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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AVG §56Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Mag. Straßegger sowie die Hofrätin Dr. Koprivnikar als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Friedwagner, über die Revision des G in V, vertreten durch Dr. Martin Brandstetter, Rechtsanwalt in 3300 Amstetten, Bahnhofstraße 2 (Hofmann Center), gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich vom 11. Juli 2019, LVwG-S-1032/001-2019, betreffend Übertretung der StVO (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Amstetten), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Das Land Niederösterreich hat dem Revisionswerber Aufwendungen in Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit dem Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Amstetten vom 20. März 2019 wurde dem Revisionswerber angelastet, als Wartepflichtiger auf Grund einer STOP-Tafel durch Kreuzen einer näher genannten Landstraße eine vorrangberechtigte Fahrzeuglenkerin zum unvermittelten Bremsen ihres Fahrzeuges genötigt und dadurch einen Verkehrsunfall verursacht zu haben. Der Revisionswerber habe dadurch gegen § 19 Abs. 7 iVm Abs. 4 StVO verstoßen und wurde gemäß § 99 Abs. 2c StVO zu einer Geldstrafe von € 140,-- (Ersatzfreiheitsstrafe: 55 Stunden) verurteilt. Begründend führte die Behörde aus, die Lenkerin des anderen Fahrzeuges habe - entgegen den Behauptungen des Revisionswerbers - kein Fehlverhalten gesetzt, insbesondere keine überhöhte Geschwindigkeit eingehalten und auch nicht mit dem rechtswidrigen Verhalten des Revisionswerbers rechnen können.
2 In der dagegen erhobenen Beschwerde wiederholte der Revisionswerber sein Vorbringen zum Verhalten der anderen Lenkerin. Er rügte fehlende Feststellungen darüber, ob für ihn schon beim Einfahren in die Kreuzung das im Vorrang befindliche Fahrzeug erkennbar gewesen wäre, in welcher Entfernung sich die beteiligten Fahrzeuge befunden hätten und mit welchen Geschwindigkeiten gefahren worden sei. Dafür wäre eine exakte Zeit-Weg-Berechnung anzustellen gewesen.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich die Beschwerde als unbegründet ab, schrieb dem Revisionswerber einen Beitrag zu den Kosten des Beschwerdeverfahrens vor und sprach aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
4 Das Verwaltungsgericht stellte fest, der Revisionswerber habe als Wartepflichtiger (auf Grund einer STOP-Tafel samt Haltelinie, die zugleich Sichtlinie sei) durch Kreuzen eine vorrangberechtigte Fahrzeuglenkerin zum unvermittelten Bremsen bzw. Ablenken ihres Fahrzeuges genötigt. Er habe das andere am Unfall beteiligte Fahrzeug jedenfalls in einer Entfernung von 80 m und über den im Kreuzungsbereich befindlichen Verkehrsspiegel in einer Entfernung von 150 m erkennen können.
5 Rechtlich erwog das Verwaltungsgericht, der Revisionswerber hätte das andere Fahrzeug rechtzeitig wahrnehmen können. Selbst wenn das im Vorrang befindliche Fahrzeug mit einer überhöhten Geschwindigkeit unterwegs gewesen sein sollte, hätte der Revisionswerber deren Lenkerin nicht zu einem unvermittelten Bremsen oder Auslenken zwingen dürfen. Schließlich könne auch das Argument, die Unfallgegnerin hätte gar nicht gebremst oder vielleicht sogar die Geschwindigkeit erhöht, die Verwirklichung der objektiven Tatseite nicht verhindern, weil es insofern nicht auf das Verhalten der Vorrangberechtigten ankomme (Hinweis auf VwGH 8.5.1979, 0264/79).
6 Dagegen richtet sich die gegenständliche Revision. Die belange Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag auf kostenpflichtige Zurück- oder Abweisung der Revision.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
8 Die Revision macht zur Zulässigkeit geltend, das angefochtene Erkenntnis weiche von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den bei einer Vorrangverletzung nach § 19 Abs. 7 StVO erforderlichen Feststellungen hinsichtlich der ungefähren Entfernung der Fahrzeuge voneinander und der von ihnen ungefähr eingehaltenen Geschwindigkeit ab (Hinweis auf VwGH 27.2.2009, 2008/02/0048, VwGH 16.10.2003, 2001/03/0242, und VwGH 15.9.1999, 99/03/0253).
9 Die Revision ist zulässig und begründet.
10 Gemäß § 19 Abs. 7 StVO darf derjenige, der keinen Vorrang hat (der Wartepflichtige), durch Kreuzen, Einbiegen oder Einordnen die Lenker von Fahrzeugen mit Vorrang (die Vorrangberechtigten) weder zu unvermitteltem Bremsen noch zum Ablenken ihrer Fahrzeuge nötigen.
11 Das Verwaltungsgericht geht zunächst zutreffend davon aus, dass das Erfordernis des „unvermittelten Bremsens oder Ablenkens“ objektiv zu verstehen ist, d.h., dass der Tatbestand auch dann gegeben sein kann, wenn der Vorrangberechtigte obwohl er, objektiv gesehen, unvermittelt bremsen oder ablenken müsste, in Wirklichkeit aber weder das eine noch das andere getan hat, weshalb es ja in der Regel zum Unfall gekommen sein wird. Dabei ist es ohne rechtliche Bedeutung, ob der Vorrangberechtigte bei leichter Betriebsbremsung sein Fahrzeug hätte anhalten können und ob er sich ebenfalls rechtswidrig (etwa durch Einhalten einer überhöhten Geschwindigkeit) verhalten hat (vgl. VwGH 17.12.1986, 85/03/0014, VwSlg. 12352 A).
12 Der Revisionswerber brachte jedoch auch vor, die Unfallgegnerin hätte ihre Geschwindigkeit nur leicht herabsetzen müssen, um eine Kollision zu verhindern, oder sie habe vielleicht sogar die Geschwindigkeit erhöht.
13 Es wäre denkbar, dass der Vorrangberechtigte den Verkehrsunfall durch Bremsen oder Ablenken in einer ihm zumutbaren Weise (vgl. OGH 11.3.1980, 2 Ob 18/80, ZVR 1980, 11/335) hätte verhindern können, jedoch auf Grund eines Reaktionsfehlers tatsächlich nicht verhindert hat. Allein die Tatsache, dass es zu einem Verkehrsunfall kam, schließt gedanklich nicht mit ein, dass der Vorrangberechtigte zu einem unvermittelten Bremsen oder Ablenken seines Fahrzeuges genötigt wurde und sohin sein Vorrang verletzt wurde (vgl. VwGH 20.9.1989, 89/03/0150). Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes kann von einem Verstoß des Wartepflichtigen gegen § 19 Abs. 7 StVO nicht gesprochen werden, wenn der Vorrangberechtigte durch das in die Vorrangstraße einfahrende Fahrzeug während der ganzen Phase des Einbiegens lediglich zu einer durch bloßes Wegnehmen vom Gas zu erreichenden Mäßigung seiner Geschwindigkeit verhalten wird (vgl. die in Pürstl, StVO13 (2011) § 19 E 230 zitierte Judikatur).
14 Eine Verletzung des im § 19 Abs. 7 StVO ausgesprochenen Verbotes setzt voraus, dass sich die beteiligten Fahrzeuge im Zeitpunkt der Einleitung des unvermittelten Bremsmanövers (bzw. des Ablenkens des Fahrzeuges) durch den Vorrangberechtigten bereits in einer solchen - geringen - Entfernung voneinander befinden, dass das Bremsen bzw. Ablenken des Fahrzeuges zur Vermeidung eines Unfalles erforderlich ist (vgl. VwGH 22.10.1982, 80/02/2243).
15 Zur Prüfung des oben genannten Vorbringens des Revisionswerbers wäre es erforderlich gewesen, die Geschwindigkeiten und Entfernungen der beteiligten Fahrzeuge zu dem Zeitpunkt festzustellen, als die Vorrangberechtigte auf das Einfahren des Revisionswerbers durch bloßes Wegnehmen vom Gas (vgl. Rz 13) hätte reagieren müssen.
16 Damit belastete das Verwaltungsgericht sein Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit.
17 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen (prävalierender) Rechtswidrigkeit seines Inhaltes (Fehlen wesentlicher Feststellungen auf Grund unrichtiger Rechtsansicht) aufzuheben.
18 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 15. Dezember 2020
Schlagworte
Besondere Rechtsgebiete Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt VerfahrensbestimmungenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019020162.L00Im RIS seit
18.01.2021Zuletzt aktualisiert am
18.01.2021