TE OGH 2020/11/25 7Ob193/20p

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Veröffentlicht am 25.11.2020
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätin und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei DI R***** B*****, vertreten durch Poduschka Anwaltsgesellschaft mbH in Linz, gegen die beklagte Partei M***** AG, *****, vertreten durch Schönherr Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 14.533,07 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Teilurteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Berufungsgericht vom 22. Mai 2020, GZ 3 R 227/19b-15, womit das Urteil des Bezirksgerichts Graz-Ost vom 28. Juni 2019, GZ 223 C 133/18g-10, teilweise bestätigt teils aufgehoben wurde, zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 860,58 EUR (darin enthalten 143,43 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger unterfertigte am 30. 1. 2007 einen Antrag auf Abschluss einer indexgebundenen Lebensversicherung mit der Beklagten mit Vertragsbeginn 1. 3. 2007, einer Laufzeit von 15 Jahren und einer monatlichen Prämie von 85 EUR. Dem Antragsformular war eine Information zur indexgebunden Lebensversicherung auf Seite 4 angeschlossen. Darin ist unter Punkt 6. „Rücktritts- und Kündigungsrechte des Versicherungsnehmers“ neben den Rücktrittsrechten nach §§ 3,  3a KSchG und § 5b VersVG ein Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG wie folgt angeführt: „Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG. Sie können binnen zwei Wochen nach Zustandekommen des Vertrages von diesem zurücktreten.“

In der Polizze ist auf Seite 6 zum Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG Folgendes festgehalten:

„Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG:

Sie können binnen zwei Wochen nach dem Zustandekommen des Vertrages von diesem zurücktreten.“

Der Kläger bezahlte von März 2007 bis inklusive Jänner 2019 die vorgeschriebenen Prämien für 143 Monate. Die Versicherungssteuer betrug für diesen Zeitraum 467,61 EUR.

Nachdem der Kläger im Jahr 2017 durch Medienberichte über Rücktrittsmöglichkeiten bei Lebensversicherungen gehört hatte, kontrollierte er seine eigene Lebensversicherung und stellte fest, dass sie wirtschaftlich nicht sehr erfolgreich gewesen ist. Da er nicht wusste, ob auch bei seinem Vertrag die Rücktrittsmöglichkeit noch bestand, vereinbarte er im Frühsommer 2017 beim Klagevertreter einen Beratungstermin. Im Zuge dessen wurde ihm mitgeteilt, dass ein Rücktritt noch möglich sei. Nach einer Überlegungsphase übersandte der Kläger sein Rücktrittsschreiben aufgrund wirtschaftlicher Überlegungen per E-Mail im Oktober 2017 an die Beklagte. Diese lehnte mit Antwortschreiben vom 27. 10. 2017 den Rücktritt ab, forderte den Kläger aber auf, ein allfälliges Kündigungsschreiben eigenhändig unterfertigt an die Beklagte zu übersenden. Dies tat der Kläger nicht. Der Kläger hätte den Vertrag auch abgeschlossen, wenn er richtig über seine Rücktrittsmöglichkeiten belehrt worden wäre.

Der Kläger begehrt die von ihm gezahlten Prämien (einschließlich Versicherungssteuer) abzüglich der Risikokosten, zuzüglich (teils kapitalisierter) Zinsen sowie Zinseszinsen. Er könne zeitlich unbefristet zurücktreten, weil er nicht korrekt über das Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG belehrt worden sei.

Die Beklagte wandte ein, das Rücktrittsrecht stehe dem Kläger nicht zu, sei verjährt und werde rechtsmissbräuchlich geltend gemacht; die Rücktrittsfrist des § 165a VersVG sei abgelaufen.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren im Umfang von 13.971,11 EUR samt (gestaffelter) Zinsen statt und wies das Mehrbegehren von 561,96 EUR samt „weiterer“ Zinsen ab.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten teilweise Folge. Es bestätigte das Ersturteil im Umfang eines Zuspruchs von 11.612,39 EUR sA. Die Abweisung des Betrags von 561,96 EUR samt weiterer Zinsen war mangels Bekämpfung bereits in Rechtskraft erwachsen. Im Übrigen, sohin in Ansehung eines Zuspruchs von 2.358,72 EUR sA hob es das angefochtene Urteil auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurück. Die Rücktrittsbelehrung habe den Richtlinien zur Lebensversicherung noch § 165a VersVG in der damals maßgeblichen Fassung BGBl I 2006/95 (30-tägige Rücktrittsfrist) nicht entsprochen, weil sie den Beginn der Rücktrittsfrist nicht mit der Verständigung vom Zustandekommen des Vertrags und darüber hinaus eine falsche (kürzere) Frist für den Rücktritt festgelegt habe. Dem Versicherungsnehmer stehe daher ein unbefristetes Rücktrittsrecht zu, das zur bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung des Vertrags führe. Der Rückforderungsanspruch des Klägers sei im Umfang der bezahlten Versicherungsprämien (abzüglich der Versicherungssteuer und der Risikokosten) im Ausmaß eines Zuspruchs von 11.687,39 EUR berechtigt. Hinsichtlich der ebenfalls geltend gemachten Nutzungsentschädigung (Vergütungszinsen; kapitalisierte Zinsen aus den Prämien) sei die Rechtssache noch nicht spruchreif.

Nachträglich änderte das Berufungsgericht seinen Ausspruch zum Teilurteil nach § 500 Abs 2 Z 3 ZPO dahin ab, dass es die ordentliche Revision zu der Frage für zulässig erklärte, ob dem fehlerhaft über sein Rücktrittsrecht belehrten Versicherungsnehmer eines Lebensversicherungsvertrags ein unbefristetes Rücktrittsrecht auch dann zustehe, wenn er bei richtiger Rechtsbelehrung bei Vertragsbeginn keinen Rücktritt von diesem Vertrag erklärt hätte, weil dieser damals seinen Bedürfnissen entsprochen habe.

Gegen das Teilurteil wendet sich die Revision der Beklagten mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Kläger begehrt, die Revision zurück- oder abzuweisen.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.

1.1 Der Kläger erhielt im vorliegenden Fall – nicht mehr strittig – von der Beklagten eine unrichtige Belehrung über die Rücktrittsfrist nach § 165a VersVG. Die Beklagte releviert im Revisionsverfahren ausschließlich, dass dem Kläger sowohl wegen rechtsmissbräuchlicher Geltendmachung als auch wegen des Verbots des venire contra factum proprium kein Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG zustehe, weil er den zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses seinen Bedürfnissen entsprechenden Lebensversicherungsvertrag auch bei richtiger Belehrung abgeschlossen hätte.

1.2 Der Senat hat bereits ausgesprochen, dass – von den Entscheidungen des EuGH 19. 12. 2013, C-209/12, Endress, und 10. 4. 2008, C-412/06, Hamilton, ausgehend – aufgrund einer fehlenden oder fehlerhaften Belehrung über die Dauer des Rücktrittsrechts bei richtlinienkonformer Auslegung des § 165a Abs 2 VersVG dem Versicherungsnehmer ein unbefristetes Rücktrittsrecht zusteht (7 Ob 107/15h = RS0130376; 7 Ob 88/20x).

1.3 In der von der Beklagten herangezogenen Entscheidung des EuGH 19. 12. 2019, C-255/18 bis C-357/18 und C-479/18, Rust-Hackner (ua) wurde diese Rechtsprechung fortgeschrieben und vom EuGH nochmals wie folgt hervorgehoben: Aus den einschlägigen Bestimmungen der genannten Richtlinien geht eindeutig hervor, dass mit ihnen sichergestellt werden soll, dass der Versicherungsnehmer insbesondere über sein Rücktrittsrecht zutreffend belehrt wird (Rn 71). Der Versicherungsnehmer ist nicht nur darüber zu informieren, dass er ein Rücktrittsrecht hat, es müssen ihm auch Informationen über die Modalitäten der Ausübung des Rücktrittsrechts mitgeteilt werden, die eindeutig und detailliert schriftlich abzufassen sind (Rn 70). Der Versicherer kann sich nicht mit Erfolg auf Gründe der Rechtssicherheit berufen, um einer Situation abzuhelfen, die er dadurch selbst herbeigeführt hat, dass er seiner unionsrechtlichen Obliegenheit zur Mitteilung bestimmter Informationen, von denen insbesondere die Information über das Recht des Versicherungsnehmers, vom Vertrag zurückzutreten, gehört, nicht nachgekommen ist (Rn 69).

1.4 Damit ist aber klargestellt, dass eine fehlende oder fehlerhafte Belehrung über das Rücktrittsrecht bewirkt, dass die Frist für die Ausübung dieses Rechts nicht ausgelöst wird. Auf die Frage der Kausalität des Fehlens/der Fehlerhaftigkeit der Belehrung für den Rücktritt kommt es nicht an.

1.5.1 Richtig ist, dass der EuGH in der angeführten Entscheidung weiters ausführte: Nicht jede unrichtige Information über die Form der Erklärung des Rücktritts, die in der Belehrung, die der Versicherungsnehmer vom Versicherer erhält, enthalten ist, ist als fehlerhafte Belehrung anzusehen (R78). Wird dem Versicherungsnehmer durch die Belehrung, auch wenn diese fehlerhaft ist, nicht die Möglichkeit genommen, sein Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben, wäre es unverhältnismäßig, es ihm zu ermöglichen, sich von den Verpflichtungen aus einem im guten Glauben geschlossenen Vertrag zu lösen (Rn 79). In solchen Fällen bliebe es dem über sein Rücktrittsrecht informierten Versicherungsnehmer unbenommen, sein Rücktrittsrecht auszuüben und sich von den eingegangen Verpflichtungen zu lösen (Rn 80).

1.5.2 Soweit sich die Beklagte aber zur Begründung ihres Standpunkts, es komme auf die Kausalität des Fehlens/der Fehlerhaftigkeit der Belehrung für den Rücktritt an, auf diese Ausführungen stützt, übersieht sie, dass diese darauf abstellen, dass nicht jede Fehlerhaftigkeit einer Belehrung dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit nimmt, sein Rücktrittsrecht unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben. Sie beziehen sich somit auf die Beschaffenheit der Fehlerhaftigkeit der Belehrung, treffen aber gerade keine Aussage dahin, dass der Rücktritt nur in dem Fall ausgeübt werden kann, wenn die Fehlerhaftigkeit für ihn auch kausal war.

2.1 Richtig ist, dass zwar in der Rechtsprechung ein widersprüchliches Verhalten (venire contra factum proprium) als Anwendungsfall des Rechtsmissbrauchs anerkannt ist (7 Ob 40/20p).

2.2 Die Beklagte erachtet das Vorgehen des Klägers, seinen Rücktritt zu erklären, um ausschließlich die Rendite zu erhöhen, als rechtsmissbräuchlich. Sie verweist auch hier auf die Ausführungen der Entscheidung des EuGH 19. 12. 2019, C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, Rust-Hackner (ua), wonach bei der Beurteilung der Bedürfnisse des Versicherungsnehmers auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses abzustellen sei und Vorteile, die der Versicherungsnehmer aus einem verspäteten Rücktritt ziehen könnte, außer Betracht zu bleiben hätten.

2.3 Mit ihrer Argumentation übergeht die Beklagte, dass diese Ausführungen zu der die Vergütungszinsen betreffenden Frist ergingen, die aber gerade nicht unmittelbar das Rücktrittsrecht des Versicherungsnehmers berührt (Rn 116). Lediglich im Zusammenhang mit der Beurteilung der Verjährung der Vergütungszinsen ist auf die Bedürfnisse des Versicherungsnehmers zum Zeitpunkt des Abschlusses des Vertrags abzustellen (Rn 120). Der EuGH beschränkt aber in keiner Weise die Ausübung des Rücktrittsrechts in der von der Beklagten gewünschten Richtung.

2.4 Die Entscheidung des Versicherungsnehmers, das ihm infolge fehlerhafter Belehrung zustehende unbefristete Rücktrittsrecht aus wirtschaftlichen Überlegungen auszuüben, erweist sich vor diesem Hintergrund als nicht rechtsmissbräuchlich.

3. Der Revision war der Erfolg zu versagen. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO.

Textnummer

E130183

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0070OB00193.20P.1125.000

Im RIS seit

04.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

19.07.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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