Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann, den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Pflegschaftssache des ***** 2003 geborenen M*****, vertreten durch das Land Niederösterreich als Kinder- und Jugendhilfeträger (Bezirkshauptmannschaft Korneuburg, 2100 Korneuburg, Bankmannring 5), über den Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts Korneuburg als Rekursgericht vom 14. Jänner 2020, GZ 20 R 232/19m-49, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Korneuburg vom 23. Oktober 2019, GZ 1 Pu 130/14a-42, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie ersatzlos aufgehoben werden.
Text
Begründung:
[1] Der ***** 2003 geborene Minderjährige ist der Sohn der am 10. 10. 2010 verstorbenen Y***** und des D*****. Im Jahr 2014 wurde die Obsorge den mütterlichen Großeltern übertragen, bei denen der Minderjährige lebt.
[2] Mit Beschluss des Erstgerichts vom 9. 8. 2019 wurde der Vater zu monatlichen Unterhaltsleistungen von 480 EUR für den Zeitraum von 1. 6. 2018 bis 31. 12. 2018 und von 500 EUR ab 1. 1. 2019, längstens bis zur Selbsterhaltungsfähigkeit des Kindes, verpflichtet. Mit Beschluss vom 15. 10. 2019 erhöhte das Erstgericht die gemäß §§ 3, 4 Abs 1 UVG gewährten Unterhaltsvorschüsse ab 1. 12. 2018 auf die sich aus dem Beschluss vom 9. 8. 2019 ergebende Titelhöhe.
[3] Am 17. 10. 2019 teilte der Kinder- und Jugendhilfeträger dem Erstgericht mit, dass das Kind seit 1. 1. 2019 eine Waisenpension beziehe.
[4] Das Erstgericht setzte darauf die für den Monat Dezember 2018 gewährten Unterhaltsvorschüsse auf 380 EUR und die ab 1. 1. 2019 gewährten Vorschüsse auf monatlich 400 EUR herab.
[5] Es legte seiner Entscheidung zugrunde, dass das Kind im Dezember 2018 eine Waisenpension von netto rund 210 EUR (einschließlich Sonderzahlungen) bezogen habe; ab 1. 1. 2019 betrage deren Höhe netto rund 215 EUR monatlich.
[6] Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Bundes nicht Folge. Es ließ den Revisionsrekurs nachträglich zu, weil fraglich sei, ob in einem Fall, in dem die Mutter verstorben sei, die Obsorge den mütterlichen Großeltern zukomme und der Vater geldunterhaltspflichtig sei, das Erstgericht die herangezogene Berechnungsmethode hätte anwenden dürfen.
[7] Rechtlich führte es aus, die mit der Obsorge betrauten Großeltern erfüllten die sie „daraus“ treffenden Verpflichtungen durch die Leistung von Naturalunterhalt. Der Vater sei geldunterhaltspflichtig. Da überdurchschnittliche Lebensverhältnisse vorlägen, sei die Unterhaltspflicht derart zu ermitteln, dass jene Quote, die sich aus der Geldunterhaltshöhe im Verhältnis zu dieser zuzüglich der Differenz zwischen Mindestpension und Regelbedarf ergebe, vom Kindeseinkommen abzuziehen sei („Richtwertformel“).
[8] Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs des Bundes, mit dem erkennbar die ersatzlose Behebung der Beschlüsse der Vorinstanzen angestrebt wird.
[9] Eine Rechtsmittelbeantwortung wurde nicht erstattet.
[10] Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil die Vorinstanzen eine Berechnungsmethode herangezogen haben, die von der Rechtsprechung für den – hier nicht gegebenen – Fall erarbeitet wurde, dass ein Elternteil geldunterhaltspflichtig ist und der andere Teil seinen Anteil durch Betreuungsleistungen erbringt. Er ist auch berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
[11] 1. Vorauszuschicken ist, dass das Rekursgericht zutreffend die Beschwer des Bundes bejahte, weil es durch die rückwirkende Herabsetzung der Titelvorschüsse zu einer Beschränkung der Rückersatzmöglichkeiten des Bundes – nach §§ 22 und 23 UVG anstelle von § 26 UVG – kommt (10 Ob 71/09b; 10 Ob 27/10h; RS0125542; Neumayr in Schwimann/Kodek, ABGB-Praxiskommentar5 § 15 Rz 20).
[12] 2. Der Oberste Gerichtshof hat den Einfluss eigener Einkünfte des Kindes auf Titelvorschüsse (§§ 3, 4 Z 1 UVG) bereits in der Entscheidung des verstärkten Senats 1 Ob 560/92 geklärt.
[13] Demnach darf das Nettoeinkommen des Kindes in solchen Fällen nicht einfach vom bisher gewährten Vorschuss abgezogen werden. Das Gericht hat vielmehr gemäß § 7 Abs 1 Z 1 UVG zu prüfen, ob und bejahendenfalls in welcher Höhe die im Exekutionstitel festgesetzte Unterhaltsverpflichtung noch fortbesteht, weil die Eigeneinkünfte zu einer Verringerung des konkreten Bedarfs führen (1 Ob 560/92; 10 Ob 17/13t; 10 Ob 25/18a; RS0076370 [insb T2]). Nur soweit danach der Unterhaltsanspruch herabzusetzen wäre, sind auch die Vorschüsse teilweise zu versagen bzw gemäß § 19 Abs 1 UVG entsprechend herabzusetzen (1 Ob 560/92; Neumayr in Schwimann/Kodek, ABGB-Praxiskommentar5 § 6 Rz 7, § 7 Rz 13).
[14] 3. Gemäß § 7 Abs 1 Z 1 UVG sind Titelvorschüsse zu versagen, wenn sich für das Gericht aus der Aktenlage ergibt, dass die im Unterhaltstitel festgesetzte Geldunterhaltspflicht nicht mehr besteht oder, der gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht entsprechend, zu hoch festgesetzt ist.
[15] 3.1. Im vorliegenden Fall ist daher zu beurteilen, wie sich die Waisenpension, die ein Einkommen des Kindes ist (vgl RS0047345), auf die Höhe des Unterhaltsanspruchs des Kindes gegen seinen Vaters auswirkt.
[16] 3.2. Nach § 231 Abs 3 ABGB mindert sich der Unterhaltsanspruch des Kindes insoweit, als das Kind eigene Einkünfte hat oder unter Berücksichtigung seiner Lebensverhältnisse selbsterhaltungsfähig ist.
[17] 3.3. Da das Eigeneinkommen des Kindes grundsätzlich seinen gesamten, in Geld und Betreuung bestehenden Unterhaltsanspruch vermindert, ist es auf die Leistungen des geldunterhaltspflichtigen und des betreuenden Elternteils anzurechnen (RS0047440). Zur Ermittlung der Aufteilung zwischen dem betreuenden und dem geldunterhaltspflichtigen Elternteil hat die Rechtsprechung die sogenannten „Richtwertformeln“ entwickelt (Gitschthaler, Unterhaltsrecht4 Rz 715, 719; RS0047565).
[18] Diese Methode kann aber – mangels eines Elternteils, der seinen Beitrag gemäß § 231 Abs 2 ABGB durch die Betreuung des Kindes leistet – dort nicht angewendet werden, wo infolge Drittpflege beide Elternteile geldunterhaltspflichtig sind (10 Ob 17/13t; 4 Ob 7/17h).
[19] 3.4. In einem Fall, in dem ein Elternteil verstorben ist und der andere Elternteil das Kind nicht betreut, konzentriert sich die primäre gesetzliche Unterhaltspflicht der Eltern auf den überlebenden Elternteil, der im Rahmen seiner Leistungsfähigkeit die gesamte Bedarfslücke zu decken hat (10 Ob 72/09z; 2 Ob 135/97k je mwN).
[20] Die Höhe des Geldunterhaltsanspruchs gegen den überlebenden Elternteil entspricht dem Gesamtunterhaltsbedarf des Kindes, soweit dadurch die mit der Prozentsatzmethode ermittelte Grenze seiner Leistungsfähigkeit nicht überschritten wird (2 Ob 67/09f; 10 Ob 2/08d; 4 Ob 125/09k; Barth/Neumayr in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang³ § 140 Rz 126).
[21] 3.5. Für die Ermittlung des Gesamtunterhaltsbedarfs, also jenes Einkommens, mit dem ein Minderjähriger alle seine Bedürfnisse einschließlich des für Betreuungsleistungen nötigen Aufwands bestreiten kann, lassen sich keine allgemeingültigen Regeln aufstellen. Für einfache Verhältnisse kann aber der Richtsatz für die Ausgleichszulage gemäß § 293 Abs 1 lit a sublit bb ASVG als Orientierungshilfe dienen (RS0047645; RS0047578 [T2, T5]; RS0017949). Bei der Bildung eines derartigen Orientierungswerts sind die zweimaligen Sonderzahlungen zur Ausgleichszulage zu berücksichtigen, weiters ist ein Abzug von rund 5 % für die von der Ausgleichszulage einbehaltenen Krankenversicherungsbeiträge vorzunehmen (Richtsatz x 14 : 12 – 5 %; 7 Ob 14/02p; Schwimann/Kolmasch, Unterhaltsrecht9 184 f; Gitschthaler, Unterhaltsrecht4 Rz 701).
[22] Hingegen reicht bei Drittpflege der Regelbedarf zur Ermittlung des Unterhaltsbedarfs des Minderjährigen regelmäßig nicht aus, weil Regelbedarf ja nur eine Maßgröße dafür abgibt, welcher Geldunterhalt zusätzlich zur Betreuung eines Kindes erforderlich ist (RS0047403 [T7]).
[23] 3.6. Steht daher nach dem Tod der (das Kind betreuenden) Mutter das Kind in Pflege und Erziehung der Großeltern, besteht der Unterhaltsanspruch des Kindes gegenüber seinem Vater in der Differenz zwischen dem Ausgleichszulagenrichtsatz nach dem ASVG (zuzüglich Sonderzahlungen, abzüglich Krankenversicherungsbeiträgen) und dem Eigeneinkommen (der Waisenpension) des Kindes (10 Ob 72/09z).
[24] 4.1. Die Vorinstanzen haben bei der Berücksichtigung der Waisenpension des Kindes die „Richtwertformel“ herangezogen, die von der Rechtsprechung dazu entwickelt wurde, das Eigeneinkommen des Kindes nach dem Verhältnis von Betreuungsaufwand und Geldunterhaltsanspruch auf einen betreuenden und einen geldunterhaltspflichtigen Elternteil aufzuteilen.
[25] 4.2. Die Anwendung dieser Ausmittlungsmethode ist im vorliegenden Fall, in dem die Mutter des Kindes verstorben ist und der Unterhaltsbedarf des Kindes allein vom Vater im Rahmen seiner Leistungsfähigkeit zu decken ist, nicht sachgerecht.
[26] Dafür, dass die subsidiäre Unterhaltspflicht der Großeltern nach § 232 ABGB zum Tragen käme, sodass sie durch ihre Betreuungsleistungen ihre eigene Unterhaltspflicht erfüllten, bietet der nach § 7 Abs 1 Z 1 UVG maßgebliche Akteninhalt im vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte. Auch im Verhältnis des Vaters zu den betreuenden Großeltern kommt daher eine anteilige Anrechnung des Eigeneinkommens des Kindes nicht in Betracht.
[27] 4.3. Im vorliegenden Fall deckt der gegen den Vater in Höhe von 480 EUR im Dezember 2018 und von 500 EUR ab dem 1. 1. 2019 bestehende Unterhaltstitel nicht einmal den Restunterhaltsbedarf, der sich aus der Differenz zwischen dem für die Jahre 2018 und 2019 jeweils geltenden Ausgleichszulagenrichtsatz (x 14 : 12 – 5 % = 1.008 EUR für 2018 und 1.034 EUR für 2019) und der in diesen Zeiträumen bezogenen Waisenpension (von 210 EUR im Dezember 2018 und von 215 EUR ab 1. 1. 2019) ergibt.
[28] Diese Differenzen betragen 799 EUR (für Dezember 2018) und 822 EUR für den Zeitraum ab 1. 1. 2019; sie liegen daher über den titulierten Unterhaltsansprüchen von 480 EUR (für Dezember 2018) und 500 EUR (ab 1. 1. 2019). Der infolge des Bezugs von Eigeneinkommen verbleibende Restunterhaltsbedarf findet daher in den in Titelhöhe gewährten Unterhaltsvorschüssen keine Deckung (vgl 10 Ob 17/13t).
[29] 4.4. Damit ist der Aktenlage nicht im Sinn des § 7 Abs 1 Z 1 UVG zu entnehmen, dass die im Exekutionstitel festgesetzte Unterhaltspflicht – der gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht entsprechend – zu hoch festgesetzt wäre. Die Voraussetzungen einer (rückwirkenden) Herabsetzung der Titelvorschüsse können daher aus der vom Kind bezogenen Waisenpension nicht abgeleitet werden.
[30] 5. Dies führt zur Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen im Sinn der ersatzlosen Behebung der amtswegig vorgenommenen Herabsetzung der Unterhaltsvorschüsse.
Textnummer
E130107European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2020:0100OB00024.20G.1013.000Im RIS seit
30.12.2020Zuletzt aktualisiert am
30.12.2020