (dessen Verhalten bei der Anordnung des Betretungsverbots, erkennbare Gewaltbereitschaft, Gefährdungsprognose, einschlägige Vorfälle in jüngster Vergangenheit) oder der Umstände (Gesamtsituation) beim Einschreiten (Verhältnis von gefährdeter Person und Gefährder, bekannte Gefahrenmomente) erforderlich erscheint (präventive Rechtsaufklärung; vgl. die Erläuterungen zu § 38a SPG in RV 1151 BlgNR 25. GP, 3f). Dieses Ziel der Prävention wurde im Übrigen vom Gesetzgeber auch als (ein) Hauptgesichtspunkt des (vorliegend noch nicht zur Anwendung kommenden) Gewaltschutzgesetzes 2019 betont (vgl. die Erläuterungen in IA 970/A BlgNR 26. GP, 23).
14 Gegenstand der Überprüfung durch das Verwaltungsgericht ist daher, ob für die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes auf Grund des sich den einschreitenden Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes bietenden Gesamtbildes und ausgehend vom Wissensstand der Beamten im Zeitpunkt des Einschreitens hinreichende Gründe für das Bestehen einer vom Gefährder ausgehenden, das angeordnete Betretungsverbot rechtfertigenden Gefahr iSd § 38a SPG vorlagen. Dabei hat das Verwaltungsgericht nicht seine eigene Beurteilung des sich den einschreitenden Organen bietenden Gesamtbildes und seinem eigenen Wissensstand an die Stelle des Blickwinkels der Beamten zu setzen. Die Annahme der Beamten eines bevorstehenden vom Gefährder ausgehenden gefährlichen Angriffs auf Leben, Gesundheit oder Freiheit ist somit nicht bereits dann unvertretbar und das verhängte Betretungsverbot rechtswidrig, wenn das Verwaltungsgericht die Gefährdungslage an Hand des sich den eingeschrittenen Beamten gebotenen Gesamtbildes anders einschätzt.
Einzelfallbezogene Beurteilung
15 Zu dem sich den Polizeibeamten zum Zeitpunkt ihres Einschreitens bietenden Gesamtbild stellte das Verwaltungsgericht fest, dass der Mitbeteiligte seiner Lebensgefährtin im Zuge einer verbalen Auseinandersetzung mit Vorwürfen und Beschimpfungen auf der Stiege einen Tritt in das Gesäß versetzt habe, woraufhin die Lebensgefährtin dem Mitbeteiligten mit einem Zahnputzbecher auf dem Kopf geschlagen habe, um ihn abzuwehren. Der Mitbeteiligte habe dadurch eine Platzwunde am Kopf erlitten. Danach sei die Lebensgefährtin mit dem gemeinsamen fünfjährigen Sohn ins Bad geflüchtet und habe sich dort bis zum Eintreffen der von ihr via Polizeinotruf alarmierten Polizei eingesperrt. Sie habe auf die Polizeibeamten einen eingeschüchterten und verängstigten Eindruck gemacht. Demgegenüber habe sich der alkoholisierte Mitbeteiligte gegenüber den Polizeibeamten renitent und phasenweise unhöflich verhalten und teilweise die Situation ins Lächerliche gezogen bzw. verharmlost.
16 Ausgehend von diesen Feststellungen und den oben dargelegten Grundsätzen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bestehen für den Verwaltungsgerichtshof keine Zweifel an der Vertretbarkeit der Annahme eines bevorstehenden gefährlichen Angriffs des Mitbeteiligten auf Leben, Gesundheit und Freiheit seiner nach dem Vorfall bei der benachbarten Schwester wohnenden Lebensgefährtin.
17 Auf Grund der heftigen Abwehrreaktion der Lebensgefährtin samt Einsperren im Bad und Wählen des Polizeinotrufs, deren verängstigten und eingeschüchterten Eindrucks auf die Beamten nach deren Eintreffen und dem Entschluss der Lebensgefährtin, mit dem gemeinsamen Sohn nicht mehr beim Mitbeteiligten zu bleiben, konnten die Polizeibeamten von einem entsprechend erhöhten Aggressionspotential des Mitbeteiligten gegen seine Lebensgefährtin ausgehen, das sich bereits durch die mittels Fußtritt ausgeübte Gewaltanwendung verwirklicht hat. In Verbindung mit dem renitenten, phasenweise unhöflichen und die Situation teilweise ins Lächerliche ziehenden Verhalten des alkoholisierten Mitbeteiligten begegnet die Annahme einer von ihm ausgehenden Gefahr eines bevorstehenden gefährlichen Angriffs gegenüber seiner nach dem Verlassen des gemeinsamen Wohnsitzes in unmittelbarer Nachbarschaft wohnenden Lebensgefährtin und deren damit verbundener Schutzbedarf keine Bedenken. Der Umstand, dass die vom Mitbeteiligten ausgegangene Gewaltanwendung zu keiner Verletzung führte und nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts die Lebensgefährtin gegenüber den Polizeibeamten vor der Anordnung des Betretungsverbots keine dem Vorfall vorangegangene Gewaltausübung oder Drohungen erwähnt habe, steht der Vertretbarkeit dieser Einschätzung nicht entgegen.
18 Das Verwaltungsgericht hat insofern die angefochtene Entscheidung bereits in der Hauptsache mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet.
Ergebnis
19 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen der sich auch auf deren Kostenentscheidung in Spruchpunkt II. durchschlagenden Rechtswidrigkeit seines Inhaltes insgesamt gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
20 Der Mitbeteiligte hat bei diesem Ergebnis gemäß § 47 Abs. 3 VwGG keinen Anspruch auf Aufwandersatz (vgl. etwa VwGH 7.9.2020, Ro 2019/01/0005, Rn. 24, mwN).
21 Zum Zuspruch des Ersatzes des Verhandlungsaufwandes für zwei Verhandlungen in zweifacher Höhe des Pauschalbetrages gemäß § 1 Z 1 VwG-Aufwandersatzverordnung ist für das weitere Verfahren klarstellend darauf hinzuweisen, dass schon der Wortlaut dieser Bestimmung („... als Aufwandersatz zu leistende Pauschalbeträge ... 2. Ersatz des Verhandlungsaufwands des Beschwerdeführers ...“) gegen die Zuerkennung eines Mehrfachen des Pauschalbetrages für den Verhandlungsaufwand spricht und es auch dem Wesen einer Pauschalierung entspricht, dass es auf die Dauer der Verhandlung und auf die Zahl der Verhandlungstermine nicht ankommt (vgl. zu § 79a AVG vor der Verwaltungsgerichtsbarkeitsnovelle 2012 iVm der UVS-Aufwandersatzverordnung VwGH 21.11.2006, 2003/11/0314, mwN; vgl. zur Übertragung der Rechtsprechung zu § 79a AVG auf § 35 VwGVG VwGH 15.3.2016, Ra 2014/01/0181, mwN).
Wien, am 4. Dezember 2020
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019010163.L00Im RIS seit
22.02.2021Zuletzt aktualisiert am
22.02.2021