TE Vwgh Erkenntnis 2020/11/26 Ra 2020/21/0070

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Veröffentlicht am 26.11.2020
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AVG §37
AVG §45 Abs3
BFA-VG 2014 §22a Abs4
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §17

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des A S (alias O S) in W, vertreten durch Mag. Erhard Donhoffer, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Ungargasse 4/11, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Jänner 2020, W140 2224161-2/2E, betreffend Schubhaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Über den Revisionswerber, einen marokkanischen Staatsangehörigen, wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 27. September 2019 gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft zum Zweck der Sicherung der Abschiebung angeordnet. Der Bescheid wurde am 1. Oktober 2019 im Anschluss an die Entlassung des Revisionswerbers aus der Strafhaft in Vollzug gesetzt.

2        Die gegen den genannten Bescheid und die darauf gegründete Anhaltung in Schubhaft erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit mündlich verkündetem Erkenntnis vom 14. Oktober 2019 (schriftliche Ausfertigung am 9. Dezember 2019) als unbegründet ab. Gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG stellte es fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die Voraussetzungen für die weitere Anhaltung in Schubhaft vorlägen.

3        Mit Schriftsatz vom 21. Jänner 2020 übermittelte das BFA dem Bundesverwaltungsgericht die Verwaltungsakten zum Zweck der Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Anhaltung gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG. In seiner Stellungnahme führte das BFA nach Darstellung der Gründe für einen (weiterhin bestehenden) Sicherungsbedarf aus, dass „unmittelbar nach Rechtskraft“ im (zweiten) Asylverfahren des Revisionswerbers die notwendigen Schritte zur Erlangung eines Heimreisezertifikats gesetzt worden seien. Es seien „wiederholt und bis dato fortlaufend“ Urgenzen in diesem Verfahren erfolgt. Eine Beschleunigung des Verfahrens und eine damit verbundene Verkürzung der Anhaltedauer sei „auch in der Person [des Revisionswerbers] gelegen“, indem er bei der Erlangung eines Ersatzreisedokuments mitwirke bzw. selbständig Schritte „zur Erlangung solcher“ setzen könne.

4        Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 27. Jänner 2020 stellte das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen und die Aufrechterhaltung der Schubhaft verhältnismäßig sei.

5        Zur Begründung gab das Bundesverwaltungsgericht zunächst den größten Teil der schriftlichen Ausfertigung des Erkenntnisses vom 14. Oktober 2019 sowie die Stellungnahme des BFA vom 21. Jänner 2020 wörtlich wieder. Es traf sodann folgende „Feststellungen“:

„Der angeführte Verfahrensgang sowie die zitierten Entscheidungsgründe des Vorerkenntnisses werden übernommen und zu Feststellungen in der gegenständlichen Entscheidung erhoben; ebenso die von der Verwaltungsbehörde in ihrer Stellungnahme anlässlich der Aktenvorlage angeführten Ausführungen u.a. betreffend Bemühungen zur Erlangung eines Heimreisezertifikates.

Auf der Tatsacheneben liegt keine Änderung - die Fluchtgefahr betreffend - vor.

Der [Revisionswerber] ist haftfähig, es sind keine Umstände hervorgekommen, dass die weitere Inschubhaftnahme unverhältnismäßig wäre.“

6        In der „Beweiswürdigung“ führte das Bundesverwaltungsgericht aus, die Entscheidungsgründe des Vorerkenntnisses würden der gegenständlichen Entscheidung zugrunde gelegt. Das Bundesverwaltungsgericht hätte sich nach Durchführung einer Verhandlung umfassend mit dem damaligen Beschwerdevorbringen auseinandergesetzt. Daher habe auf Grund des vorgelegten Aktes, des Verfahrensgangs und der Beschwerde von der Anberaumung einer mündlichen Verhandlung wegen geklärten Sachverhalts abgesehen werden können. Im Besonderen sei hervorzuheben, dass die Behörde dargetan habe, dass sie sich im vorliegenden Fall um die Ausstellung eines Heimreisezertifikats bemühe. Eine Person, die den Aliasdaten des Revisionswerbers zugeordnet werden könne, sei durch Interpol Rabat identifiziert worden. „Nach den Erfahrungswerten“ sei davon auszugehen, dass ein Heimreisezertifikat von der marokkanischen Botschaft erlangt werden könne.

7        In seiner rechtlichen Beurteilung folgerte das Bundesverwaltungsgericht sodann, dass die getroffenen Feststellungen und ihre rechtliche Würdigung „im Hinblick auf ihre Aktualität und ihres Zukunftsbezuges keine - die Frage der Rechtmäßigkeit der weiteren Anhaltung in Schubhaft - ändernden Umstände erkennen“ ließen.

8        Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene außerordentliche Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - erwogen:

9        Der Revisionswerber macht unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG - gerade noch als „gesonderte“ Darlegung im Sinn des § 28 Abs. 3 VwGG erkennbar - geltend, dass das Bundesverwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen sei, indem es zu der aus Anlass der Aktenvorlage erstatteten Stellungnahme des BFA kein Parteiengehör eingeräumt habe. Wäre Parteiengehör gewährt worden, so hätte der Revisionswerber zu den (vom Bundesverwaltungsgericht so bezeichneten) „Bemühungen der Behörde“, ein Heimreisezertfikat zu erlangen, vorbringen können, dass er seit April 2019 nicht einmal der marokkanischen Botschaft vorgeführt worden sei. Das BFA habe bisher nicht beweisen können, dass mit der Ausstellung eines Heimreisezertifikats innerhalb der zulässigen Schubhafthöchstdauer gerechnet werden könne. Am 24. April 2019, am 30. September 2019 und am 9. Oktober 2019 seien Einzelurgenzen bei der marokkanischen Botschaft erfolgt; ob seither Urgenzen erfolgt seien, habe das Bundesverwaltungsgericht nicht ermittelt. Dass die marokkanische Botschaft nunmehr in absehbarer Zeit ein Heimreisezertifikat ausstellen würde, stelle sich als höchst spekulativ dar, habe die Botschaft doch in einem Zeitraum von zwölf Monaten weder auf schriftliche noch auf persönliche Urgenzen reagiert, obwohl seit Beantragung des Heimreisezertifikats die notwendigen Unterlagen (Fotos, Fingerabdruckblätter, Formblätter) vorlägen. Es sprächen auch weitere Indizien - insbesondere die Erfahrungen der ARGE Rechtsberatung in weiteren Fällen - dafür, dass die marokkanische Botschaft seit einiger Zeit generell nicht mehr mit dem BFA zu kooperieren scheine. Im Vergleich zu anderen Staaten sei die durchschnittliche Schubhaftdauer marokkanischer Staatsangehöriger sehr lang.

10       Die Revision ist zulässig und berechtigt.

11       Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits klargestellt, dass die im Verfahren nach § 22a Abs. 4 BFA-VG vom BFA zu erstattende Stellungnahme dem Parteiengehör zu unterziehen ist (vgl. VwGH 27.8.2020, Ro 2020/21/0010, Rn. 9). Das kann (zunächst) schriftlich oder im Rahmen einer mündlichen Verhandlung erfolgen. Jedenfalls ist dem in Schubhaft angehaltenen Fremden, für den mit der Aktenvorlage durch das BFA gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG die Beschwerde als eingebracht gilt, Gelegenheit zu geben, sich zu der Stellungnahme und zum maßgeblichen Sachverhalt zu äußern.

12       Dass das Bundesverwaltungsgericht das unterlassen hat, stellt einen Verfahrensfehler dar, der - wie der Revisionswerber dargelegt hat - auch (potentiell) relevant für den Ausgang des Verfahrens war.

13       Aber auch abgesehen davon war die Begründung des Bundesverwaltungsgerichts für die Bejahung einer rechtzeitigen Erlangbarkeit des Heimreisezertifikats unzureichend. Gerade diese Frage ist bei länger andauernden Schubhaften, die gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG überprüft werden, typischerweise entscheidend für die (weitere) Verhältnismäßigkeit der Anhaltung, was entsprechende Ermittlungen und eine fundierte Auseinandersetzung mit den erlangten Ergebnissen erfordert. Bloße Bemühungen der Behörde genügen für die Annahme einer rechtzeitigen Erlangbarkeit des Heimreisezertifikats nicht, sie müssen vielmehr zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erfolgversprechend sein (wobei für den zu verlangenden Wahrscheinlichkeitsgrad auch die bisherige Dauer der Schubhaft und die Schwere der Gründe für ihre Verhängung und Aufrechterhaltung eine Rolle spielen können). Bisherige „Erfahrungswerte“ - wie vom Bundesverwaltungsgericht ins Treffen geführt - können wesentliche Anhaltspunkte für die vorzunehmende Beurteilung bieten; das setzt aber voraus, dass diese Erfahrungswerte nachvollziehbar festgestellt und nicht nur - wie hier - ohne jede Konkretisierung behauptet werden.

14       Das angefochtene Erkenntnis war aus den dargestellten Gründen gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

15       Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 26. November 2020

Schlagworte

Begründung Begründungsmangel Besondere Rechtsgebiete Parteiengehör Parteiengehör Erhebungen Ermittlungsverfahren Parteiengehör Verletzung des Parteiengehörs Verfahrensmangel

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020210070.L00

Im RIS seit

11.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

11.01.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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