Index
L1 GemeinderechtNorm
B-VG Art18 Abs2Leitsatz
Aufhebung einer Verordnung einer Gemeinde über Hand- und Zugdienste aufgrund der Verpflichtung des Haushaltsvorstands zu bestimmten Dienstleistungen ohne Einräumung einer Wahlmöglichkeit hinsichtlich der Namhaftmachung eines Vertreters oder der Leistung eines Ersatzbetrages wegen Widerspruchs zur GemeindeordnungSpruch
I. Die Verordnung des Gemeindevorstands der Gemeinde Bürserberg über die Vorschreibung von Hand- und Zugdiensten vom 25. November 1993 wird als gesetzwidrig aufgehoben.
II. Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 29. Februar 1996 in Kraft.
III. Die Vorarlberger Landesregierung ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Landesgesetzblatt verpflichtet.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1.1.1. Der Landesvolksanwalt von Vorarlberg stellte gemäß Art139 B-VG iVm Art148 i Abs2 B-VG und Art58 Abs2 der Vorarlberger Landesverfassung LGBl. 30/1984 den Antrag, der Verfassungsgerichtshof möge "die Verordnung des Gemeindevorstands der Gemeinde Bürserberg über Hand- und Zugdienste der Gemeinde Bürserberg vom 25. November 1993 ... zur Gänze ... wegen Gesetzwidrigkeit" aufheben.
1.1.2. Der Gemeindevorstand der Gemeinde Bürserberg und die Vorarlberger Landesregierung wurden zur Äußerung zu diesem Antrag eingeladen: Der Gemeindevorstand trat dem Antrag des Landesvolksanwalts entgegen, die Landesregierung gab keine Stellungnahme ab.
1.2.1. Die gemäß §91 der Vorarlberger Gemeindeordnung (GemO), LGBl. 25/1935 idFd ArtII LGBl. 35/1985, erlassene Verordnung des Gemeindevorstands der Gemeinde Bürserberg vom 25. November 1993 hat folgenden Wortlaut:
"§1
Die Gemeinde Bürserberg macht von der den Gemeinden gemäß §91 der Gemeindeordnung, LGBl. Nr. 25/1935 idgF Nr. 35/1985, eingeräumten Berechtigung, für Gemeindeerfordernisse Hand- und Zugdienste zu verlangen, Gebrauch.
§2
Zur Leistung der unter §1 dieser Verordnung genannten Dienste ist jeder Haushaltsvorstand verpflichtet. Haushaltsvorstand ist jenes Haushaltsmitglied, welches in der Regel am meisten zum Haushaltseinkommen beiträgt. Tragen mehrere Haushaltsmitglieder in ungefähr gleichem Umfang zum Haushaltseinkommen bei, so gilt das älteste männliche Mitglied unter ihnen als Haushaltsvorstand. Bei Nichtvorhandensein von männlichen Haushaltsmitgliedern tritt an dessen Stelle das älteste weibliche Haushaltsmitglied.
§3
Umfaßt ein ganzjährig bestehender Haushalt nur eine Person, so ist der Haushaltsvorstand zur Leistung von Diensten im Ausmaß von einer Tagschicht zu je 8 Stunden jährlich verpflichtet. Besteht der Haushalt aus mehr als einer Person, beträgt das jährliche Ausmaß des Dienstes zwei Tagschichten zu je 8 Stunden (= 16 Stunden).
§4
Der Haushaltsvorstand kann zur Verrichtung von Arbeiten, welche im besonderen Interesse der Gemeinde Bürserberg gelegen sind, insbesondere zur Errichtung, Instandhaltung und Erhaltung von Straßen und Brücken, von Wasserversorgungs- und Kanalanlagen der Gemeinde Bürserberg sowie zur Beseitigung der Folgen von Elementarereignissen und Schneeschaufeldiensten herangezogen werden.
§5
Die auferlegten Dienste sind vom Haushaltsvorstand nach besten Kräften und Fähigkeiten persönlich oder durch einen tauglichen Vertreter zu leisten.
§6
Die Gemeinde Bürserberg hat die Leistung der zu erbringenden Hand- und Zugdienste durch eine geeignete Person beaufsichtigen zu lassen. Diese Aufsichtsperson ist verpflichtet, genaue Aufzeichnungen über Art, Umfang, Zeit und Ort der geleisteten Arbeiten zu führen. Bei Durchführung der zu leistenden Hand- und Zugdienste ist den Anweisungen des Aufsichtsorganes Folge zu leisten.
§7
Der Haushaltsvorstand ist berechtigt, sich durch Bezahlung eines gemäß §8 dieser Verordnung zu berechnenden Ersatzbetrages in die Gemeindekasse von der Verpflichtung zur persönlichen bzw. durch einen tauglichen Vertreter zu erbringenden Leistung der Hand(-) und Zugdienste zu befreien.
§8
Für jede zu leistende Arbeitsstunde wird ein Ersatzbetrag von S 75,-- festgesetzt.
§9
Die Gemeinde Bürserberg hat dem Leistungspflichtigen durch Bescheid Art, Umfang und Zeitpunkt des zu leistenden Dienstes vorzuschreiben sowie den wahlweise zu bezahlenden Ersatzbetrag ziffernmäßig festzusetzen.
§10
Diese Verordnung tritt am 1.1.1994 in Kraft. Durch Inkrafttreten dieser Verordnung tritt die Verordnung vom 2.12.1991, Zl. 920-13V/91 außer Kraft."
1.2.2. §91 Vorarlberger Gemeindeordnung (GemO), LGBl. 25/1935 idFd ArtII LGBl. 35/1985, lautet:
"§91
Die Gemeinde kann für Gemeindeerfordernisse Arbeiten und Dienste verlangen. Die Dienste können in Hand- und Zugdiensten bestehen; sie sind in Geld nach den ortsüblichen Preisen abzuschätzen. Besteht in einer Gemeinde eine besondere gültige Übung hinsichtlich der Verteilung und des Ausmaßes solcher Dienste, kann die Gemeinde diese Dienste nach dieser Übung weiterhin verlangen. Wenn eine solche besondere gültige Übung nicht besteht oder wenn die Gemeinde davon keinen Gebrauch machen will, so kann sie den Haushaltungsvorstand zur Leistung von Handdiensten im Ausmaße von höchstens 3 Tagschichten jährlich heranziehen. Ob die Dienste durch den Verpflichteten selbst oder durch einen tauglichen Vertreter geleistet werden, oder ob statt dessen der geschätzte Betrag in die Gemeindekassa bezahlt wird, bestimmt der Verpflichtete."
2. Über den Antrag des Landesvolksanwalts wurde erwogen:
2.1. Die vom Landesvolksanwalt geäußerten Bedenken gründen darauf, daß die bekämpfte Verordnung auf die "natürlichermaßen abnehmende physische Leistungsfähigkeit der Verpflichteten keinerlei Bedacht (nehme) und die Verpflichtung zur Frondienstleistung ohne Altersbegrenzung (normiere)." Ausgehend vom (in der Judikatur des Verfassungsgerichtshofs iZm Hand- und Zugdiensten entwickelten) Grundsatz der "persönlichen Erbringbarkeit" dürften aber keine Dienste verlangt werden, deren Umfang oder Art es ausschließen, daß sie der Verpflichtete persönlich erbringen kann, weil ansonsten das (volle) gesetzliche Wahlrecht zwischen persönlicher Leistungserbringung, Bestellung eines Vertreters oder Leistung des Abschätzbetrags nicht gewährleistet sei, sondern nur mehr zwischen den beiden letztgenannten Komponenten. Die Fehlerhaftigkeit der Verordnung liege letztlich im Mangel der Statuierung einer Befreiungsbestimmung.
2.2. Der antragstellende Volksanwalt ist damit im Recht: Nach §91 letzter Satz GemO bestimmt der Verpflichtete, ob die von der Gemeinde für Gemeindeerfordernisse verlangten Arbeiten und Dienste (1. Satz des §91 GemO), die in Hand- und Zugdiensten bestehen können (2. Satz, 1. Halbsatz des §91 GemO), von ihm selbst oder durch einen tauglichen Vertreter geleistet werden oder ob statt dessen ein Abschätzbetrag in die Gemeindekassa bezahlt wird. Die zitierte Norm setzt - verfassungskonform interpretiert - voraus, daß nur solche Dienstleistungen vorgeschrieben werden dürfen, die der Verpflichtete auch selbst erbringen kann (VfSlg. 13185/1992 mwN). Die angefochtene Verordnung enthält nun - wie auch der verordnungserlassende Gemeindevorstand in seiner Äußerung einräumt - für einen zur vorgeschriebenen Dienstleistung unfähig(en)(gewordenen) Haushaltsvorstand keinerlei Ausnahmeregelung. Damit ist ein solcher Haushaltsvorstand aber zur Leistung des Ersatzbetrags oder zur Namhaftmachung eines tauglichen Vertreters verpflichtet, ohne daß ihm die gesetzlich eingeräumte (umfassende) Wahlmöglichkeit (§91 letzter Satz GemO) zustünde. Daran vermag auch nichts zu ändern, daß - wie es in der Äußerung des Gemeindevorstands heißt -, "in Bürserberg auf die physische Leistungsfähigkeit der verpflichteten Personen in einem weiten Rahmen Rücksicht genommen" werde und es kaum der Fall sei, daß "eine Person bis ins hohe Alter Haushaltsvorstand" bleibe.
2.3. Allein schon aus diesen Gründen war die Verordnung des Gemeindevorstands der Gemeinde Bürserberg vom 25. November 1993, die angesichts der inhaltlichen Interdependenz ihrer Bestimmungen als untrennbare Einheit zu werten ist, in Stattgebung des Antrags des Landesvolksanwalts wegen Gesetzwidrigkeit zur Gänze aufzuheben (Pkt. I. des Spruchs).
Die das Inkrafttreten der Normaufhebung und die Kundmachungspflicht verfügenden Aussprüche (Pkt. II. u. III.) beruhen auf Art139 Abs5 B-VG.
2.4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung ergehen.
Schlagworte
Gemeinderecht, Hand- und Zugdienste, Zwangsarbeit, HaushaltsvorstandEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1995:V40.1995Dokumentnummer
JFT_10048998_95V00040_00