TE Vwgh Erkenntnis 2020/11/19 Ra 2020/21/0309

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Veröffentlicht am 19.11.2020
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AVG §58 Abs2
AVG §60
BFA-VG 2014 §22a Abs4
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2
FrPolG 2005 §76 Abs2a
FrPolG 2005 §76 Abs3 Z1
FrPolG 2005 §76 Abs3 Z3
FrPolG 2005 §76 Abs3 Z9
FrPolG 2005 §80 Abs4 Z2
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §17

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Friedwagner, über die Revision des O H O H (alias O M), zuletzt in V, vertreten durch Mag.a Sarah Kumar, Rechtsanwältin in 8010 Graz, Schießstattgasse 30/1, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 10. Juni 2020, G307 2222774-13/9E, betreffend Überprüfung der Fortsetzung einer Schubhaft gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Mit Bescheid vom 18. April 2019 hatte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) über den Revisionswerber, einen Staatsangehörigen Marokkos, gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft zum Zweck der Sicherung seiner Abschiebung angeordnet. Der Vollzug dieses Bescheides begann nach der Entlassung des Revisionswerbers aus einer gerichtlich angeordneten Strafhaft am 3. Mai 2019.

2        Begründend hatte das BFA in diesem Bescheid ausgeführt, der Revisionswerber habe nach seiner Einreise in das Bundesgebiet unter seiner Aliasidentität am 19. März 2004 einen letztlich mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 29. August 2012 - verbunden mit einer Ausweisung nach Algerien (der vom Revisionswerber damals angegebenen Staatsangehörigkeit) - abgewiesenen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Im Bundesgebiet sei der Revisionswerber wiederholt strafgerichtlich verurteilt worden. Mit Bescheid vom 6. Oktober 2017 habe das BFA gegen ihn eine Rückkehrentscheidung [samt Begleitaussprüchen - nunmehr betreffend den Herkunftsstaat Marokko] in Verbindung mit einem auf fünf Jahre befristeten Einreiseverbot erlassen, eine dagegen erhobene Beschwerde sei abgewiesen worden.

Vor seiner Einreise nach Österreich habe der Revisionswerber bereits eine hohe Mobilität (wiederholte Reisebewegungen zwischen Spanien, Frankreich und Italien) gezeigt. Im Bundesgebiet sei er weder beruflich noch sozial verankert gewesen. Er sei im Verfahren über den Antrag auf internationalen Schutz und nach dessen rechtskräftigem Abschluss neuerlich untergetaucht und habe sich im Verborgenen aufgehalten. „Im laufenden Verfahren“ habe er vorgebracht, eine Abschiebung in den Herkunftsstaat verhindern zu wollen.

Daraus leitete das BFA Fluchtgefahr insbesondere nach den Kriterien des § 76 Abs. 3 Z 1, 3 und 9 FPG ab und verwies im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung unter Bezugnahme auf § 76 Abs. 2a FPG auf das strafrechtlich relevante Fehlverhalten. Unter Berücksichtigung der bisher verwendeten Alias-Identitäten, der hohen Mobilität sowie des Untertauchens sei davon auszugehen, dass er sich auf freiem Fuß belassen - umso mehr im nunmehrigen fortgeschrittenen Verfahrensstadium - weiteren behördlichen Maßnahmen zu entziehen versuchen werde. Durch Anwendung gelinderer Mittel könne dieser Gefahr nicht ausreichend begegnet werden, zumal der Revisionswerber weder über eine Meldeadresse noch über finanzielle Mittel verfüge.

3        Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 10. Juni 2020 stellte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach entsprechender Vorlage durch das BFA zum wiederholten Male gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG fest, dass zum Zeitpunkt seiner Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen und dass die Aufrechterhaltung der Schubhaft verhältnismäßig sei. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG erklärte es die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

4        Begründend führte das BVwG (im Wesentlichen inhaltsgleich wie in vorangegangenen Erkenntnissen nach § 22a Abs. 4 BFA-VG, zuletzt vom 19. Mai 2020) insbesondere aus, der Revisionswerber habe am 11. Juni 2019 im Stande der Schubhaft einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz gestellt, der mit Bescheid des BFA vom 28. Juni 2019 gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache rechtskräftig zurückgewiesen worden sei. Zwar verfüge der Revisionswerber über kein gültiges Reisedokument, doch sei seine Identität und die Staatsangehörigkeit Marokkos über Interpol Rabat festgestellt worden. Er habe auch gegenüber dem BVwG erklärt, nicht in den Herkunftsstaat ausreisen zu wollen.

Trotz der Einschränkungen, welche aufgrund der aktuellen Corona-Pandemie bestünden, sei es nach wie vor wahrscheinlich, dass ein Heimreisezertifikat (HRZ) innerhalb der gesetzlich möglichen Dauer der Schubhaft ausgestellt und seine Abschiebung nach Marokko durchgeführt werde; Flüge nach Marokko fänden wieder statt. Das BFA habe bereits zahlreiche Urgenzen an die marokkanische Botschaft übermittelt und stehe mit dieser laufend in Kontakt. Der Fall des Revisionswerbers sei auf die Liste der sogenannten „high priority - Fälle“ aufgenommen worden. Neben der Identifizierung durch Interpol Rabat lägen nunmehr auch die konkreten Daten seiner Eltern und deren Reisepässe (in Kopie) vor. Im Fall einer (als wahrscheinlich beurteilten) Zustimmung durch die zuständige marokkanische Behörde könnte sofort ein Flug für die Rückführung gebucht werden; die Ausstellung des erforderlichen Heimreisezertifikates würde einige Tage vor dem Abflug erfolgen. Auch sei davon auszugehen, dass die Reisebeschränkungen zur Verhinderung der weiteren Ausbreitung der Corona-Pandemie lediglich vorübergehend seien und voraussichtlich in nächster Zeit wieder wegfielen.

Insgesamt erweise sich die Fortsetzung der Schubhaft wegen Vorliegens von Fluchtgefahr weiterhin als erforderlich und aufgrund des Überwiegens des öffentlichen Interesses an der Sicherung der Abschiebung des Revisionswerbers in den Herkunftsstaat im Vergleich zu seinem Recht auf persönliche Freiheit auch als verhältnismäßig. Unter Berücksichtigung des bisher gezeigten Verhaltens erscheine es sehr wahrscheinlich, dass er im Fall einer Beendigung der Schubhaft eine Rückführung durch Untertauchen vereitle oder zumindest erschwere. Auch habe er bislang keine Bereitschaft gezeigt, seiner Ausreiseverpflichtung zu entsprechen und in den Herkunftsstaat zurückzukehren.

5        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:

6        Die Revision erweist sich, wie sich aus den folgenden Ausführungen ergibt, als zulässig und berechtigt, weil sich das BVwG nicht ausreichend mit der Möglichkeit einer Effektuierung der Abschiebung vor dem Ende der höchstzulässigen Dauer der Schubhaft auseinandergesetzt hat.

7        In einem behördeninternen E-Mail der BFA-Direktion vom 8. Juni 2020 (dem Tag vor der - den Inhalt dieses Mails nicht kommentierenden - Aktenvorlage an das BVwG zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Schubhaft) heißt es als Antwort auf entsprechende Ermittlungen der zuständigen Außenstelle des BFA zum Stand des den Revisionswerber betreffenden Verfahrens zur Erlangung eines Heimreisezertifikates, „Interpol-Identifizierungen“ würden von der marokkanischen Botschaft nicht akzeptiert, vielmehr müsse die Identifizierung von der eigenen Sicherheitsbehörde erfolgen. Dort herrsche „nach Auskunft des Konsulats ein großer Rückstau“. Der gegenständliche HRZ - Antrag sei am 5. August 2016 gestellt und bis dato 26 Mal urgiert worden. Am 11. Februar 2020 seien auf Ersuchen des Konsulats noch einmal alle Unterlagen übergeben worden, wobei eine persönliche Urgenz in Rabat zugesichert worden sei. Auch würde der Fall monatlich „auf der Sammelliste für Schub- und Strafhaftfälle“ urgiert. Leider sei aber bis dato noch keine Identifizierung erfolgt. Es könne keine Prognose abgegeben werden, wann dies der Fall sein werde.

8        Der Revisionswerber erachtet die Schubhaft unter anderem deshalb als nicht verhältnismäßig, weil die (vom BVwG dargestellten) bisherigen Schritte des BFA zur Erlangung eines Heimreisezertifikates unzureichend gewesen seien, sodass nicht davon ausgegangen werden könne, ein solches würde innerhalb der höchstzulässigen Schubhaftdauer erteilt werden.

9        Diesen Ausführungen ist insoweit beizupflichten, als sich selbst das BFA nach dem Inhalt seiner (in Rn. 7) dargestellten Stellungnahme vom 8. Juni 2020 außerstande sah, eine Prognose abzugeben, wann mit der verbindlichen Identifizierung des Revisionswerbers sowie der Ausstellung eines Heimreisezertifikates zu rechnen sei. Das BVwG hätte sich daher - zumal unter weiterer Berücksichtigung der seit vielen Monaten unveränderten Situation - nicht auf eine Wiederholung seiner eigenen (zuletzt im Vorerkenntnis vom 19. Mai 2020 enthaltenen) Argumentation beschränken dürfen, sondern vielmehr näher begründen müssen, weshalb es nach wie vor davon ausging, mit einer Effektuierung der Abschiebung wäre jedenfalls vor dem Ende der höchstzulässigen Dauer der Schubhaft zu rechnen (vgl. VwGH 27.8.2020, Ra 2020/21/0255).

10       Da dies nicht erfolgt ist, hat das BVwG das angefochtene Erkenntnis schon deshalb - also unbeschadet der Prognosebeurteilung hinsichtlich der Flugreisebeschränkungen aufgrund der COVID-19-Pandemie - mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben war.

11       Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 19. November 2020

Schlagworte

Begründung Begründungsmangel Begründungspflicht und Verfahren vor dem VwGH Begründungsmangel als wesentlicher Verfahrensmangel Besondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020210309.L00

Im RIS seit

11.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

11.01.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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