TE Vwgh Beschluss 2020/12/9 Ra 2020/22/0239

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Veröffentlicht am 09.12.2020
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Index

E2D Assoziierung Türkei
E2D E02401013
E2D E05204000
E2D E11401020
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

ARB1/80 Art7
B-VG Art133 Abs4
NAG 2005 §19 Abs8 Z3
VwGG §34 Abs1

Beachte


Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2020/22/0240
Ra 2020/22/0241
Ra 2020/22/0242
Ra 2020/22/0243
Ra 2020/22/0244

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrätin Mag.a Merl und Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, in der Revisionssache der revisionswerbenden Parteien 1. K P, 2. G P, 3. M P, 4. D P, 5. M P, und 6. O P, alle vertreten durch Dr. Herbert Veit, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Coulinstraße 20, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Oberösterreich vom 1. September 2020, 1. LVwG-750843/2/MZ/AO, 2. LVwG-750844/2/MZ/AO, 3. LVwG-750845/2/MZ/AO, 4. LVwG-750846/2/MZ/AO, 5. LVwG-750847/2/MZ/AO und 6. LVwG-750848/2/MZ/AO, betreffend jeweils einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Linz-Land), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

2        Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

3        Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

4        Die erst- und zweitrevisionswerbenden Parteien sind miteinander verheiratet und die Eltern der dritt- bis sechstrevisionswerbenden Parteien; alle sind türkische Staatsangehörige. Den Feststellungen im angefochtenen Erkenntnis zufolge hat sich die Familie „erstmals am 10. September 2010 in Österreich niedergelassen“.

5        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich (LVwG) die Beschwerden der revisionswerbenden Parteien gegen die Abweisung ihrer Anträge vom 13. Jänner 2020 auf Erteilung jeweils eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ gemäß § 45 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) als unbegründet ab und erklärte eine ordentliche Revision für unzulässig.

In seiner Begründung verneinte das LVwG das Vorliegen der Erteilungsvoraussetzung gemäß § 45 Abs. 12 NAG (subsidiär Schutzberechtigte, die in den letzten fünf Jahren ununterbrochen aufgrund einer Aufenthaltsbewilligung gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 rechtmäßig aufhältig waren), weil den revisionswerbenden Parteien mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 7. August 2019 der Status als subsidiär Schutzberechtigte aberkannt worden sei und sie somit vor den verfahrensgegenständlichen Anträgen vom 13. Jänner 2020 nicht rechtmäßig aufhältig gewesen seien. Dem Beschwerdevorbringen, dass die späte Antragstellung auf einer falschen Auskunft der Behörde, wonach bei der Antragstellung gültige Reisedokumente vorzulegen seien, beruht hätte und den antragstellenden Parteien diesbezüglich kein Verschulden anzulasten wäre, hielt das LVwG entgegen, die Auskunft der Behörde sei richtig gewesen; die Reisepässe seien erst im September 2019 - und somit nach der rechtskräftigen Abweisung der Anträge auf Verlängerung der Aufenthaltsberechtigungen als subsidiär Schutzberechtigte - beantragt worden.

Das LVwG stellte weiter fest, die Zweitrevisionswerberin erfülle die Voraussetzungen des Art. 6 erster Spiegelstrich des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80); ihr Ehemann und die Kinder verfügten als Familienangehörige über Berechtigungen gemäß Art. 7 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80. Ein Aufenthaltsrecht basierend auf Art. 6 erster Spiegelstrich ARB 1/80 stelle keine Niederlassung iSd § 45 NAG dar (Hinweis auf VwGH 22.5.2020, Ro 2020/22/0001; 23.1.2020, Ro 2019/22/0009). Ob ein Aufenthaltsrecht gemäß Art. 7 Abs. 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 eine Niederlassung darstelle, könne dahingestellt bleiben, weil die darin festgelegte Fünfjahresfrist noch nicht erfüllt sei; für den Erstrevisionswerber beginne diese Frist am 11. Juni 2016 (erstmalige Beschäftigung der Zweitrevisionswerberin), für die zweit- bis sechstrevisionswerbenden Parteien frühestens am 10. September 2015 (Antragstellung betreffend Zuerkennung des subsidiären Schutzes).

6        In der Zulässigkeitsbegründung wird zunächst ein wesentlicher Verfahrensmangel insofern gerügt, als das LVwG nicht festgestellt habe, dass die revisionswerbenden Parteien lange vor der rechtskräftigen Aberkennung des subsidiären Schutzes sowohl türkische Reisepässe als auch Fremdenpässe beantragt hätten, die jedoch bis zur Aberkennung ihres Status als subsidiär Schutzberechtigte nicht vorgelegen seien. Zu den „wesentlichen rechtlichen Fragen“, ob eine fristwahrende Antragstellung auch dann möglich sei, wenn noch nicht alle Unterlagen vorlägen und bejahendenfalls ob durch eine „unrichtige Auskunft“ der Behörde „bis zum Erhalt eines Reisedokumentes und einer erst darauf folgenden neuerlichen Antragstellung“ die Fünfjahresfrist gehemmt werde, gebe es noch keine „oberstgerichtlichen“ Entscheidungen.

Dazu ist auszuführen, dass der Zeitpunkt der Beantragung der Reisepässe gegenständlich nicht relevant ist. Entscheidend für die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ im vorliegenden Fall ist, ob die revisionswerbenden Parteien gemäß § 45 Abs. 12 NAG als subsidiär Schutzberechtigte in den letzten fünf Jahren ununterbrochen aufgrund einer Aufenthaltsbewilligung gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 rechtmäßig aufhältig waren. Dass diese Voraussetzung nicht erfüllt ist, wird in der Zulässigkeitsbegründung nicht bestritten. Das LVwG führte auch zutreffend aus, dass die Auskunft der Behörde, wonach einem Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels ein gültiges Reisedokument beizulegen sei, rechtskonform ist. Zur Frage, wie im Fall von mangelhaften Anträgen vorzugehen ist, liegt bereits hg. Judikatur vor (vgl. dazu etwa VwGH 22.3.2011, 2009/21/0232); gemäß § 19 Abs. 8 Z 3 NAG besteht darüber hinaus die Möglichkeit, auf Antrag von der Verpflichtung zur Vorlage eines Reisepassesabzusehen, wenn dessen Vorlage nicht möglich oder nicht zumutbar ist (vgl. etwa VwGH 20.10.2020, Ra 2020/22/0061).

7        In der Zulässigkeitsbegründung wird weiter argumentiert, alle revisionswerbenden Parteien verfügten seit 10. September 2013 (Anmerkung: drei Jahre nach Stellung der Anträge auf Zuerkennung von subsidiärem Schutz) über Berechtigungen nach Art. 7 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80.

Sowohl die revisionswerbenden Parteien als auch das LVwG gehen davon aus, dass Art. 7 ARB 1/80 fallbezogen anwendbar ist. Diese Bestimmung dient der Familienzusammenführung. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist eine Familienzusammenführung ein unerlässliches Mittel zur Ermöglichung des Familienlebens türkischer Erwerbstätiger, die dem Arbeitsmarkt der Mitgliedstaaten angehören, und sowohl zur Verbesserung der Qualität ihres Aufenthalts als auch zu ihrer Integration in diesen Staaten beiträgt. Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers gemäß Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 können zunächst die Genehmigung erhalten, zum Zweck der Familienzusammenführung zu dem Arbeitnehmer zu ziehen; Kinder, die bereits im Aufnahmemitgliedstaat geboren wurden und stets dort lebten, sind ebenfalls vom Anwendungsbereich des Art. 7 ARB 1/80 erfasst, ohne dass sie eine Erlaubnis benötigen, um zu dem türkischen Arbeitnehmer zu ziehen. Bis zum Ablauf von drei Jahren erhalten Familienangehörige des Wanderarbeitnehmers die Möglichkeit, bei diesem zu leben, um so durch Familienzusammenführung die Beschäftigung und den Aufenthalt des türkischen Arbeitnehmers, der sich bereits ordnungsgemäß in den Aufnahmemitgliedstaat integrierte, zu begünstigen. Darüber hinaus soll diese Vorschrift eine dauerhafte Eingliederung der Familie des türkischen Wanderarbeitnehmers im Aufnahmemitgliedstaat fördern, indem dem betroffenen Familienangehörigen nach drei Jahren ordnungsgemäßen Wohnsitzes selbst der Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht wird (vgl. zum Ganzen VwGH 31.1.2019, Ra 2018/22/0193, Rn. 10, mit zahlreichen Verweisen auf die Rechtsprechung des EuGH).

Voraussetzung für eine Anwendbarkeit des Art. 7 ARB 1/80 ist somit, dass Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers die Genehmigung erhalten, zum Zweck der Familienzusammenführung zu dem bereits im Bundesgebiet aufhältigen türkischen Arbeitnehmer zu ziehen, oder bereits im Bundesgebiet geboren wurden. Beide Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Wie sich aus den vorgelegten Verfahrensakten ergibt, reisten die revisionswerbenden Parteien im September 2010 gemeinsam in Österreich ein und stellen hier am 10. September 2010 Anträge auf internationalen Schutz; dies wird auch in der Revision bestätigt. Es fehlt somit an der grundlegenden Voraussetzung, dass Familienangehörigen die Genehmigung erteilt wurde, zu einem bereits im Bundesgebiet ansässigen und hier in den Arbeitsmarkt integrierten türkischen Staatangehörigen zum Zweck der Familienzusammenführung zu ziehen, oder dass sie bereits hier geboren wurden. Daher ist im vorliegenden Fall Art. 7 ARB 1/80 nicht anzuwenden, und das dazu ergangene Vorbringen der revisionswerbenden Parteien erweist sich als nicht entscheidungsrelevant.

8        In der Revision wird somit keine Rechtsfrage aufgeworfen, der im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme; sie war daher zurückzuweisen.

Wien, am 9. Dezember 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020220239.L00

Im RIS seit

26.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

26.01.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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