TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/27 W123 2170813-3

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.10.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

27.10.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AVG §68 Abs1
B-VG Art133 Abs4
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs2
FPG §55 Abs1a

Spruch

W123 2170813-3/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Michael ETLINGER als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.09.2020, Zl. 1097594409/200222205, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 02.12.2015 den ersten Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Rahmen der am 03.12.2015 durchgeführten Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund an, dass er, als er drei Jahre alt gewesen sei, mit seiner Familie von Afghanistan in den Iran verzogen sei; den Fluchtgrund seiner Eltern kenne er nicht, weil er klein gewesen sei. Im Iran habe der Beschwerdeführer nicht an die Universität gehen dürfen, außerdem sei die wirtschaftliche Situation schlecht gewesen. Dann sei die Familie des Beschwerdeführers nach Afghanistan gereist. Dort habe der Beschwerdeführer studieren wollen, die Sicherheitslage sei aber schlecht gewesen und so habe er sich entschieden, das Land zu verlassen.

3. Am 12.06.2017 erfolgte die Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: belangte Behörde). Zu seinen Fluchtgründen befragt schilderte der Beschwerdeführer, dass er wisse nicht, warum seine Eltern Afghanistan verlassen hätten. Diese hätten immer gesagt, dass es Probleme mit den Taliban gebe; er erst drei Jahre alt gewesen. Mehr wisse er nicht. Der Beschwerdeführer gab weiters an, Moslem, aber nicht streng religiös zu sein. Er esse Schweinefleisch und bete nicht. Religion sei eine private Sache und jeder solle dies für sich entscheiden. Der Beschwerdeführer könne sich jedenfalls nicht vorstellen, in ein islamisches Land zurückzukehren und die Gesetze dort zu akzeptieren. Im Iran sei er von seinem Vater gezwungen worden, zu beten. Habe er das nicht getan, sei er bestraft worden. In der Schule sei der Beschwerdeführer ausgelacht worden, weil er Ausländer gewesen sei. Außerdem sei es ein Problem gewesen, dass er Sunnit gewesen sei, weil im Iran nur Schiiten seien.

4. Mit Bescheid vom 09.08.2017 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß §§ 3 und 8 AsylG 2005 ab, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei.

5. Der Beschwerdeführer erhob am 06.09.2017 gegen sämtliche Spruchpunkte Beschwerde. Darin wurde insbesondere die individuelle Bedrohung des Beschwerdeführers hervorgehoben, weil er die vergebenen Regeln und Gesetze der muslimischen Religionen nicht akzeptieren könne und er der Überzeugung sei, dass jeder Mensch seine Religion frei wählen könne. Verwiesen wurde auch auf die die Unmöglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative aufgrund seiner Wertehaltung hinsichtlich Religionsfreiheit, Gleichstellung von Mann und Frau und Essensgewohnheiten, mit der er weder im Iran, noch in Afghanistan eine Existenzgrundlage haben könne. Er sei im Iran aufgewachsen, stehe in keinerlei Beziehung zu Afghanistan und habe keine Bezugspersonen vor Ort. Zudem sei die Sicherheitslage schlecht und es gebe viele Rückkehrer.

6. Am 04.02.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt.

7. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22.02.2019, Zl. W271 2170813-1/10, wurde die Beschwerde gegen den Bescheid der belangten Behörde vom 09.08.2017 gemäß
§§ 3, 8, 10 Abs. 1 Z 3, 55 und 57 AsylG iVm § 9 BFA-VG und §§ 52, 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

8. Gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22.02.2019 erhob der Beschwerdeführer eine Verfassungsgerichtshofbeschwerde.

9. Mit Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom 12.06.2019, E 1260/2019-7, wurde die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

10. Mit Schriftsatz vom 14.11.2019 erhob der Beschwerdeführer gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22.02.2019 Revision.

11. Mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 02.12.2019, Ra 2019/14/0408-13, wurde die Revision des Beschwerdeführers zurückgewiesen.

12. Am 26.02.2020 stellte der Beschwerdeführer den gegenständlichen zweiten Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Im Rahmen der am selben Tag durch die Landespolizeidirektion Steiermark durchgeführten Erstbefragung brachte der Beschwerdeführer, auf die Frage warum er einen neuerlichen Asylantrag stellt, vor, dass er bei seiner ersten Befragung sehr unter Druck gewesen sei und sich geschämt habe. Im Iran sei er Moslem gewesen, dann für kurze Zeit konfessionslos und es habe andere Probleme im Iran gegeben. Der Beschwerdeführer gab an, bisexuell zu sein und im Iran sei das ein schweres Delikt, welches mit Todesstrafe geahndet werde. In Kerman im Iran habe der Beschwerdeführer von ca. 10 homosexuellen Männern, welche hingerichtet worden seien, gehört. Der Beschwerdeführer habe Todesangst gehabt und sei deshalb aus dem Iran geflüchtet. Der Beschwerdeführer habe deshalb nicht bei seinem ersten Asylantrag über seine Sexualität sprechen wollen, weil so viele Frauen bei der Einvernahme anwesend gewesen seien. Der Beschwerdeführer gab ferner an, iranischer Staatsbürger zu sein und nicht aus Afghanistan zu kommen.

13. Am 10.03.2020 fand vor der belangten Behörde eine Einvernahme des Beschwerdeführers statt. Die Niederschrift lautet auszugsweise:

„[…]

LA: Sie haben am 02.12.2015 einen Asylantrag gestellt, der rechtskräftig abgewiesen wurde. Warum stellen Sie einen neuerlichen Antrag?

VP: Ich war nicht gut aufgeklärt, ich habe mich mit den Rechten und Gesetzen nicht gut ausgekannt. Außerdem habe ich den wichtigsten Grund, weshalb ich meine Heimat verlassen habe, nicht genannt. Ich hatte Bedenken, dass ich gemoppt werde, deshalb habe ich es für mich behalten.

Es geht um Bisexualität und im Iran wird es nicht toleriert und ich weiß, dass dort zehn Personen wegen der Homosexualität hingerichtet worden sind. Das hat bei mir große Angst ausgelöst, deshalb habe ich es nicht zur Sprache gebracht.

Bei den vorigen Einvernahmen waren viele Frauen dabei, die Referentin, war eine Frau, meine Freundin war dabei, meine Betreuerin, die Anwältin. Es war alles andere als angenehm über dieses Thema zu sprechen. Das wollte ich mit einem Mann thematisieren.

Das ist der Grund, weshalb ich nicht in den Iran zu meiner Familie zurückkehren kann.

LA: Hat sich bezüglich der Ausreisegründe, die Sie im ersten Verfahren angegeben haben, etwas geändert?

VP: Das sind alles neue Gründe.

Frage wird erklärt.

VP: Nein, da hat sich nichts geändert.

LA: Haben Sie außer diesen Problemen noch weitere?

VP: Ja, meine Konfession.

LA: Was ist damit?

VP: Eine Zeit lange war ich ohne Glauben. Aber dann habe ich eine lesbische Dame kennen gelernt und sie hat mich in die Kirche mitgenommen. Dieser Glaube hat mich dann immer mehr überzeugt. Dort wurde alles übersetzt was gepredigt wurde. Dann habe ich mich entschieden zu konvertieren und habe einen anderen Glauben. Ich möchte mich als Christ beweisen.

Ich möchte nichts mehr mit dem Islam zu tun haben. Die Konversion würde zu vielen Problemen führen. Das passt nicht mehr zu meiner Lebenseinstellung bzw. zu meinem Lebensstil.

LA: Seit wann sind Sie Christ.

VP: Seit ca. einem Jahr.

LA: Sind Sie getauft?

VP: Nein, noch nicht.

LA: Warum nicht?

VP: Ich war sehr beschäftigt mit der Schule und meinem Asylverfahren. Ich musste meine Rechtsanwältin bzw. Rechtsberaterin besuchen. Ich habe auch in einem sehr abgelegenen Ort gelebt und war oft zu Hause. Ich bin noch nicht dazu gekommen. Ich habe aber vor mich taufen zu lassen.

LA: Haben Sie außer diesen Problemen noch weitere?

VP: Nein.

LA: Wann und wie haben Sie festgestellt, dass Sie bisexuell sind?

VP: Seit früheren Zeiten als ich im Iran war, seit meinem 14. Lebensjahr. Ich habe dort ein Verhältnis zu einem anderen Jungen in meinem Alter gehabt.

AW schweigt.

LA: Wie darf ich mir das vorstellen?

VP: Es ist schwierig das zu beschreiben, die Emotionen die Gefühle wiederzugeben. Es war sehr angenehm in seiner Gegenwart. Ich habe mich sehr gut gefühlt. Ich habe ihn geliebt. Das habe ich damals für eine Frau nicht empfunden.

Ich hatte auch eine Freundin im Iran, ich hatte aber kein Interesse an ihr.

LA: Wie haben Sie sich kennengelernt, wie haben Sie Ihre Beziehung geführt?

VP: Wir waren in derselben Klasse, am Anfang haben wir uns kennengelernt und waren gute Freunde. Das hat sich dann weiterentwickelt. Wir konnten über alles Mögliche reden. Er hat mir auch mitgeteilt, dass er Männer präferieren würde. Und dass er lieber mit einem Mann zusammen sein möchte. Aber er hatte große Angst, dass seine Familie oder die Leute etwas davon erfahren würden, denn das würde dort zu großen Problemen führen und man würde sich in Lebensgefahr begeben. Ich hatte auch Interesse an ihm. Diese Angst hatte ich auch. Dafür werden die Leute im Iran hingerichtet oder sie landen im Gefängnis.

LA: Wie hat sich die Beziehung entwickelt? Was haben Sie gemacht?

VP: Das passierte nicht von heute auf morgen, wir haben lange gebraucht um uns gegenseitig vertrauen zu können. Später haben wir uns besucht, er kam zu mir, ich war oft bei ihm. Irgendwann haben wir dann pornographische Filme angeschaut. Eines Tages war ich bei ihm und wir haben diese Filme angeschaut. Er kam mir näher und wollte mit mir schlafen. Da ich einverstanden war und niemand bei ihm zuhause war, haben wir den Akt vollzogen.

LA: Wie lang hat die Beziehung gedauert.

VP: Wir haben nur ein paar Mal Sex gehabt, wir hatten Angst, dass dieses Geheimnis in die Öffentlichkeit kommt, wir hatten auch Angst vor unseren Familien. Wir waren beide einverstanden, dass wir diese Beziehung beenden, weil die Gefahr zu groß war. Nachdem ich erfahren habe, dass 10 Menschen deswegen getötet wurden, habe ich die Beziehung beendet.

LA: Wann war das?

VP: Das war Anfang 2015, ich kann das jetzt im iranischen Kalender nicht genau angeben.

LA: War das Ihre einzige homosexuelle Beziehung.

VP: Ja, hier ging es dann weiter.

LA: Was wissen Sie von diesen zehn Hinrichtungen?

VP: Ich habe in den Nachrichten gesehen, dass diese zehn Personen zur Hälfte als Frauen verkleidet waren, die andere Hälfte waren Zoroastrier. Sie wollten sich im Osten von Kerman vermählen. Die Polizei hat davon erfahren und das Haus gestürmt. Sie wurden dann festgenommen. Dann wurden sie ins Gefängnis gesteckt und schlussendlich hingerichtet.

LA: Wie hieß ihr Freund im Iran?

VP: XXXX …

AW überlegt.

VP: Ich erinnere mich an seinen Familiennamen nicht. Es ist schon lange her, wir haben keinen Kontakt mehr.

LA: Wer weiß von Ihrer Bisexualität?

VP: Ich habe stets versucht, das geheim zu halten, weil ich Angst habe, ausgelacht und gemobbt zu werden. Ich möchte nicht, dass die anderen ihr Verhalten zu mir ändern. Deswegen habe ich das auch nicht auf Fotos oder in Videos festgehalten. Ich hatte ein paar kurze ein- oder zweitägige Beziehungen in Österreich. Da habe ich von dieser Sache erzählt. Ich vertraue aber noch niemanden so tief, dass ich das weitererzählen hätte können.

LA: Wer weiß von Ihrer Bisexualität? Niemand?

VP: Es waren ein paar Leute mit denen ich diese kurzen Beziehungen hatte. Einer hieß XXXX , ich habe ihn am Praterstern kennengelernt, wir haben aber keinen Kontakt mehr. Das ist mein Privatleben, ich möchte nicht, dass es gegen mich verwendet wird.

[…]

Haben Sie derzeit eine Freundin?

BF: Ja.

LA: Wie heißt sie?

VP: Einen Moment, ich kann mir Namen schlecht merken. Ich kenne sie jetzt seit vier Jahren. Ich muss am Handy nachschauen.

[…]“

14. Am 20.03.2020 fand eine weitere Einvernahme des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde statt. Die Niederschrift lautet auszugsweise:

„[…]

LA. Möchten Sie etwas korrigieren oder ergänzen?

VP: Der Name meiner Freundin, ich hatte ihn vergessen, jetzt kann ich ihn angeben. Es gibt zwei oder drei Freunde, die Bescheid wissen, dass ich zu Männern Beziehungen habe. Das habe ich vergessen zu erwähnen. Diese Freunde bzw. diese Zeugen haben mich nicht bei den sexuellen Handlungen gesehen, aber sie wissen über meine sexuelle Beziehung Bescheid.

LA: Wo sind diese Freunde?

VP: In Wien, diese Freunde haben mich in der Schubhaft besucht, wir haben miteinander gesprochen und ich habe sie gebeten, mit meinem Vertreter Kontakt aufzunehmen und meine Unterlagen zu ihm zu bringen. Sie haben die Unterlagen von mir bekommen, später haben sie mich angerufen und sagten, dass sie neugierig waren und die Unterlagen gelesen haben. Sie hatten früher einen Verdacht, dass ich so eine sexuelle Orientierung habe, nachdem sie die Unterlagen gelesen haben, wissen sie jetzt Bescheid.

[…]

„LA: Wie heißt Ihre Freundin?

VP: XXXX . Nachgefragt gebe ich an, dass ich den Familiennamen nicht weiß. Mein Fach war im Iran Physik und Mathematik und deshalb kann ich nicht sehr gut mit Namen und Begriffen umgehen, ich habe mich auf etwas anderes konzentriert.

[…]

LA: Wieso haben Sie bei der Erstbefragung am 26.02.2020 nichts von Ihrer homosexuellen Beziehung im Iran erwähnt?

VP: Bei der Polizei habe ich es erwähnt. Nachgefragt gebe ich an, dass die Polizei fragte, warum ich einen neuen Antrag stellen will, was meine neuen Gründe wären. Ich habe gesagt, dass ich im Iran einige Probleme habe, die ich nicht erwähnt habe, weil ich mich geschämt habe. Dann habe ich erzählt, dass ich nur aus Scheu die Gründe nicht genannt habe.

Weil meine Freundin, meine Vertreterin und auch ein Vertreter von VMÖ dabei waren, habe ich mich geschämt darüber mit meinem Richter zu sprechen. Eigentlich hätte ich alles damals sagen müssen. Ich habe gehofft, dass ich in Österreich eine positive Antwort bekomme, ohne es zu erwähnen…

LA: Sie haben in der Erstbefragung nicht erwähnt, dass Sie im Iran eine homosexuelle Beziehung hatten.

VP: Man hat mich nicht gefragt, ich habe alle gestellten Fragen beantwortet.

LA: Ich verstehe nicht, warum Sie – wenn Sie die Anwesenheit von Frauen hindert alles anzugeben – bei allen Einvernahmen weibliche Vertrauenspersonen mitgenommen haben und sich auch eine weibliche Anwältin genommen haben.

VP: Ich habe gehofft, dass ich wegen meiner angegebenen Fluchtgründe Asyl bekomme. Ich habe meine Probleme im Iran geschildert, dass ich dort nicht weiter lernen und studieren durfte, dass ich mit meiner Familie Probleme hatte, auch religiöse Probleme, ich habe gehofft, dass das reicht. Deswegen wollte ich die Homosexualität nicht erwähnen, von Anfang an wollte ich das nicht.

Vorhalt wird wiederholt.

VP: Das war mein Geheimnis. Ich hatte nicht vor, mein Geheimnis dort zu sagen, wie gesagt, habe ich sehr gehofft, dass ich mit meinem angegeben Fluchtgrund Asyl bekomme. Außerdem hatte ich 2015 noch große Angst vor meiner Familie. Ich wusste, wenn sie über die Homosexualität Bescheid wissen, werden sie mich umbringen, deshalb habe ich alles geheim gehalten.

[…]

LA: Ihnen wird nun mitgeteilt, dass weiterhin beabsichtigt ist, Ihren Asylantrag wegen entschiedener Sache zurückzuweisen. Möchten Sie dazu eine Stellungnahme abgeben?

VP: Warum tun Sie mir das an? Warum wollen Sie mich in ein Land schicken, wo ich niemanden habe, wo ich ein Fremder bin und schikaniert und getötet werde. Als ich vor einigen Jahren in Österreich ankam, hätten sie mir sagen können, dass ich hin den Iran zurückkehren sollte. Afghanistan kommt für mich nicht in Frage. Ich habe dort niemanden, ich war keinen einzigen Tag dort, Afghanistan ist ein Dschungel, es herrscht Unsicherheit. Es ist nicht meine Heimat und ich habe keine Bindung zu diesem Land, ich gebe nicht auf. Wenn Sie jetzt nein sagen, stelle ich erneut einen Asylantrag. Ich werde es so lange machen bis ich hier Asyl bekomme. Ich habe keine andere Wahl.

[…]“

15. Mit mündlich verkündetem Bescheid vom 20.03.2020 der belangten Behörde wurde der faktische Abschiebeschutz des Beschwerdeführers gemäß § 12a Abs. 2 AsylG aufgehoben.

16. Mit Beschluss vom 25.03.2020, W144 2170813-2/3E, sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes gemäß § 12a Abs. 2 iVm § 22 Abs. 10 AsylG rechtmäßig ist.

17. Mit dem angefochtenen Bescheid der belangten Behörde wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des Asylberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Es wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei ((Spruchpunkt V.) und gemäß § 55 Abs. 1a FPG ausgesprochen, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkte VI.). Schließlich wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG ein auf die Dauer von 2 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

In der rechtlichen Beurteilung zu Spruchpunkt I. hielt die belangte Behörde zusammenfassend fest, dass weder in der maßgeblichen Sachlage, noch im Begehren, noch in den anzuwendenden Rechtsnormen eine Änderung eingetreten sei.

18. Mit Schriftsatz vom 15.10.2020 erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde gegen den Bescheid der belangten Behörde und brachte zusammenfassend vor, dass der Beschwerdeführer im Rahmen der Einvernahme angeben hätte können, dass er auch Männer nennen könne, mit denen er in Österreich sexuelle Kontakte gehabt habe. Der Beschwerdeführer habe jedoch befürchtet, dass diese eventuell in weiterer Folge im Rahmen einer öffentlichen Verhandlung dazu befragt werden könnten. Ausreichend darüber aufgeklärt, dass ein Ausschluss der Öffentlichkeit beantragt werden könne, sei der Beschwerdeführer nunmehr bereit, deren Daten anzugeben.

Der Beschwerdeführer beantragte die zeugenschaftliche Vernehmung von zwei namentlich genannten Personen zum Beweis dafür, dass der Beschwerdeführer mit diesen Personen sexuelle Kontakte gehabt habe; ferner die zeugenschaftliche Vernehmung von einer namentlich genannten Person zum Beweis dafür, dass der Beschwerdeführer mit dieser Person mehrmals über seine Bisexualität und diverse (auch sexuelle) Kontakte zu Männern gesprochen habe.

Hingewiesen wurde ferner darauf, dass der Beschwerdeführer in der Einvernahme vor der belangten Behörde von einem „ XXXX “ gesprochen habe, mit dem er ebenfalls sexuelle Kontakte gehabt hätte. Darüber hinaus habe der Beschwerdeführer eine Freundin namens „ XXXX “ erwähnt. Der Beschwerdeführer kenne die vollständigen Daten dieser Personen nicht, werde sich jedoch darum bemühen, diese herauszufinden und dem Bundesverwaltungsgericht zur Verfügung zu stellen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

1.1.1. Der Beschwerdeführer ist ein afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Tadschiken an. Der Beschwerdeführer wurde in Kabul geboren und zog im Alter von drei Jahren mit seiner Familie nach Kerman, Iran, wo er zumindest neun Jahre lang eine Schule besuchte. Neben der Schule tätigte der Beschwerdeführer mehrere Jahre Hilfsarbeiten, etwa auf Baustellen oder im Verkauf (vgl. Feststellungen in der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22.02.2019Der Beschwerdeführer ist seinem Herkunftsstaat nicht vorbestraft, war nie politisch tätig und hatte keine Probleme mit den dortigen Behörden (vgl. Feststellungen BVwG vom 22.02.2019).

Der Beschwerdeführer steht in Kontakt mit seinen Familienangehörigen (vgl. AS 29 und 41).

Der Beschwerdeführer absolvierte seit seinem Aufenthalt im Bundesgebiet mehrere Infomodule sowie Deutschkurse und legte eine B1-Sprachprüfung ab. Er nutzt zur Weiterentwicklung seiner Deutschkenntnisse eine Sprachenbörse des Sprachenzentrums der Universität Wien. Der Beschwerdeführer war ehrenamtlich für die Caritas tätig. Für ein Konzert und ein Pflegeheim hat er sich ebenfalls ehrenamtlich engagiert. Für letztgenannte Einrichtung hat sich der Beschwerdeführer im Februar 2019 erneut um eine Tätigkeit als ehrenamtlicher Mitarbeiter beworben (vgl. Feststellungen BVwG vom 22.02.2019).

Der Beschwerdeführer ist ledig, kinderlos und hat keine Sorgepflichten; in Österreich verfügt er über keine Familienangehörige.

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig. Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.

1.1.2. Der Beschwerdeführer konnte seit den Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22.02.2019 und 25.03.2020 nicht glaubhaft dartun, dass in der Zwischenzeit Umstände eingetreten sind, wonach dem Beschwerdeführer in Afghanistan aktuell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit seiner Person drohen würde oder ihm im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre. Der Beschwerdeführer ist jung, gesund und arbeitsfähig, sodass er im Herkunftsstaat zumindest durch einfache Arbeit das nötige Einkommen erzielen könnte, um sich eine Existenzgrundlage zu schaffen. Zudem kann der Beschwerdeführer Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.

Der Beschwerdeführer konnte seit den Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22.02.2019 und 25.03.2020 ferner nicht glaubhaft dartun, dass ihm im Falle der Rückkehr in die Städte Mazar-e-Sharif oder Herat ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde. Bei einer Rückkehr in die Städte Mazar-e-Sharif oder Herat könnte er seine Existenz – zumindest anfänglich – mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er ist auch in der Lage, in der Städten Mazar-e-Sharif oder Herat eine einfache Unterkunft zu finden. Zudem kann der Beschwerdeführer Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.

Der Beschwerdeführer kann die Städte Mazar-e-Sharif und Herat von Österreich aus sicher mit dem Flugzeug erreichen.

1.1.3. Auch die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie bildet kein Rückkehrhindernis. Der Beschwerdeführer ist gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

1.2. Zum Herkunftsstaat:

1.2.1. Auszug Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Stand: 13.11.2019, letzte Information am 21.07.2020)

Länderspezifische Anmerkungen

COVID-19:

Stand 21.7.2020

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

Aktueller Stand der COVID-19 Krise in Afghanistan

Berichten zufolge, haben sich in Afghanistan mehr als 35.000 Menschen mit COVID-19 angesteckt (WHO 20.7.2020; vgl. JHU 20.7.2020, OCHA 16.7.2020), mehr als 1.280 sind daran gestorben. Aufgrund der begrenzten Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der begrenzten Testkapazitäten sowie des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt zu wenig gemeldet (OCHA 16.7.2020; vgl. DS 19.7.2020). 10 Prozent der insgesamt bestätigten COVID-19-Fälle entfallen auf das Gesundheitspersonal. Kabul ist hinsichtlich der bestätigten Fälle nach wie vor der am stärksten betroffene Teil des Landes, gefolgt von den Provinzen Herat, Balkh, Nangarhar und Kandahar (OCHA 15.7.2020). Beamte in der Provinz Herat sagten, dass der Strom afghanischer Flüchtlinge, die aus dem Iran zurückkehren, und die Nachlässigkeit der Menschen, die Gesundheitsrichtlinien zu befolgen, die Möglichkeit einer neuen Welle des Virus erhöht haben, und dass diese in einigen Gebieten bereits begonnen hätte (TN 14.7.2020). Am 18.7.2020 wurde mit 60 neuen COVID-19 Fällen der niedrigste tägliche Anstieg seit drei Monaten verzeichnet – wobei an diesem Tag landesweit nur 194 Tests durchgeführt wurden (AnA 18.7.2020).

Krankenhäuser und Kliniken berichten weiterhin über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19. Diese Herausforderungen stehen im Zusammenhang mit der Bereitstellung von persönlicher Schutzausrüstung (PSA), Testkits und medizinischem Material sowie mit der begrenzten Anzahl geschulter Mitarbeiter - noch verschärft durch die Zahl des erkrankten Gesundheitspersonals. Es besteht nach wie vor ein dringender Bedarf an mehr Laborequipment sowie an der Stärkung der personellen Kapazitäten und der operativen Unterstützung (OCHA 16.7.2020, vgl. BBC-News 30.6.2020).

Maßnahmen der afghanischen Regierung und internationale Hilfe

Die landesweiten Sperrmaßnahmen der Regierung Afghanistans bleiben in Kraft. Universitäten und Schulen bleiben weiterhin geschlossen (OCHA 8.7.2020; vgl. RA KBL 16.7.2020). Die Regierung Afghanistans gab am 6.6.2020 bekannt, dass sie die landesweite Abriegelung um drei weitere Monate verlängern und neue Gesundheitsrichtlinien für die Bürger herausgeben werde. Darüber hinaus hat die Regierung die Schließung von Schulen um weitere drei Monate bis Ende August verlängert (OCHA 8.7.2020).

Berichten zufolge werden die Vorgaben der Regierung nicht befolgt, und die Durchsetzung war nachsichtig (OCHA 16.7.2020, vgl. TN 12.7.2020). Die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus unterscheiden sich weiterhin von Provinz zu Provinz, in denen die lokalen Behörden über die Umsetzung der Maßnahmen entscheiden. Zwar behindern die Sperrmaßnahmen der Provinzen weiterhin periodisch die Bewegung der humanitären Helfer, doch hat sich die Situation in den letzten Wochen deutlich verbessert, und es wurden weniger Behinderungen gemeldet (OCHA 15.7.2020).

Einwohner Kabuls und eine Reihe von Ärzten stellten am 18.7.2020 die Art und Weise in Frage, wie das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) mit der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie im Land umgegangen ist, und sagten, das Gesundheitsministerium habe es trotz massiver internationaler Gelder versäumt, richtig auf die Pandemie zu reagieren (TN 18.7.2020). Es gibt Berichte wonach die Bürger angeben, dass sie ihr Vertrauen in öffentliche Krankenhäuser verloren haben und niemand mehr in öffentliche Krankenhäuser geht, um Tests oder Behandlungen durchzuführen (TN 12.7.2020).

Beamte des afghanischen Gesundheitsministeriums erklärten, dass die Zahl der aktiven Fälle von COVID-19 in den Städten zurückgegangen ist, die Pandemie in den Dörfern und in den abgelegenen Regionen des Landes jedoch zunimmt. Der Gesundheitsminister gab an, dass 500 Beatmungsgeräte aus Deutschland angekauft wurden und 106 davon in den Provinzen verteilt werden würden (TN 18.7.2020).

Am Samstag den 18.7.2020 kündete die afghanische Regierung den Start des Dastarkhan-e-Milli-Programms als Teil ihrer Bemühungen an, Haushalten inmitten der COVID-19-Pandemie zu helfen, die sich in wirtschaftlicher Not befinden. Auf der Grundlage des Programms will die Regierung in der ersten Phase 86 Millionen Dollar und dann in der zweiten Phase 158 Millionen Dollar bereitstellen, um Menschen im ganzen Land mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die erste Phase soll über 1,7 Millionen Familien in 13.000 Dörfern in 34 Provinzen des Landes abdecken (TN 18.7.2020; vgl. Mangalorean 19.7.2020).

Auszugsweise Lage in den Provinzen Afghanistans

Dieselben Maßnahmen – nämlich Einschränkungen und Begrenzungen der täglichen Aktivitäten, des Geschäftslebens und des gesellschaftlichen Lebens – werden in allen folgend angeführten Provinzen durchgeführt. Die Regierung hat eine Reihe verbindlicher gesundheitlicher und sozialer Distanzierungsmaßnahmen eingeführt, wie z.B. das obligatorische Tragen von Gesichtsmasken an öffentlichen Orten, das Einhalten eines Sicherheitsabstandes von zwei Metern in der Öffentlichkeit und ein Verbot von Versammlungen mit mehr als zehn Personen. Öffentliche und touristische Plätze, Parks, Sportanlagen, Schulen, Universitäten und Bildungseinrichtungen sind geschlossen; die Dienstzeiten im privaten und öffentlichen Sektor sind auf 6 Stunden pro Tag beschränkt und die Beschäftigten werden in zwei ungerade und gerade Tagesschichten eingeteilt (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).

Die meisten Hotels, Teehäuser und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19 Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).

[…]

In der Provinz Balkh gibt es ein Krankenhaus, welches COVID-19 Patienten behandelt und über 200 Betten verfügt. Es gibt Berichte, dass die Bewohner einiger Distrikte der Provinz mit Wasserknappheit zu kämpfen hatten. Darüber hinaus hatten die Menschen in einigen Distrikten Schwierigkeiten mit dem Zugang zu ausreichender Nahrung, insbesondere im Zuge der COVID-19-Pandemie (RA KBL 16.7.2020).

In der Provinz Herat gibt es zwei Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln. Ein staatliches öffentliches Krankenhaus mit 100 Betten, das vor kurzem speziell für COVID-19-Patienten gebaut wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 19.3.2020) und ein Krankenhaus mit 300 Betten, das von einem örtlichen Geschäftsmann in einem umgebauten Hotel zur Behandlung von COVID-19-Patienten eingerichtet wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 4.5.2020). Es gibt Berichte, dass 47,6 Prozent der Menschen in Herat unter der Armutsgrenze leben, was bedeutet, dass oft ein erschwerter Zugang zu sauberem Trinkwasser und Nahrung haben, insbesondere im Zuge der Quarantäne aufgrund von COVID-19, durch die die meisten Tagelöhner arbeitslos blieben (RA KBL 16.7.2020; vgl. UNICEF 19.4.2020).

[…]

Wirtschaftliche Lage in Afghanistan

Verschiedene COVID-19-Modelle zeigen, dass der Höhepunkt des COVID-19-Ausbruchs in Afghanistan zwischen Ende Juli und Anfang August erwartet wird, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft Afghanistans und das Wohlergehen der Bevölkerung haben wird (OCHA 16.7.2020). Es herrscht weiterhin Besorgnis seitens humanitärer Helfer, über die Auswirkungen ausgedehnter Sperrmaßnahmen auf die am stärksten gefährdeten Menschen – insbesondere auf Menschen mit Behinderungen und Familien – die auf Gelegenheitsarbeit angewiesen sind und denen alternative Einkommensquellen fehlen (OCHA 15.7.2020). Der Marktbeobachtung des World Food Programme (WFP) zufolge ist der durchschnittliche Weizenmehlpreis zwischen dem 14. März und dem 15. Juli um 12 Prozent gestiegen, während die Kosten für Hülsenfrüchte, Zucker, Speiseöl und Reis (minderwertige Qualität) im gleichen Zeitraum um 20 – 31 Prozent gestiegen sind (WFP 15.7.2020, OCHA 15.7.2020). Einem Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) und des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht (MAIL) zufolge sind über 20 Prozent der befragten Bauern nicht in der Lage, ihre nächste Ernte anzubauen, wobei der fehlende Zugang zu landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und die COVID-19-Beschränkungen als Schlüsselfaktoren genannt werden. Darüber hinaus sind die meisten Weizen-, Obst-, Gemüse- und Milchverarbeitungsbetriebe derzeit nur teilweise oder gar nicht ausgelastet, wobei die COVID-19-Beschränkungen als ein Hauptgrund für die Reduzierung der Betriebe genannt werden. Die große Mehrheit der Händler berichtete von gestiegenen Preisen für Weizen, frische Lebensmittel, Schafe/Ziegen, Rinder und Transport im Vergleich zur gleichen Zeit des Vorjahres. Frischwarenhändler auf Provinz- und nationaler Ebene sahen sich im Vergleich zu Händlern auf Distriktebene mit mehr Einschränkungen konfrontiert, während die große Mehrheit der Händler laut dem Bericht von teilweisen Marktschließungen aufgrund von COVID-19 berichtete (FAO 16.4.2020; vgl. OCHA 16.7.2020; vgl. WB 10.7.2020).

Am 19.7.2020 erfolgte die erste Lieferung afghanischer Waren in zwei Lastwagen nach Indien, nachdem Pakistan die Wiederaufnahme afghanischer Exporte nach Indien angekündigt hatte um den Transithandel zu erleichtern. Am 12.7.2020 öffnete Pakistan auch die Grenzübergänge Angor Ada und Dand-e-Patan in den Provinzen Paktia und Paktika für afghanische Waren, fast zwei Wochen nachdem es die Grenzübergänge Spin Boldak, Torkham und Ghulam Khan geöffnet hatte (TN 20.7.2020).

Einreise und Bewegungsfreiheit

Die Türkei hat, nachdem internationale Flüge ab 11.6.2020 wieder nach und nach aufgenommen wurden, am 19.7.2020 wegen der COVID-19-Pandemie Flüge in den Iran und nach Afghanistan bis auf weiteres ausgesetzt, wie das Ministerium für Verkehr und Infrastruktur mitteilte (TN 20.7.2020; vgl. AnA 19.7.2020, DS 19.7.2020).

Bestimmte öffentliche Verkehrsmittel wie Busse, die mehr als vier Passagiere befördern, dürfen nicht verkehren. Obwohl sich die Regierung nicht dazu geäußert hat, die Reisebeschränkungen für die Bürger aufzuheben, um die Ausbreitung von COVID-19 zu verhindern, hat sich der Verkehr in den Städten wieder normalisiert, und Restaurants und Parks sind wieder geöffnet (TN 12.7.2020).

[…]

Weitere Maßnahmen der afghanischen Regierung

Schulen und Universitäten sind nach aktuellem Stand bis September 2020 geschlossen (AJ 8.6.2020; vgl. RA KBL 19.6.2020). Über Fernlernprogramme, via Internet, Radio und Fernsehen soll der traditionelle Unterricht im Klassenzimmer vorerst weiterhin ersetzen werden (AJ 8.6.2020). Fernlehre funktioniert jedoch nur bei wenigen Studierenden. Zum Einen können sich viele Familien weder Internet noch die dafür benötigten Geräte leisten und zum Anderem schränkt eine hohe Analphabetenzahl unter den Eltern in Afghanistan diese dabei ein, ihren Kindern beim Lernen behilflich sein zu können (HRW 18.6.2020).

Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen (RA KBL 19.6.2020). Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wieder aufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird (AnA 24.6.2020). Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020; vgl. GN 9.6.2020). Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020). Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich (RA KBL 19.6.2020). Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (RA KBL 19.6.2020).

[…]

Taliban und COVID-19

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).

[…]

2. Sicherheitslage

Letzte Änderung: 22.4.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).

[…]

2.5. Balkh

Letzte Änderung: 22.4.2020

Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan (UNOCHA 13.4.2014; vgl. GADM 2018). Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari (CSO 2019; vgl. IEC 2018).

Nach Schätzung der zentralen Statistikorganisation Afghanistan (CSO) für den Zeitraum 2019-20 leben 1.475.649 Personen in der Provinz Balkh, davon geschätzte 469.247 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif (CSO 2019). Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).

Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum (SH 16.1.2017). Die Autobahn, welche zum usbekischen Grenzübergang Hairatan-Termiz führt, zweigt ca. 40 km östlich von Mazar-e Sharif von der Ringstraße ab. (TD 5.12.2017). In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen (BFA Staatendokumentation 25.3.2019). Im Januar 2019 wurde ein Luftkorridor für Warentransporte eröffnet, der Mazar-e Sharif und Europa über die Türkei verbindet (PAJ 9.1.2019).

Laut dem Opium Survey von UNODC für das Jahr 2018 belegt Balkh den 7. Platz unter den zehn größten Schlafmohn produzierenden Provinzen Afghanistans. Aufgrund der Dürre sank der Mohnanbau in der Provinz 2018 um 30% gegenüber 2017 (UNODC/MCN 11.2018).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Balkh zählt zu den relativ stabilen (TN 1.9.2019) und ruhigen Provinzen Nordafghanistans, in welcher die Taliban in der Vergangenheit keinen Fuß fassen konnten (AN 6.5.2019). Die vergleichsweise ruhige Sicherheitslage war vor allem auf das Machtmonopol des ehemaligen Kriegsherrn und späteren Gouverneurs von Balkh, Atta Mohammed Noor, zurückzuführen (RFE/RL o.D.; RFE/RL 23.3.2018). In den letzten Monaten versuchen Aufständische der Taliban die nördliche Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Die Taliban überrannten keines dieser Gebiete (TN 22.8.2019). Einem UN-Bericht zufolge, gibt es eine Gruppe von rund 50 Kämpfern in der Provinz Balkh, welche mit dem Islamischen Staat (IS) sympathisiert (UNSC 1.2.2019). Bei einer Militäroperation im Februar 2019 wurden unter anderem in Balkh IS-Kämpfer getötet (BAMF 11.2.2019).

Das Hauptquartier des 209. ANA Shaheen Corps befindet sich im Distrikt Dehdadi (TN 22.4.2018). Es ist für die Sicherheit in den Provinzen Balkh, Jawzjan, Faryab, Sar-e-Pul und Samangan zuständig und untersteht der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - North (TAAC-N), welche von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 6.2019). Deutsche Bundeswehrsoldaten sind in Camp Marmal in Mazar-e Sharif stationiert (TS 22.9.2018).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

[…]

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 277 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 22% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen. (UNAMA 2.2020).

Im Winter 2018/2019 (UNGASC 28.2.2019) und Frühjahr 2019 wurden ANDSF-Operationen in der Provinz Balkh durchgeführt (UNGASC 14.6.2019). Die ANDSF führen auch weiterhin regelmäig Operationen in der Provinz (RFERL 22.9.2019; vgl KP 29.8.2019, KP 31.8.2019, KP 9.9.2019) unter anderem mit Unterstützung der US-amerikanischen Luftwaffe durch (BAMF 14.1.2019; vgl. KP 9.9.2019). Taliban-Kämpfer griffen Einheiten der ALP, Mitglieder regierungsfreundlicher Milizen und Sicherheitsposten beispielsweise in den Distrikten Chahrbulak (TN 9.1.2019; vgl. TN 10.1.2019), Chemtal (TN 11.9.2018; vgl. TN 6.7.2018), Dawlatabad (PAJ 3.9.2018; vgl. RFE/RL 4.9.2018) und Nahri Shahi (ACCORD 30.4.2019) an.

Berichten zufolge, errichten die Taliban auf wichtigen Verbindungsstraßen, die unterschiedliche Provinzen miteinander verbinden, immer wieder Kontrollpunkte. Dadurch wird das Pendeln für Regierungsangestellte erschwert (TN 22.8.2019; vgl. 10.8.2019). Insbesondere der Abschnitt zwischen den Provinzen Balkh und Jawjzan ist von dieser Unsicherheit betroffen (TN 10.8.2019).

[…]

2.13. Herat

Letzte Änderung: 22.4.2020

Die Provinz Herat liegt im Westen Afghanistans und teilt eine internationale Grenze mit dem Iran im Westen und Turkmenistan im Norden. Weiters grenzt Herat an die Provinzen Badghis im Nordosten, Ghor im Osten und Farah im Süden (UNOCHA 4.2014). Herat ist in 16 Distrikte unterteilt: Adraskan, Chishti Sharif, Fersi, Ghoryan, Gulran, Guzera (Nizam-i-Shahid), Herat, Enjil, Karrukh, Kohsan, Kushk (Rubat-i-Sangi), Kushk-i-Kohna, Obe/Awba/Obah/Obeh (AAN 9.12.2018; vgl. PAJ o.D., PAJ 13.6.2019), Pashtun Zarghun, Shindand, Zendahjan. Zudem bestehen vier weitere „temporäre“ Distrikte – Poshtko, Koh-e-Zore (Koh-e Zawar), Zawol und Zerko (CSO 2019; vgl. IEC 2018) –, die zum Zweck einer zielgerichteteren Mittelverteilung aus dem Distrikt Shindand herausgelöst wurden (AAN 3.7.2015; vgl. PAJ 1.3.2015). Die Provinzhauptstadt von Herat ist Herat-Stadt (CSO 2019). Herat ist eine der größten Provinzen Afghanistans (PAJ o.D.).

Die CSO schätzt die Bevölkerung der Provinz für den Zeitraum 2019-20 auf 2.095.117 Einwohner, 556.205 davon in der Provinzhauptstadt (CSO 2019). Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen (PAJ o.D.). Herat-Stadt war historisch gesehen eine tadschikisch dominierte Enklave in einer paschtunischen Mehrheits-Provinz, die beträchtliche Hazara- und Aimaq-Minderheiten umfasst (USIP 2015). Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert. Der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 besonders gestiegen, da viele aus dem Iran rückgeführt oder aus den Provinzen Zentralafghanistans vertrieben wurden (AAN 3.2.2019). Der Grad an ethnischer Segregation ist in Herat heute ausgeprägt (USIP 2015; vgl. BFA Staatendokumentation 13.6.2019).

Die Provinz ist durch die Ring Road mit anderen Großstädten verbunden (TD 5.12.2017). Eine Hauptstraße führt von Herat ostwärts nach Ghor und Bamyan und weiter nach Kabul. Andere Autobahn verbinden die Provinzhauptstadt mit dem afghanisch-turkmenischen Grenzübergang bei Torghundi sowie mit der afghanisch-iranischen Grenzüberquerung bei Islam Qala (iMMAP 19.9.2017). Ein Flughafen mit Linienflugbetrieb zu internationalen und nationalen Destinationen liegt in der unmittelbaren Nachbarschaft von Herat-Stadt (BFA Staatendokumentation 25.3.2019).

Laut UNODC Opium Survey 2018 gehörte Herat 2018 nicht zu den zehn wichtigsten Schlafmohn anbauenden Provinzen Afghanistans. 2018 sank der Schlafmohnanbau in Herat im Vergleich zu 2017 um 46%. Die wichtigsten Anbaugebiete für Schlafmohn waren im Jahr 2018 die Distrikte Kushk und Shindand (UNODC/MCN 11.2018).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten durchzuführen (KP 19.5.2019; vgl. KP 17.12.2018). Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban (BFA Staatendokumentation 13.6.2019).

Auch im Vergleich zu Kabul gilt Herat-Stadt einem Mitarbeiter von IOM-Kabul zufolge zwar als sicherere Stadt, doch gleichzeitig wird ein Anstieg der Gesetzlosigkeit und Kriminalität verzeichnet: Raubüberfälle nahmen zu und ein Mitarbeiter der Vereinten Nationen wurde beispielsweise überfallen und ausgeraubt. Entführungen finden gelegentlich statt, wenn auch in Herat nicht in solch einem Ausmaß wie in Kabul (BFA Staatendokumentation 13.6.2019).

Der Distrikt mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen ist der an Farah angrenzende Distrikt Shindand, wo die Taliban zahlreiche Gebiete kontrollieren. Wegen der großen US-Basis, die in Shindand noch immer operativ ist, kontrollieren die Taliban jedoch nicht den gesamten Distrikt. Aufgrund der ganz Afghanistan betreffenden territorialen Expansion der Taliban in den vergangenen Jahren sah sich jedoch auch die Provinz Herat zunehmend von Kampfhandlungen betroffen. Dennoch ist das Ausmaß der Gewalt im Vergleich zu einigen Gebieten des Ostens, Südostens, Südens und Nordens Afghanistans deutlich niedriger (BFA Staatendokumentation 13.6.2019).

Innerhalb der Taliban kam es nach der Bekanntmachung des Todes von Taliban-Führer Mullah Omar im Jahr 2015 zu Friktionen (AAN 11.1.2017; vgl. RUSI 16.3.2016; SAS 2.11.2018). Mullah Rasoul, der eine versöhnlichere Haltung gegenüber der Regierung in Kabul einnahm, spaltete sich zusammen mit rund 1.000 Kämpfern von der Taliban-Hauptgruppe ab. Die Regierungstruppen kämpfen in Herat angeblich nicht gegen die Rasoul-Gruppe, die sich für Friedensgespräche und den Schutz eines großen Pipeline-Projekts der Regierung in der Region einsetzt (SAS 2.11.2018). Innerhalb der Taliban-Hauptfraktion wurde der Schattengouverneur von Herat nach dem Waffenstillstand mit den Regierungstruppen zum Eid al-Fitr-Fest im Juni 2018 durch einen als Hardliner bekannten Taliban aus Kandahar ersetzt (UNSC 13.6.2019).

2017 und 2018 hat der IS bzw. ISKP Berichten zufolge drei Selbstmordanschläge in Herat-Stadt durchgeführt (taz 3.8.2017; Reuters 25.3.2018).

Aufseiten der Regierung ist das 207. Zafar-Corps der ANA für die Sicherheit in der Provinz Herat verantwortlich (USDOD 6.2019; vgl. PAJ 2.1.2019), das der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - West (TAAC-W) untersteht, welche von italienischen Streitkräften geleitet wird (USDOD 6.2019; vgl. KP 16.12.2018).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

[…]

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 400 zivile Opfer (144 Tote und 256 Verletzte) in der Provinz Herat. Dies entspricht einer Steigerung von 54% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierte Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge), gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen (UNAMA 2.2020).

In der Provinz Herat kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen (KP 16.6.2019; vgl. KP 28.9.2019, KP 29.6.2019, KP 17.6.2019, 21.5.2019). Unter anderem kam es dabei auch zu Luftangriffen durch die afghanischen Sicherheitskräfte (KP 16.6.2019; vgl. AN 23.6.2019). In manchen Fällen wurden bei Drohnenangriffen Talibanaufständische und ihre Führer getötet (AN 23.6.2019; vgl. KP 17.12.2018; KP 25.12.2018). Der volatilste Distrikt von Herat ist Shindand. Dort kommt es zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen rivalisierenden Taliban-Fraktionen, wie auch zwischen den Taliban und regierungsfreundlichen Kräften (NYTM 12.12.2018; AJ 7.12.2018; AN 30.11.2018; KP 28.4.2018; VoA 13.4.2018). Regierungskräfte führten beispielsweise im Dezember 2018 (KP 17.12.2018) und Januar 2019 Operationen in Shindand durch (KP 26.1.2019). Obe ist neben Shindand ein weiterer unsicherer Distrikt in Herat (TN 8.9.2018). Im Dezember 2018 wurde berichtet, dass die Kontrolle über Obe derzeit nicht statisch ist, sondern sich täglich ändert und sich in einer Pattsituation befindet (AAN 9.12.2018). Im Juni 2019 griffen die Aufständischen beispielsweise mehrere Posten der Polizei im Distrikt an (AT 2.6.2019; vgl. PAJ 13.6.2019) und die Sicherheitskräfte führten zum Beispiel Anfang Juli 2019 in Obe Operationen durch (XI 11.7.2019). Außerdem kommt es in unterschiedlichen Distrikten immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Taliban und Sicherheitskräften (KP 5.7.2019; vgl. PAJ 30.6.2019) wie z.B in den Distrikten Adraskan, Fersi, Kushk-i-Kohna, Obe, Rabat Sangi, Shindand und Zawol (PAJ 30.6.2019).

Auf der Autobahn zwischen Kabul und Herat sowie Herat und Farah werden Reisende immer wieder von Taliban angehalten; diese fordern von Händlern und anderen Reisenden Schutzgelder (ST 14.12.2018).

[…]

2.35. Erreichbarkeit

Letzte Änderung: 22.4.2020

[…]

Internationale Flughäfen in Afghanistan

In Afghanistan gibt es insgesamt vier internationale Flughäfen; alle vier werden für militärische und zivile Flugdienste genutzt (Migrationsverket 23.1.2018). Trotz jahrelanger Konflikte verzeichnet die afghanische Luftfahrtindustrie einen Anstieg in der Zahl ihrer wettbewerbsfähigen Flugrouten. Daraus folgt ein erleichterter Zugang zu Flügen für die afghanische Bevölkerung. Die heimischen Flugdienste sehen sich mit einer wachsenden Konkurrenz durch verschiedene Flugunternehmen konfrontiert. Flugrouten wie Kabul – Herat und Kabul – Kandahar, die früher ausschließlich von Ariana Afghan Airlines angeboten wurden, werden nun auch von internationalen Fluggesellschaften abgedeckt (AG 3.11.2017).

[…]

Internationaler Flughafen Mazar-e Sharif

Im Jahr 2013 wurde der internationale Maulana Jalaluddin Balkhi Flughafen in Mazar-e Sharif, der Hauptstadt der Provinz Balkh, eröffnet (PAJ 9.6.2013). Nachdem der Flughafen Mazar-e Sharif derzeit die Anforderungen eines erhöhten Personen- und Frachtverkehrsaufkommens nicht erfüllt, ist es notwendig, den Flughafen nach internationalen Standards auszubauen, inklusive entsprechender Einrichtungen der Luftraumüberwachung und der Flugverkehrskontrolle. Die afghanische Regierung will dieses Projekt gemeinsam mit der deutschen Bundesregierung und finanzieller Unterstützung des ADFD (Abu Dhabi Fund for Development) angehen. Langfristig soll der Flughafen als internationaler Verkehrsknotenpunkt zwischen Europa und Asien die wirtschaftliche Entwicklung der Region entscheidend verbessern (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Folgende internationale Airline fliegt nach Maza-e Sharif: Turkish Airlines aus Istanbul (Flightradar 4.11.10.2019).

Nationale Airlines (Kam Air und Ariana Afghan Airlines) fliegen Mazar-e Sharif international aus Moskau, Jeddah und Medina an (Flightradar 4.11.10.2019).

Innerstaatlich gehen Flüge von und nach Mazar-e Sharif (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zu den Flughäfen von Kabul und Maimana (Flightradar 4.11.10.2019).

[…]

Internationaler Flughafen Herat

Der internationale Flughafen Herat befindet sich 10 km von der Provinzhauptstadt Herat entfernt. Der Flughafen wird u.a. von den Sicherheitskräften der ISAF benutzt, die einen Stützpunkt neben dem Flughafen haben. 2011 wurde ein neues Terminal mit Finanzierung der italienischen Regierung errichtet (HIA o.D.; ACAA o.D).

Nationale Airlines (Kam Air und Ariana Afghan Airlines) fliegen Herat international aus Medina und Delhi an (Flightradar 4.11.10.2019).

Innerstaatlich gehen Flüge von und nach Herat (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zu den Flughäfen nach Kabul, Farah und Chighcheran (Flightradar 4.11.10.2019).

[…]

18.1. Meldewesen

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, ebenso wenig „gelbe Seiten” oder Datenbanken mit Telefonnummerneinträgen (EASO 2.2018; vgl. BFA 13.6.2019). Auch muss sich ein Neuankömmling bei Ankunft nicht in dem neuen Ort registrieren. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer (BFA 13.6.2019). Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (AA 2.9.2019).

[…]

20. Grundversorgung

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt (AA 2.9.2019; AF 2018). Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2018 lediglich Platz 168 von 189 des Human Development Index. Die Armutsrate hat sich laut Weltbank von 38% (2011) auf 55% (2016) verschlechtert. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant: Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte gibt es vielerorts nur unzureichende Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport (AA 2.9.2019).

Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern (AF 2018; vgl. WB 7.2019). Jedoch konnte die afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern (USIP 15.8.2019; vgl. WB 7.2019).

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt (ILO 5.2012; vgl. ACCORD 7.12.2018). Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (FAO 2018; vgl. Haider/Kumar 2018), wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%; WB 7.2019). Das BIP Afghanistans betrug im Jahr 2018 19,36 Mrd. US-Dollar (WB o.D.). Die Inflation lag im Jahr 2018 durchschnittlich bei 0,6% und wird für 2019 auf 3,1% prognostiziert (WB 7.2019).

Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird (WB 8.2018). Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8%. Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren. Es wird erwartet, dass sich das Real-BIP in der ersten Hälfte des Jahres 2019 vor allem aufgrund der sich entspannenden Situation hinsichtlich der Dürre und einer sich verbessernden landwirtschaftlichen Produktion erhöht (WB 7.2019).

Arbeitsmarkt

Schätzungen zufolge sind 44% der Bevölkerung unter 15 Jahren und 54% zwischen 15 und 64 Jahren alt (ILO 2.4.2018). Am Arbeitsmarkt müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können (BFA 4.2018). Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können (WB 8.2018). In Anbetracht von fehlendem Wirtschaftswachstum und eingeschränktem Budget für öffentliche Ausgaben, stellt dies eine gewaltige Herausforderung dar. Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos – Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Schätzungen zufolge sind 877.000 Jugendliche arbeitslos; zwei Drittel von ihnen sind junge Männer (ca. 500.000) (BFA 4.2018; vgl. CSO 2018).

Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Mensche

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten