TE OGH 2020/11/10 5Nc22/20k

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Veröffentlicht am 10.11.2020
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Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Jensik als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Grohmann und den Hofrat Mag. Painsi als weitere Richter in der Ordinationssache der Antragstellerin P***** Rechtsanwälte GmbH, *****, gegen die Antragsgegnerin R***** SA, *****, Marokko, wegen 790,23 EUR sA, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Ordinationsantrag wird stattgegeben.

Zur Verhandlung und Entscheidung über die beabsichtigte Klage wird das Bezirksgericht Schwechat als örtlich zuständiges Gericht bestimmt.

Text

Begründung:

Die Antragstellerin erhebt gegenüber der Antragsgegnerin, ein marokkanisches Flugunternehmen, ihr abgetretene Ansprüche auf Rückerstattung von Ticketkosten. Die Antragsgegnerin habe die bei ihr gebuchten Flüge von Wien-Schwechat nach Casablanca-Mohammed V am 25. 5. 2020 und von Casablanca-Mohammed V nach Wien-Schwechat am 1. 6. 2020 annulliert.

Die Antragstellerin beantragt gemäß § 28 JN die Ordination eines für die beabsichtigte Klage örtlich zuständigen Gerichts in Österreich. Es bestehe im Hinblick auf den Sitz der Antragstellerin und den Abflug- bzw Ankunftsort ein Naheverhältnis zum Inland, aber kein Gerichtsstand in Österreich. Die Rechtsverfolgung in Marokko sei unzumutbar, weil ein marokkanischer Exekutionstitel in Österreich nicht anerkannt oder vollstreckt werden würde und die Antragstellerin die Exekutionsführung in Österreich plane. Die Führung eines Rechtsstreits in Marokko wäre zudem mit unzumutbaren Kosten verbunden. Der in der geplanten Klage geltend gemachte Anspruch gründe sich auch auf der Fluggastrechte-Verordnung. Für solche Ansprüche hätten die Mitgliedstaaten nach Art 47 GRC einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz sicherzustellen. Bei einem ausreichenden Inlandsbezug sei daher Fluggästen, die von einem in der Europäischen Union gelegenen Flughafen abfliegen, die Durchsetzung von in der Fluggastrechte-Verordnung normierten Ansprüchen grundsätzlich auch gegen ein Flugunternehmen mit Sitz in einem Drittstaat zu ermöglichen.

Rechtliche Beurteilung

Die Voraussetzungen für eine Ordination durch den Obersten Gerichtshof sind gegeben.

1. Für den Fall, dass für eine bürgerliche Rechtssache die Voraussetzungen für die örtliche Zuständigkeit eines inländischen Gerichts nicht gegeben oder nicht zu ermitteln sind, bestimmt § 28 Abs 1 Z 2 JN, dass der Oberste Gerichtshof aus den sachlich zuständigen Gerichten eines zu bestimmen hat, welches für die fragliche Rechtssache als örtlich zuständig zu gelten hat, wenn der Kläger österreichischer Staatsbürger ist oder seinen Wohnsitz, gewöhnlichen Aufenthalt oder Sitz im Inland hat und im Einzelfall die Rechtsverfolgung im Ausland nicht möglich oder unzumutbar wäre.

2.1. Die Ordination durch den Obersten Gerichtshof setzt demnach voraus, dass die Voraussetzungen für die örtliche Zuständigkeit eines inländischen Gerichts nicht gegeben sind oder sich nicht ermitteln lassen. Die Ordination hat daher zu unterbleiben, wenn ohnehin ein Gerichtsstand im Inland besteht (5 Nc 20/19i mwN). Der Oberste Gerichtshof hat dies anhand der Angaben im Ordinationsantrag zu prüfen (RIS-Justiz RS0117256).

2.2. Aus dem Vorbringen der Antragstellerin in ihrem Antrag und dem diesem angeschlossenen Entwurf der Klage ergibt sich kein Gerichtsstand im Inland.

2.3. Auf den Gerichtsstand des Erfüllungsorts nach Art 7 Nr 1 lit a der VO (EU) Nr 1215/2012 (EuGVVO 2012) kann sich die Antragstellerin nicht berufen, weil die Antragsgegnerin nach deren Vorbringen ihren ausschließlichen Sitz iSd Art 63 Nr 1 EuGVVO 2012 in einem Drittstaat hat (5 Nc 20/19i).

2.4. Es ist daher zu prüfen, ob für den Anspruch der Antragsteller nach den innerstaatlichen Zivilprozessgesetzen ein Wahlgerichtsstand in Österreich besteht. In Betracht kommen hier (nur) die Gerichtsstände des Erfüllungsorts nach § 88 Abs 1 JN und des Vermögens nach § 99 JN. Der Gerichtsstand des Erfüllungsorts nach § 88 Abs 1 JN ist nur bei ausdrücklicher und urkundlich nachweisbarer Vereinbarung des Erfüllungsorts gegeben, also jedenfalls dann nicht, wenn mangels einer Vereinbarung, die sich von den übrigen Parteienvereinbarungen deutlich abhebt, bestimmt und direkt auf die Festlegung eines Erfüllungsorts gerichtet ist, der Erfüllungsort aufgrund materiell-rechtlicher Vorschriften ermittelt werden muss (RS0046717). Diese Voraussetzungen sind nach den Antragsangaben, von denen im Rahmen der Ordinationsprüfung auszugehen ist, nicht erfüllt. Die Antragstellerin weist vielmehr ausdrücklich daraufhin, dass keine Vereinbarung zwischen den Parteien bestehe, welche ausdrücklich und direkt die Bestimmung des Erfüllungsorts bezwecke. Der Antragstellerin ist aber auch kein inländisches Vermögen der Antragsgegnerin bekannt, das konkret benannt und den Gerichtsstand nach § 99 Abs 1 JN begründen könnte.

3.1. Die von der Antragstellerin iSd § 28 Abs 1 Z 2 JN behauptete Unzumutbarkeit der Rechtsverfolgung im Ausland wird in Lehre und Rechtsprechung insbesondere dann bejaht, wenn die ausländische Entscheidung in Österreich nicht anerkannt oder vollstreckt wird, eine dringende Entscheidung im Ausland nicht rechtzeitig erreicht werden kann, eine Prozessführung im Ausland eine der Parteien politischer Verfolgung aussetzen würde oder äußerst kostspielig wäre (RS0046148).

3.2. Unzumutbarkeit der Rechtsverfolgung im Ausland liegt also vor, wenn die ausländische Entscheidung in Österreich nicht anerkannt oder vollstreckt würde und eine Exekutionsführung im Inland geplant ist (5 Nc 20/19i; RS0046148 [T17]). Nach § 79 Abs 2 EO sind (nur) Akte und Urkunden [...] für vollstreckbar zu erklären, wenn sie nach den Bestimmungen des Staats, in dem sie errichtet wurden, vollstreckbar sind und die Gegenseitigkeit durch Staatsverträge oder durch Verordnungen verbürgt ist. Zwischen Österreich und Marokko besteht kein bilaterales oder multilaterales Übereinkommen über die Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen über vermögensrechtliche Ansprüche. Die erforderliche formelle Gegenseitigkeit ist daher nicht gegeben.

3.3. Dazu kommt, dass die Antragstellerin ihre Ansprüche aus der Fluggastrechte-Verordnung, also aus einem unionsrechtlichen Sekundärrechtsakt ableitet. Für solche Ansprüche haben die Mitgliedstaaten nach Art 47 GRC einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz sicherzustellen. Diesem unionalen Verfahrensgrundrecht kommt insbesondere dann Bedeutung zu, wenn der Kläger sonst gehalten wäre, seine Ansprüche außerhalb der Europäischen Union geltend zu machen. Aus diesem Grund sind alle interpretativen Möglichkeiten auszuschöpfen, um – bei einem ausreichenden Inlandsbezug – Fluggästen, die von einem in der Europäischen Union gelegenen Flughafen abfliegen, die Durchsetzung von in der Fluggastrechte-Verordnung normierten Ansprüchen grundsätzlich auch gegen ein Flugunternehmen mit Sitz in einem Drittstaat zu ermöglichen (5 Nc 20/19i; RS0046644 [T6]).

4. Für die Auswahl des zu ordinierenden Gerichts (in örtlicher Hinsicht) enthält § 28 JN keine ausdrücklichen Vorgaben; es ist dabei auf die Kriterien der Sach- und Parteinähe sowie der Zweckmäßigkeit Bedacht zu nehmen (RS0106680 [T13]). Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben hat eine Zuweisung der Sache an das Bezirksgericht Schwechat zu erfolgen, lag doch der Abflugort bzw Ankunftsort im vorliegenden Fall in dessen Sprengel.

Textnummer

E129862

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0050NC00022.20K.1110.000

Im RIS seit

24.12.2020

Zuletzt aktualisiert am

24.12.2020
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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