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001 Verwaltungsrecht allgemeinNorm
ÄrzteG 1998 §4 Abs2 Z3Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick und den Hofrat Dr. Grünstäudl sowie die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision des Präsidenten der Österreichischen Ärztekammer in Wien, vertreten durch die SHMP Schwartz Huber-Medek Pallitsch Rechtsanwälte GmbH in 1010 Wien, Hohenstaufengasse 7, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. September 2020, Zl. W136 2234826-1/2Z, betreffend Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 22 Abs. 3 VwGVG i.A. Streichung aus der Ärzteliste (weitere Partei: Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz; mitbeteiligte Partei: Dr. I W in F, vertreten durch Hudelist/Primig Rechtsanwälte OG in 9560 Feldkirchen, Kirchgasse 8), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Mit Bescheid des Revisionswerbers (gleichzeitig belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht) vom 30. Juli 2020 wurde gemäß § 4 Abs. 2 Z 3 iVm § 59 Abs. 1 Z 1, Abs. 2 und Abs. 3 Z 1 sowie § 117c Abs. 1 Z 6 ÄrzteG 1998 festgestellt, dass die Berechtigung der Mitbeteiligten zur Ausübung des ärztlichen Berufes nicht mehr bestehe und diese aus der Ärzteliste zu streichen sei.
Gleichzeitig wurde die aufschiebende Wirkung einer (allenfalls) dagegen erhobenen Beschwerde „aufgrund zwingender öffentlicher Interessen und bestehender Gefahr im Verzug“ gemäß § 13 Abs. 2 VwGVG ausgeschlossen.
2 In der Begründung (unter „Sachverhalt“) führte der Revisionswerber zum Verfahrensgang aus, die Ärztekammer sei aus dem „Kollegenkreis“ darauf hingewiesen worden, dass die Mitbeteiligte aufgrund einer angeblichen Alkoholkrankheit nicht oder nur sehr eingeschränkt zur ärztlichen Berufsausübung fähig sei. In dem von der Österreichischen Ärztekammer in Auftrag gegebenen (im genannten Bescheid wiedergegebenen, nach Untersuchung der Mitbeteiligten erstellten) Gutachten eines Facharztes für Psychiatrie und Neurologie vom 12. Mai 2020 habe dieser diagnostiziert, dass bei der Mitbeteiligten (u.a.) ein „schädlicher Gebrauch von Alkohol oder Alkoholabhängigkeit“ bestehe. Es sei ihr auch angesichts einer geplanten Laborkontrolle nicht gelungen, auch nur annähernd abstinent zu bleiben. Die eingeholten Laborbefunde sprächen für höhere Konsummengen als von der Mitbeteiligten zugegeben, ihre Angaben über den Alkoholkonsum seien verharmlosend. Bei der Mitbeteiligten bestehe ein „Alkoholproblem erheblichen Ausmaßes, im Sinn des ICD-10 eher einer Alkoholabhängigkeit als einem schädlichen Gebrauch von Alkohol entsprechend“. Aus psychiatrischer und neurologischer Sicht sei die Mitbeteiligte „derzeit nicht mehr in der Lage, ihre ärztliche Tätigkeit regelrecht und zuverlässig auszuüben“, doch könne dem durch einen „stationären Alkoholentzug und eine nachfolgende Alkoholentwöhnungsbehandlung“ begegnet werden.
3 Im Rahmen des Parteiengehörs habe die Mitbeteiligte angekündigt, sie werde sich am 15. Juli 2020 einer Entwöhnungsbehandlung unterziehen. Mit (Mandats-)Bescheid des Landeshauptmannes von Kärnten vom 14. Juli 2020 sei ihr gemäß § 62 Abs. 2 ÄrzteG 1998 die Ausübung des ärztlichen Berufes für die Dauer von sechs Wochen untersagt worden, dies wegen Gefahr im Verzug aufgrund von gewohnheitsmäßigem Missbrauch von Alkohol.
4 Im Bescheid vom 30. Juli 2020 wurde sodann (unter „Beweiswürdigung“) mit Bezugnahme auf das genannte Gutachten festgestellt, dass bei der Mitbeteiligten „ein schädlicher Gebrauch oder wahrscheinlicher eine Alkoholabhängigkeit vorliegt und diese somit nicht in der Lage ist, ihren ärztlichen Beruf regelrecht und zuverlässig auszuüben“.
5 In rechtlicher Hinsicht sei bei der Mitbeteiligten die gesundheitliche Eignung iSd § 4 Abs. 2 Z 3 ÄrzteG 1998 als eine der Grundvoraussetzungen für die ärztliche Berufsausübung weggefallen und die ärztliche Berufsberechtigung der Mitbeteiligten gemäß § 59 Abs. 1 leg. cit. erloschen. Dies sei vom Revisionswerber gemäß Abs. 3 leg. cit. mit Bescheid festzustellen gewesen und führe zur Streichung der Mitbeteiligten aus der Ärzteliste.
6 Der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung einer allfälligen Beschwerde gegen diesen Bescheid gemäß § 13 Abs. 2 VwGVG wurde damit begründet, dass nach näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 49 Abs. 1 ÄrzteG 1998 u.a. die Wahrung des Wohles der Kranken und der Schutz der Gesundheit durch deren gewissenhafte Betreuung oder Behandlung als zwingende öffentliche Interessen anzusehen seien. Diese Interessen seien im Falle der Ausübung des ärztlichen Berufes durch die Mitbeteiligte wegen der im Gutachten aufgezeigten Beeinträchtigung ihrer gesundheitlichen Eignung gefährdet.
7 Gegen den (gesamten) Bescheid vom 30. Juli 2020 erhob die Mitbeteiligte Beschwerde (Pkt. II des Schriftsatzes vom 27. August 2020) und beantragte dessen Aufhebung. In der Beschwerdebegründung bekämpfte sie die Schlüssigkeit des Gutachtens vom 12. Mai 2020, bestritt den Wegfall der gesundheitlichen Eignung zur Ausübung des Arztberufes und beantragte die Einholung weiterer medizinischer Gutachten. Außerdem stellte sie (Pkt. III des genannten Schriftsatzes) den Antrag, ihrer Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, weil dieser ihrer Meinung nach zwingende öffentliche Interessen nicht entgegen stünden, zumal keine Anhaltspunkte vorlägen, dass ihr („allfälliger“) Alkoholgenuss bislang Auswirkungen auf die ärztliche Tätigkeit gehabt habe.
8 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde der genannten Beschwerde die aufschiebende Wirkung gemäß § 22 Abs. 3 VwGVG zuerkannt. Gleichzeitig wurde gemäß § 25a VwGG ausgesprochen, dass eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig sei.
9 In der Begründung legte das Verwaltungsgericht als Sachverhalt zugrunde, die Mitbeteiligte habe zumindest in der Vergangenheit einen „problematischen Umgang mit Alkohol (Alkoholkonsumstörung) in Form von schädlichem Gebrauch von Alkohol“ gehabt. Zwar habe eine Alkoholabhängigkeit der Mitbeteiligten nicht festgestellt werden können, diese sei aber wahrscheinlich.
„Nach der Aktenlage“ gebe es aber keine Hinweise, dass sich diese Konsumstörung auf die ärztliche Tätigkeit der Mitbeteiligten auswirke. Es liege keine Gefahr im Verzug vor, die einen sofortigen Vollzug des Bescheides vom 30. Juli 2020 rechtfertige. Demgegenüber hindere der sofortige Vollzug des Bescheides vom 30. Juli 2020 die Mitbeteiligte an der Ausübung des ärztlichen Berufes und sei für sie existenzbedrohend. Das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug des genannten Bescheides wiege nicht so schwer wie das Interesse der Mitbeteiligten am vorläufigen Aussetzen des Vollzuges.
10 In der Beweiswürdigung verwies das Verwaltungsgericht zum festgestellten schädlichen Alkoholgebrauch der Mitbeteiligten auf das ärztliche Gutachten.
Die Annahme des Fehlens („zumindest bisher“) nachteiliger Folgen des Alkoholkonsums der Mitbeteiligten auf ihre ärztliche Tätigkeit stützte das Verwaltungsgericht auf das Fehlen gegenteiliger Hinweise in den Akten („außer den ... Gerüchten unter nicht näher genannten Kollegen“) und im Parteienvorbringen. Zwar werde im ärztlichen Gutachten ausgeführt, dass die Mitbeteiligte nicht in der Lage sei, ihre Tätigkeit regelrecht und zuverlässig auszuüben. Es dürfe aber trotz der schädlichen Auswirkungen des Alkoholabusus auf den jeweils Betroffenen, so das Verwaltungsgericht weiter, „als bekannt vorausgesetzt werden, dass es Personen aus unterschiedlichen Berufssparten - durchaus auch Ärzte - gibt, die trotz bestehender Alkoholkonsumstörung in der Lage sind, ihre Tätigkeit regelrecht und zuverlässig auszuüben“.
11 In der rechtlichen Beurteilung vertrat das Verwaltungsgericht nach auszugsweiser Wiedergabe des Beschusses VwGH 7.2.2020, Ra 2019/03/0143, die Ansicht, der Revisionswerber habe zwar den vorzeitigen Vollzug des Bescheides vom 30. Juli 2020 für erforderlich erachtet, weil für zwingende öffentliche Gesundheitsinteressen Gefahr im Verzug vorliege. Der Revisionswerber habe in seinem Bescheid jedoch „nicht dargetan, inwiefern dieses öffentliche Interesse gefährdet wäre oder welche gravierenden Nachteile für das öffentliche Wohl“ bei nicht sofortiger Umsetzung des genannten Bescheides zu erwarten seien.
12 Daher wiege das Interesse der Mitbeteiligten, der durch den sofortigen Vollzug der Streichung aus der Ärzteliste gravierende finanzielle Nachteile drohten, schwerer als ein „allenfalls berührtes öffentliches Interesse, das von der belangten Behörde nicht näher dargestellt wurde und seitens des Verwaltungsgerichts nicht erkannt werden kann“.
13 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.
14 Die Mitbeteiligte hat eine Revisionsbeantwortung erstattet und die Zurück- oder Abweisung der Revision beantragt.
15 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
16 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, das Verwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, nach welcher zwingende öffentliche Interessen nicht erst dann gefährdet seien, wenn die Gesundheit und das Leben von Patienten bedroht seien. Vielmehr stelle bereits das Interesse an einer ärztlichen Behandlung von Gesunden und Kranken entsprechend den Grundsätzen und anerkannten Methoden der medizinischen Wissenschaft und an der gewissenhaften ärztlichen Betreuung und Behandlung ein zwingendes öffentliches Interesse dar, welches den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsmittels rechtfertige (Hinweis u.a. auf VwGH 3.1.2005, AW 2004/11/0074).
17 In den Revisionsgründen wird im Wesentlichen vorgebracht, das Verwaltungsgericht habe das genannte zwingende öffentliche Interesse verkannt und rechtswidrig die Ansicht vertreten, aus den Verwaltungsakten des behördlichen Verfahrens ergäben sich keine Hinweise darauf, dass der weiteren Ausübung des Arztberufes durch die Mitbeteiligte ein solches zwingendes öffentliches Interesse entgegenstehe. Richtig sei vielmehr, dass das in den Verwaltungsakten enthaltende ärztliche Gutachten vom 12. Mai 2020 ergeben habe, die Mitbeteiligte sei nicht mehr in der Lage, ihre ärztliche Tätigkeit regelrecht und zuverlässig auszuüben.
18 Die Revision ist aus dem von ihr vorgebrachten Grund zulässig, sie ist auch begründet:
19 Das ÄrzteG 1998 (BGBl. I Nr. 169/1998 in der zum Zeitpunkt der Erlassung des Bescheides vom 30. Juli 2020 am 4. August 2020 maßgebenden Fassung BGBl. I Nr. 23/2020) lautet auszugsweise:
„Erfordernisse zur Berufsausübung
§ 4. (1) Zur selbständigen Ausübung des ärztlichen Berufes als approbierter Arzt, als Arzt für Allgemeinmedizin oder als Facharzt bedarf es, unbeschadet der §§ 34 bis 37, des Nachweises der Erfüllung der nachfolgend angeführten allgemeinen und besonderen Erfordernisse sowie der Eintragung in die Ärzteliste.
(2) Allgemeine Erfordernisse im Sinne des Abs. 1 sind
...
3. die zur Erfüllung der Berufspflichten erforderliche gesundheitliche Eignung, ...
...
Erlöschen und Ruhen der Berechtigung zur Berufsausübung, Streichung aus der Ärzteliste
§ 59. (1) Die Berechtigung zur Ausübung des ärztlichen Berufes erlischt:
1. durch den Wegfall einer für die ärztliche Berufsausübung erforderlichen Voraussetzung,
...
(2) Die Gründe für das Erlöschen der Berechtigung nach Abs. 1 sind auch von Amts wegen wahrzunehmen. ...
(3) Der Präsident der Österreichischen Ärztekammer hat im Rahmen eines Verfahrens gemäß § 117b Abs. 1 oder § 117c Abs. 1
1. in den Fällen des Abs. 1 Z 1 und 5 mit Bescheid festzustellen, dass die Berechtigung zur Ausübung des ärztlichen Berufs nicht besteht und die Streichung aus der Ärzteliste zu veranlassen;
...
Übertragener Wirkungsbereich
§ 117c. (1) Die Österreichische Ärztekammer hat im übertragenen Wirkungsbereich folgende Aufgaben wahrzunehmen:
...
6. Durchführung von Verfahren zur Prüfung des Vorliegens oder Nichtvorliegens der Erfordernisse gemäß § 4 Abs. 2 oder § 59 Abs. 1 Z 1 und 2 für die damit verbundene Eintragung in die oder Austragung aus der Ärzteliste,
...“
20 Die für die Entscheidung über die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde maßgebenden Bestimmungen des VwGVG lauten - auszugsweise - wie folgt:
„Aufschiebende Wirkung
§ 13. (1) Eine rechtzeitig eingebrachte und zulässige Beschwerde gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG hat aufschiebende Wirkung.
(2) Die Behörde kann die aufschiebende Wirkung mit Bescheid ausschließen, wenn nach Abwägung der berührten öffentlichen Interessen und Interessen anderer Parteien der vorzeitige Vollzug des angefochtenen Bescheides oder die Ausübung der durch den angefochtenen Bescheid eingeräumten Berechtigung wegen Gefahr im Verzug dringend geboten ist. Ein solcher Ausspruch ist tunlichst schon in den über die Hauptsache ergehenden Bescheid aufzunehmen.
...
(4) Die Beschwerde gegen einen Bescheid gemäß Abs. 2 hat keine aufschiebende Wirkung. Sofern die Beschwerde nicht als verspätet oder unzulässig zurückzuweisen ist, hat die Behörde dem Verwaltungsgericht die Beschwerde unter Anschluss der Akten des Verfahrens unverzüglich vorzulegen. Das Verwaltungsgericht hat über die Beschwerde ohne weiteres Verfahren unverzüglich zu entscheiden und der Behörde, wenn diese nicht von der Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung absieht, die Akten des Verfahrens zurückzustellen.
...
3. Abschnitt Verfahren vor dem Verwaltungsgericht
Aufschiebende Wirkung
§ 22. ...
(3) Das Verwaltungsgericht kann Bescheide gemäß § 13 und [....] auf Antrag einer Partei aufheben oder abändern, wenn es die Voraussetzungen der Zuerkennung bzw. des Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung anders beurteilt oder wenn sich die Voraussetzungen, die für die Entscheidung über den Ausschluss bzw. die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde maßgebend waren, wesentlich geändert haben.
...“
21 Vorweg ist angesichts § 41 Abs. 1 VwGG zur Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts anzumerken, dass der Bescheid des Revisionswerbers vom 30. Juli 2020 noch vor dem am 31. August 2020 erfolgten Inkrafttreten der Aufhebung näher bezeichneter Bestimmungen des ÄrzteG 1998 (darunter die Wort- und Zeichenfolge „1 und“ in § 59 Abs. 3 Z 1) durch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 13. März 2019, G 242/2018 u.a., (durch Zustellung des Bescheides an die Mitbeteiligte am 4. August 2020) erlassen wurde. Der Bescheid vom 30. Juli 2020 wurde daher, wie sich aus den Entscheidungsgründen des zitierten Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes ergibt, vom Revisionswerber noch in unmittelbarer Bundesverwaltung erlassen, sodass das Bundesverwaltungsgericht gemäß Art. 131 Abs. 2 B-VG zur Entscheidung über die in Rede stehende Beschwerde zuständig war (vgl. auch die Ausführungen unter IV.3. des Erkenntnisses G 242/2018 u.a.).
22 Das vom Verwaltungsgericht in seiner Entscheidung zitierte hg. Erkenntnis vom 7. Februar 2020, Ra 2019/03/0143, lautet auszugsweise:
„22 Gemäß § 13 Abs. 1 VwGVG hat eine rechtzeitig eingebrachte und zulässige Beschwerde gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG - ex lege - aufschiebende Wirkung. Diese kann jedoch gemäß § 13 Abs. 2 VwGVG bei Vorliegen der danach maßgeblichen Voraussetzungen von der Behörde mit Bescheid ausgeschlossen werden. § 13 VwGVG statuiert damit als Grundsatz, dass einer (rechtzeitigen und zulässigen) Bescheidbeschwerde aufschiebende Wirkung zukommt, die von der Behörde nur unter den in Abs. 2 genannten Voraussetzungen - wenn nach Abwägung der berührten öffentlichen Interessen und Interessen anderer Parteien der vorzeitige Vollzug des angefochtenen Bescheids wegen Gefahr im Verzug dringend geboten ist - aberkannt werden darf (Regel-Ausnahme-Prinzip).
23 Das Tatbestandsmerkmal „Gefahr im Verzug“ bringt zum Ausdruck, dass der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung nur das Eintreten erheblicher Nachteile für eine Partei bzw. gravierender Nachteile für das öffentliche Wohl verhindern soll (vgl. VwGH 11.4.2018, Ro 2017/08/0033 und Ro 2018/08/0005). Voraussetzung für den Ausschluss der einer Beschwerde grundsätzlich zukommenden aufschiebenden Wirkung ist daher eine nachvollziehbare Abwägung der berührten öffentlichen Interessen und der Interessen der Verfahrensparteien, aus der sich ebenso nachvollziehbar ergibt, dass für den Fall, dass die aufschiebende Wirkung nicht ausgeschlossen wird, gravierende Nachteile für das öffentliche Wohl eintreten würden bzw. gravierende Nachteile für eine Partei, die jene Nachteile deutlich überwiegen, die bei nicht verfügtem Ausschluss der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde anderen Verfahrensparteien entstehen würden (vgl. VwGH 5.9.2018, Ra 2017/03/0105); das Bestehen öffentlicher Interessen am Vollzug der Maßnahme berechtigt hingegen nicht schon ohne Weiteres zur Annahme, dass eben diese Interessen auch eine sofortige Verwirklichung der getroffenen Maßnahmen dringend gebieten (vgl. VwGH 6.5.2019, Ra 2019/03/0040 mwN, zur insoweit vergleichbaren Aufschiebungsentscheidung nach § 30 Abs. 2 VwGG).
24 Gemäß § 13 Abs. 4 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über eine Beschwerde gegen einen die aufschiebende Wirkung ausschließenden Bescheid nach § 13 Abs. 2 VwGVG ohne weiteres Verfahren unverzüglich zu entscheiden. Ausgehend von § 22 Abs. 3 VwGVG hat es dabei auch auf allfällige Sachverhaltsänderungen nach Erlassung des Bescheids Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 1.9.2014, Ra 2014/03/0028).
25 § 13 Abs. 4 VwGVG steht aber auch der Berücksichtigung jener für den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung maßgeblichen Umstände nicht entgegen, die bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung der Verwaltungsbehörde gegeben waren, die aber nicht Eingang in die Begründung des vor dem Verwaltungsgericht angefochtenen Bescheids gefunden hatten. Dem Verwaltungsgericht ist es daher bei der nach § 13 Abs. 4 letzter Satz VwGVG unverzüglich zu treffenden Entscheidung nicht verwehrt, seine Feststellungen und die vorzunehmende Abwägung auf den gesamten Inhalt des Verfahrensaktes und das Beschwerdevorbringen zu stützen. Selbst im Fall einer gegebenenfalls mangelhaften Entscheidung der Verwaltungsbehörde über den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung hat sich das Verwaltungsgericht nicht etwa darauf zu beschränken, diese Entscheidung ersatzlos zu beheben, vielmehr hat es das Vorliegen der Voraussetzungen für den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung nach § 13 Abs. 4 bzw. § 22 VwGVG eigenständig zum Zeitpunkt seiner Entscheidung zu beurteilen.
26 Das gesetzliche Gebot, ohne weiteres Verfahren unverzüglich zu entscheiden, impliziert, dass grundsätzlich keine mündliche Verhandlung durchzuführen ist (VwGH 9.6.2015, Ra 2015/08/0049). Da die Entscheidung „ohne weiteres Verfahren“ ergeht, hat die gegen den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung beschwerdeführende Partei insbesondere die nicht ohne weiteres erkennbaren bzw. die in ihrer Sphäre liegenden Umstände, die ihr Interesse am Unterbleiben des Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung untermauern, spätestens in der Begründung ihrer Beschwerde gegen den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung konkret darzutun und zu bescheinigen (vgl. dazu VwGH 11.4.2018, Ro 2017/08/0033). Schließlich kann sich das Verwaltungsgericht in seiner Entscheidung nach § 13 Abs. 4 VwGVG auch auf Beschwerdevorbringen stützen, dem die anderen Verfahrensparteien, obgleich es ihnen möglich war, nicht entgegengetreten sind (vgl. dazu VwGH 1.9.2014, Ra 2014/03/0028).
27 Die auf eine rasche Entscheidung über die aufschiebende Wirkung abzielende Bestimmung des § 13 Abs. 4 letzter Satz VwGVG geht zwar davon aus, dass eine Entscheidung „ohne weiteres Verfahren“ getroffen wird, also in der Regel auf der Grundlage des Verfahrensaktes und der Beschwerde sowie den allenfalls dazu erstatteten Äußerungen anderer Verfahrensparteien. Diese Bestimmung kann aber nicht dahin verstanden werden, dass es dem Verwaltungsgericht damit freigestellt wäre, seine Entscheidung auf Sachverhaltselemente zu stützen, die im Verfahren bis dahin nicht eingebracht worden waren, sodass die Verfahrensparteien keine Gelegenheit zur Äußerung zu den entsprechenden Bescheinigungs- oder Beweisergebnissen hatten. Kommt das Verwaltungsgericht daher etwa bei Prüfung der Beschwerde zum Ergebnis, dass die Entscheidung der Verwaltungsbehörde zwar im Ergebnis Bestand haben soll, dies jedoch auf Bescheinigungs- bzw. Beweismittel zu stützen wäre, zu denen einzelnen oder allen Verfahrensparteien noch keine Äußerung möglich war, so hat es diese Bescheinigungsbzw. Beweismittel mit der Gelegenheit zur Äußerung zuzustellen oder die Verfahrensparteien in geeigneter anderer Weise dazu zu hören (zur fundamentalen Bedeutung der Wahrung des Parteiengehörs vgl. etwa VwGH 13.9.2016, Ra 2016/03/0085, mwN); auch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu diesem Zweck ist nicht ausgeschlossen, wenn auch grundsätzlich nicht geboten (vgl. zum Ganzen auch VwGH 5.9.2018, Ra 2017/03/0105).
28 Die Entscheidung über Zuerkennung bzw. Aberkennung (Ausschluss) der aufschiebenden Wirkung ist nach dem Gesagten das Ergebnis einer im Einzelfall vorzunehmenden Interessenabwägung. Wurde eine im Einzelfall vorzunehmende Interessenabwägung vom Verwaltungsgericht auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen, so ist eine solche einzelfallbezogene Beurteilung im Allgemeinen nicht mit Erfolg mit Revision bekämpfbar. Bei der von ihm nach § 13 Abs. 4 VwGVG vorzunehmenden Entscheidung, die auf dem Boden der im Entscheidungszeitpunkt bestehenden Sach- und Rechtslage zu treffen ist, darf das Verwaltungsgericht regelmäßig von den nicht von vornherein als unzutreffend erkennbaren Annahmen der belangten Behörde ausgehen (vgl. etwa VwGH 2.11.2018, Ra 2018/03/0111, mwN).
...“
23 Entsprechend den Ausführungen im soeben zitierten hg. Erkenntnis wäre die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Interessenabwägung, sofern sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde, als einzelfallbezogene Beurteilung nicht mit Erfolg mit Revision bekämpfbar.
Diese Voraussetzungen erfüllt die vorliegende Interessenabwägung aber nicht:
24 Im Bescheid vom 30. Juli 2020 hat der Revisionswerber aufgrund des psychiatrisch-neurologischen Gutachtens vom 12. Mai 2020 bei der Mitbeteiligten einen „schädlichen Gebrauch von Alkohol oder wahrscheinlicher eine Alkoholabhängigkeit“ festgestellt.
25 Die Mitbeteiligte hat mit ihrer dagegen erhobenen Beschwerde die Schlüssigkeit des Gutachtens vom 12. Mai 2020 und insbesondere die dort gezogene Schlussfolgerung, sie sei aktuell gesundheitlich nicht in der Lage, den ärztlichen Beruf regelrecht und zuverlässig auszuüben, bekämpft. Mit der Beschwerde wurden aber keine Bescheinigungsmittel, insbesondere ärztliche Gutachten vorgelegt, welche ihr entgegen dem psychiatrisch-neurologischen Gutachten vom 12. Mai 2020 die Fähigkeit zur ordnungsgemäßen und zuverlässigen Ausübung des ärztlichen Berufes bescheinigen (vgl. dazu Rn. 26 des zitierten Beschlusses Ra 2019/03/0143).
26 Auch ein aktenkundiger Arztbrief vom 17. August 2020 betreffend die stationäre neurologische Behandlung der Mitbeteiligten im Sommer 2020 erwähnt zwar die Verbesserung spezifischer Alkoholwerte (der Langzeit-Alkoholwert der Mitbeteiligten habe sich zum Entlassungszeitpunkt normalisiert), spricht aber gleichzeitig (nicht zuletzt in der zusammenfassenden Beurteilung) von „Alkoholmissbrauch“ und dass die Mitbeteiligte hinsichtlich des Alkoholmissbrauchs mit „entsprechenden Fachambulanzen vernetzt“ sei.
27 Vor dem Hintergrund dieses Aktengeschehens hatte das Verwaltungsgericht (gemäß § 13 Abs. 4 VwGVG „ohne weiteres Verfahren“; vgl. dazu abermals den Beschluss Ra 2019/03/0143) die Frage eigenständig zu beurteilen, ob der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde gegen die Streichung aus der Ärzteliste für die Dauer des Beschwerdeverfahrens weiterhin geboten ist.
28 Dieser Beurteilung hat das Verwaltungsgericht die ausdrückliche Feststellung zugrunde gelegt, dass die Mitbeteiligte „zumindest in der Vergangenheit einen problematischen Umgang mit Alkohol (Alkoholkonsumstörung) in Form von schädlichem Gebrauch von Alkohol“ gehabt habe, und dass „eine Alkoholabhängigkeit ... vom Gutachter nicht mit Sicherheit festgestellt werden“ habe können, diese „ist aber wahrscheinlich“.
29 Daran schließt das Verwaltungsgericht die Rechtsmeinung an, auch bei (vorläufiger) Fortsetzung der ärztlichen Berufsausübung durch die Mitbeteiligte sei Gefahr im Verzug iSd § 13 Abs. 2 iVm § 22 Abs. 3 VwGVG nicht gegeben (also - im Sinne der Ausführungen des zitierten Erkenntnisses Ra 2019/03/0143 - gravierende Nachteile für das öffentliche Wohl nicht zu befürchten), weil einerseits nach der Aktenlage und den Ausführungen des Revisionswerbers (im Bescheid vom 30. Juli 2020) konkrete Anhaltspunkte für eine gesundheitliche Beeinträchtigung des Wohles der Patienten der Mitbeteiligten fehlten und andererseits allgemein bekannt sei, dass auch andere Personen aus unterschiedlichen Berufssparten trotz bestehender Alkoholkonsumstörung in der Lage seien, ihre Tätigkeit regelrecht und zuverlässig auszuüben.
30 Es kann dahingestellt bleiben und bedarf keiner weiteren Erörterung, ob die letztgenannte Vermutung des Verwaltungsgerichts über die Erfüllung von Berufspflichten trotz gegebener Alkoholkonsumstörung jeglicher Grundlage entbehrt. Entscheidungswesentlich ist gegenständlich vielmehr, ob bei ärztlicher Berufsausübung seitens der Mitbeteiligten - aufgrund ihres konkreten Krankheitsbildes (zumindest schädlicher Gebrauch von Alkohol) - gravierende Nachteile für das öffentliche Wohl zu befürchten sind.
31 Anders als das Verwaltungsgericht meint, besteht für diese Befürchtung sehr wohl ein konkreter Anhaltspunkt aufgrund des Gutachtens des neurologisch-psychiatrischen Facharztes vom 12. Mai 2020, hat dieser doch der Mitbeteiligten basierend auf sachlicher Grundlage (Laborwerte) ein „Alkoholproblem erheblichen Ausmaßes ... eher einer Alkoholabhängigkeit ... entsprechend“ attestiert und daraus schlussfolgernd ausgeführt, sie sei „derzeit nicht fähig, ihren Beruf als Ärztin regelrecht und zuverlässig auszuüben“. Diese Einschätzung wird auch durch den genannten Arztbrief vom 17. August 2020 nicht widerlegt.
32 Vor diesem Hintergrund sind jedenfalls gravierende Nachteile für das öffentliche Wohl (Gesundheitsinteressen) zu befürchten und damit Gefahr in Verzug gegeben, und zwar auch dann, wenn die Alkoholkonsumstörung der Mitbeteiligten bislang noch nicht zu einer unmittelbaren Bedrohung der Gesundheit und des Lebens von Patienten geführt hat (vgl. etwa den bereits zitierten hg. Beschluss AW 2004/11/0074) und wenn, wie die Mitbeteiligte in der Revisionsbeantwortung vorbringt, „bislang keine einzige Patientenbeschwerde“ erfolgt sei.
33 Das Verwaltungsgericht hat somit das Vorliegen von Gefahr im Verzug im Zeitpunkt seiner Entscheidung zu Unrecht verneint, die Interessenabwägung iSd § 13 Abs. 2 und 4 iVm § 22 Abs. 3 VwGVG ist somit inhaltlich rechtswidrig.
34 Zur Hintanhaltung von Missverständnissen sei festgehalten, dass der vorliegende Revisionsfall (lediglich) die aufschiebende Wirkung der Beschwerde (das Vorliegen von Gefahr im Verzug) und damit das Provisorialverfahren betrifft, in welchem das Verwaltungsgericht ohne weiteres Verfahren zu entscheiden hatte. Demgegenüber ist die Frage, ob der Mitbeteiligten die allgemeine Berufsausübungsvoraussetzung der gesundheitlichen Eignung (§ 4 Abs. 2 Z 3 ÄrzteG 1998) fehlt, noch nicht abschließend geklärt, eine entsprechende Beurteilung wird vom Verwaltungsgericht unter Berücksichtigung des diesbezüglichen Beschwerdevorbringens und allenfalls vorzunehmender Ermittlungen zu treffen sein.
35 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Wien, am 16. Dezember 2020
Schlagworte
Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020110207.L00Im RIS seit
26.01.2021Zuletzt aktualisiert am
26.01.2021