TE Lvwg Erkenntnis 2020/4/29 VGW-151/082/4451/2020

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Veröffentlicht am 29.04.2020
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Entscheidungsdatum

29.04.2020

Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht
40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

NAG 2005 §9 Abs1 Z2
NAG 2005 §54
AVG §69 Abs1 Z1
AVG §69 Abs3

Text

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Verwaltungsgericht Wien hat durch den Richter Dr. Trefil über die Beschwerde des A. B., vertreten durch Rechtsanwälte, vom 19.3.2020 gegen den Bescheid des Landeshauptmanns von Wien, Magistratsabteilung 35, vom 24.2.2020, Zl. MA35-..., mit dem das Verfahren über den Antrag vom 17.6.2016 auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 in Verbindung mit Abs. 3 des Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetzes - AVG, BGBl. Nr. 51/1991, von Amts wegen wieder aufgenommen, in den Stand vor Ausstellung der Aufenthaltskarte am 25.7.2016 rückversetzt und der Antrag gemäß § 54 Abs. 1 und 7 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes - NAG, BGBl. I Nr. 100/2005, mit der Feststellung des fehlenden Anwendungsbereichs des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts zurückgewiesen wurde,

zu Recht erkannt:

I. Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG wird der Beschwerde Folge gegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos behoben.

II. Gemäß § 25a VwGG ist gegen dieses Erkenntnis eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nicht zulässig.

Entscheidungsgründe

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 24.2.2020 verfügte die belangte Behörde die amtswegige Wiederaufnahme des "rechtskräftig abgeschlossenen" Verfahrens des Beschwerdeführers betreffend seinen Antrag vom 17.6.2016 auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte gemäß § 54 Abs. 1 NAG (unter Berufung auf die am 14.5.2016 in C. geschlossene Ehe mit der am ...1986 geborenen rumänischen Staatsangehörigen D. E.) und versetzte es in den Stand vor Ausstellung der Aufenthaltskarte am 25.7.2016 zurück (Spruchpunkt I). Gemäß § 54 Abs. 7 NAG wies sie den genannten Antrag vom 17.6.2016 zurück und stellte gleichzeitig den fehlenden Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts für den Beschwerdeführer fest (Spruchpunkt II).

Nach der Bescheidbegründung war der Grund für die Wiederaufnahme und Antragszurückweisung samt Feststellung des fehlenden unionsrechtlichen Anwendungsbereichs eine von der belangten Behörde als erwiesen angenommene Aufenthaltsehe. Der Beschwerdeführer habe unter Vorspiegelung eines aufrechten Ehelebens mit der rumänischen Staatsangehörigen D. E. die Aufenthaltskarte erschlichen und die Behörden bewusst in die Irre geführt, wobei die Eheschließung und die Ehe der entscheidungserhebliche Umstand für die Ausstellung der Aufenthaltskarte gewesen sei.

Eine Nichtigerklärung der Ausstellung dieser Aufenthaltskarte durch den Bundesminister für Inneres in Ausübung seines Aufsichtsrechtes ist nicht erfolgt.

Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer erhob fristgerecht die vorliegende Beschwerde vom 19.3.2020, in der das Vorliegen einer Aufenthaltsehe in näherer Auseinandersetzung mit der Bescheidbegründung bestritten und die Aufhebung des angefochtenen Bescheids, in eventu die Zurückverweisung an die erste Instanz beantragt wurde.

Das Verwaltungsgericht Wien hat erwogen:

Gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 AVG ist dem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Bescheid abgeschlossenen Verfahrens stattzugeben, wenn ein Rechtsmittel gegen den Bescheid nicht oder nicht mehr zulässig ist und der Bescheid (unter anderem) sonstwie erschlichen worden ist. Unter den Voraussetzungen des genannten Abs. 1 kann die Wiederaufnahme des Verfahrens auch von Amts wegen verfügt werden (§ 69 Abs. 3 AVG).

§ 3 NAG regelt ausweislich seiner Überschrift sachliche Zuständigkeiten von Behörden und bestimmt in seinem Abs. 5, dass der Bundesminister für Inneres die Erteilung eines Aufenthaltstitels (§ 8 NAG) und die Ausstellung einer Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthalts- und Niederlassungsrechts (§ 9 NAG) in Ausübung seines Aufsichtsrechtes nach § 68 Abs. 4 Z 4 AVG (unter näher genannten inhaltlichen und zeitlichen Voraussetzungen) mit Bescheid als nichtig erklären kann.

Das Verwaltungsgericht Wien hat in früheren Entscheidungen (jeweils unter Zulassung der ordentlichen Revision) die Rechtsansicht vertreten, dass eine Wiederaufnahme von Amts wegen gemäß § 69 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 1 AVG ein durch Bescheid abgeschlossenes Verfahren erfordert. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt, wenn kein (konstitutiver) Aufenthaltstitel in Bescheidform erteilt wird (vgl. § 8 NAG), sondern eine (deklarative) Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts etwa als Ehegatte einer unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgerin in Form einer Aufenthaltskarte ohne Bescheidcharakter (§ 9 Abs. 1 Z 2 in Verbindung mit § 54 NAG). Eine Wiederaufnahme gemäß § 69 AVG (eines nicht mit Bescheid, sondern mit der Ausfolgung einer Aufenthaltskarte abgeschlossenen Dokumentationsverfahrens über das Bestehen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts) kommt demnach nicht in Betracht (VGW 16.8.2016, VGW-151/082/7199/2015-2; und VGW 22.10.2018, VGW-151/?082/11814/?2018-1; ebenso VGW 11.2.2019, VGW-151/?064/?11360/?2018-11).

Auch unter Berücksichtigung der seither ergangenen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs sieht sich das Verwaltungsgericht Wien nicht veranlasst, von seiner bisherigen Rechtsprechung abzugehen (zuletzt VGW 27.2.2020, VGW-151/?082/?14259/2019-16; und VGW 28.2.2020, VGW-151/?082/?2443/2020-1).

In rechtlicher Hinsicht kommt eine Wiederaufnahme des abgeschlossenen Verfahrens des Beschwerdeführers zur Erteilung einer Aufenthaltskarte aufgrund seines Antrags vom 17.6.2016 und Ausfolgung der Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts am 25.7.2016 im Hinblick auf § 69 Abs. 1 AVG mangels Bescheidcharakters nicht in Betracht (arg. "… eines durch Bescheid abgeschlossenen Verfahrens …"). Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts Wien legt die neueste Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs die Zulässigkeit einer Wiederaufnahme nach dieser Bestimmung in diesen Fällen nicht nahe, auch im Hinblick auf die zu beachtenden Bestands- und Rechtswirkungen einer einmal ausgestellten Aufenthaltskarte unter dem Aspekt der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts (VwGH 16.5.2019, Ro 2019/?21/?0004, Rz. 10 f; sowie VwGH 19.9.2019, Ro 2019/21/0011, Rz. 9). Im Fall einer wesentlichen Sachverhaltsänderung bedarf es auch keiner Wiederaufnahme, um den Fortbestand der Voraussetzungen des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts im Sinne des § 55 Abs. 2 NAG einer behördlichen Prüfung zu unterziehen (abermals VwGH 16.5.2019, Ro 2019/?21/?0004, Rz. 12; und VwGH 26.6.2019, Ra 2019/?21/0080, Rz. 12; jeweils mit Verweis auf VwGH 18.6.2013, 2012/18/0005, VwSlg 18646 A/2013; sowie zuletzt VwGH 23.1.2020, Ra 2019/21/0384, Rz. 11 f).

Nach dem genannten Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 16.5.2019, Ro 2019/?21/?0004, ist davon auszugehen, dass eine Aufenthaltskarte (zunächst) - unabhängig vom Bestand eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts - einen rechtmäßigen Aufenthalt im Sinne des § 31 Abs. 1 Z 2 FPG vermittelt, was dann bei Fehlen eines Bescheides nach § 3 Abs. 5 NAG ohne Vorliegen einer wesentlichen Sachverhaltsänderung einer Vorgangsweise nach § 66 Abs. 1 FPG in Verbindung mit § 55 Abs. 3 NAG entgegensteht (Rz. 12). Diesem Revisionsverfahren lag zu Grunde, dass die offenbar irrtümlich erteilte Aufenthaltskarte im Wege einer Ausweisung des BFA anstelle eines dafür etwa in Betracht zu ziehenden Vorgehens gemäß § 3 Abs. 5 NAG beseitigt werden sollte. Letztlich liefe dies darauf hinaus, dass derselbe unverändert gebliebene Sachverhalt einmal die Ausstellung der Aufenthaltskarte und andermal eine Aufenthaltsbeendigung begründet hätte.

Hingegen stellt das Eingehen einer Aufenthaltsehe und das Erschleichen eines Aufenthaltsrechts durch bewusst unrichtige und täuschende Angaben gegenüber Behörden von wesentlicher Bedeutung mit Irreführungsabsicht ein Verhalten dar, von dem unzweifelhaft eine Gefährdung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ausgeht (VwGH 17.6.2019, Ra 2019/?22/?0096, Rz. 9; und VwGH 26.6.2019, Ra 2019/?21/?0016, Rz. 20). Es ist also ein wesentlich geänderter Sachverhalt hinsichtlich des bisherigen Aufenthalts und des zukünftigen Verbleibs des Inhabers der auf diese Weise erlangten Aufenthaltskarte unter dem Aspekt der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit zu beurteilen (§ 55 Abs. 3 NAG). Die Erlassung einer Ausweisung wegen Vorliegens einer Aufenthalts- oder Scheinehe gegen einen drittstaatszugehörigen Angehörigen eines "freizügigkeitsberechtigten" EWR-Bürgers gemäß § 66 Abs. 1 FPG in Verbindung mit § 55 Abs. 3 NAG ist aber jedenfalls zulässig (abermals VwGH 23.1.2020, Ra 2019/?21/?0384, insbesondere Rz. 12). Die ehemals unter anderen Prämissen erteilte Aufenthaltskarte steht einer Beurteilung dieses verpönten anderen Sachverhalts und einem Vorgehen nach § 66 Abs. 1 FPG in Verbindung mit § 55 Abs. 3 NAG nicht entgegen. Auf eine vorangegangene Nichtigerklärung etwa gemäß § 3 Abs. 5 NAG kommt es dann aber nicht an.

Im Ergebnis nahm die belangte Behörde eine Entscheidungskompetenz in Anspruch, die ihr nicht zukam und die der Erlassung des angefochtenen Bescheids entgegenstand (Hengstschläger/Leeb, Kommentar zum AVG, § 28 VwGVG (15.2.2017, rdb.at) Rz. 74 f).

Der angefochtene Bescheid ist daher ersatzlos zu beheben.

Die vom Beschwerdeführer beantragte Verhandlung konnte gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG entfallen, weil bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist.

Die ordentliche Revision ist nicht zulässig, weil die vorliegende Konstellation der amtswegigen Wiederaufnahme eines mit Ausstellung einer Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts beendeten Dokumentationsverfahrens in der verwiesenen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs hinreichend geklärt erscheint, ohne grundsätzliche Rechtsfragen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG aufzuwerfen.

Schlagworte

Wiederaufnahme des Verfahrens; Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts; Aufenthaltskarte; Bescheidcharakter; Aufenthaltsehe;

Anmerkung

VwGH v. 19.5.2021, Ra 2020/22/0133; Aufhebung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:LVWGWI:2020:VGW.151.082.4451.2020

Zuletzt aktualisiert am

10.06.2021
Quelle: Landesverwaltungsgericht Wien LVwg Wien, http://www.verwaltungsgericht.wien.gv.at
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