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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §57 Abs1 Z2Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision der V K, vertreten durch Dr. Martin Benning, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Reichsratsstraße 5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. Jänner 2020, G310 2210709-1/4E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Revisionswerberin, eine Staatsangehörige des Kosovo, stellte am 23. April 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Dazu brachte sie im Wesentlichen vor, Opfer von Menschenhandel geworden sowie zur Prostitution gezwungen worden zu sein.
2 Mit Bescheid vom 5. November 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status einer Asylberechtigten als auch einer subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkte I. und II.) und erteilte der Revisionswerberin gemäß § 57 Abs. 1 Z 2 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ (Spruchpunkt III.).
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - die gegen Spruchpunkte I. und II. erhobene Beschwerde als unbegründet ab (Spruchpunkt A) und sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei (Spruchpunkt B).
4 Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, dass die Revisionswerberin bei einer Rückkehr in den Kosovo keine Sanktionen zu befürchten hätte. Sie würde dort weder strafrechtlich noch politisch verfolgt. Ebenso wenig sei zu erwarten, dass die Revisionswerberin im Falle der Rückkehr in den Kosovo in eine unmenschliche oder erniedrigende Lage geraten würde. Hinsichtlich der unterbliebenen mündlichen Verhandlung gab das BVwG an, dass gegenständlich ein eindeutiger Fall vorliege und der Sachverhalt aus der Aktenlage sowie dem Beschwerdevorbringen klar sei. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung sei keine weitere Klärung der Rechtssache zu erwarten gewesen, zumal ohnehin von der Richtigkeit der in der Beschwerde aufgestellten Tatsachenbehauptungen ausgegangen werde.
5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit zusammengefasst geltend macht, dass das BVwG zu Unrecht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen habe, obwohl die Revisionswerberin die Beweiswürdigung des BFA konkret und substantiiert in der Beschwerde bekämpft habe.
6 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
7 Die Revision ist zulässig und begründet.
8 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 21 Abs. 7 BFA-VG unterbleiben kann, folgende Kriterien beachtlich:
9 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017, 0018, sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 10.9.2020, Ra 2019/18/0438, mwN).
10 Wie in der Revision zutreffend aufgezeigt wird, ist die Revisionswerberin der Beweiswürdigung des BFA in ihrer Beschwerde mit dem Vorbringen, wonach Feststellungen zu den Schutzmöglichkeiten vor Racheakten der durch die Aussagen der Revisionswerberin verhafteten Täter fehlen würden, sowie dass ihr „Retrafficking“ drohe, substantiiert entgegengetreten. Schon damit waren aber die in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes aufgestellten Kriterien für den Entfall einer mündlichen Verhandlung im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Auch bemängelt die Revision zu Recht die fehlende Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des Gesundheitszustandes der Revisionswerberin, die nach den eigenen Feststellungen des BVwG an paranoider Schizophrenie und an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet.
11 Das BVwG hätte somit nicht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung absehen dürfen.
12 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
13 Die Kostenentscheidung gründet auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 3. Dezember 2020
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020180138.L00Im RIS seit
11.01.2021Zuletzt aktualisiert am
11.01.2021