TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/30 W231 2214779-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 30.10.2020
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Entscheidungsdatum

30.10.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2

Spruch

W231 2214779-1/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Birgit HAVRANEK als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Dr. Ralf Heinrich HÖFER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.01.2019, Zl. XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der Beschwerdeführer (in Folge: BF) stellte am 31.08.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Zuvor hatte der BF als unbegleiteter Minderjähriger einen Asylantrag in Bulgarien gestellt, aufgrund der schlechten Bedingungen für Asylwerber hat der BF den Ausgang seines Verfahrens dort nicht abgewartet und er reiste nach Österreich; eine Rücküberstellung des BF nach Bulgarien war gem. Art. 8 Abs. 4 Dublin III- VO nicht möglich.

I.2. Anlässlich seiner Erstbefragung am selben Tag gab der BF an, Staatsangehöriger Afghanistans zu sein, der Volksgruppe der Tadschiken und der sunnitischen Richtung des Islam anzugehören. Er stamme aus Kabul, und habe dort 10 Jahre die Schule besucht. Er habe Afghanistan verlassen, weil sein Vater Beamter sei und im Zuge seiner Tätigkeit mehrere Drogendealer festgenommen habe. Er sei entführt worden, die Entführer hätten seinen Vater angerufen und einer der Entführer habe dem BF zur Flucht verholfen. Einer der Entführer habe dem BF den Rat gegeben, seinem Vater auszurichten, dass er sie in Ruhe lassen solle. Weitere Gründe für die Ausreise aus Afghanistan habe er nicht.

I.3. Am 06.09.2017 wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Erstaufnahme Ost niederschriftlich einvernommen. Der BF gab an, 16 Jahre alt zu sein, er habe in Österreich keine Dokumente, aber in Afghanistan eine Tazkira. Er könne sich das Dokument aber nicht schicken lassen. Er habe keinen Kontakt zu seiner Familie, er habe die Telefonnummer seines Vaters verloren, ihn aber mittlerweile auf Facebook gefunden, und ihm eine Freundschaftsanfrage geschickt, die der Vater noch nicht akzeptiert habe. Er sei in Kabul zehn Jahre zur Schule (Volksschule, Hauptschule, Gymnasium ohne Abschluss) gegangen und Schüler gewesen.

I.4. Der BF wurde in der Folge zu einer multifaktoriellen Altersdiagnostik zugewiesen; es sei ein Alter von 18,5 Jahren zum Untersuchungszeitpunkt (10.10.2017) anzunehmen. Als fiktives Geburtsdatum wurde der XXXX festgelegt.

I.5. Am 24.09.2018 wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, RD Tirol (in Folge: BFA) einvernommen. Er legte ein Konvolut von Unterlagen, u.a. solchen, die er aus Afghanistan erhalten hatte, vor. Zu seinen familiären Verhältnissen sagte er aus, er sein in Kabul geboren und aufgewachsen, sein Vater, seine Mutter und seine Schwestern seien in Kabul und lebten in einem Miethaus, einer seiner Brüder sei getötet worden. Zu seiner Familie habe er selten Kontakt, er habe auch die Telefonnummer seines Vaters. Er habe noch einen Onkel, einen Cousin und eine Cousine ms. in Kabul. Freunde und Bekannte habe er in Kabul nicht mehr. Seine Schleppung hätten sein Vater und sein Onkel organisiert und finanziert. Neben Dari spreche er ein wenig Paschtu und Deutsch.

I.6. Zu seinen Fluchtgründen sagte er zusammengefasst aus, dass sein Vater für das afghanische Innenministerium gearbeitet habe, er sei zu Studienzwecken auch in die USA geflogen. Nachdem er zurückgekommen sei, sei er Polizeidirektor geworden. Sein Vater habe Drogendealer und Leute, die gegen die Regierung seien, festgenommen, von denen er nach der Freialssung wieder bedroht worden sei. Eines Tages sei der BF auf dem Weg zu seinem Onkel/Cousin gewesen, als er von fünf Personen in einem weißen Auto entführt worden sei. Der BF habe einen der Entführer daran erinnert, dass auch er einen Sohn habe, und dieser habe ihm dann zur Flucht verholfen. Nach ca. einer Woche sei er ausgereist, seine Flucht sei vom Vater und von seinem Onkel organisiert und finanziert worden. Inzwischen sei sein Bruder von diesen Leuten getötet worden.

I.7. Das BFA wies mit dem angefochtenen Bescheid vom 18.01.2019 den gegenständlichen Antrag des BF auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs.1 Z 13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan ab (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.) und dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).

Begründend heißt es, dass der BF eine aktuelle asylrelevante Verfolgung im Herkunftsstaat nicht glaubhaft habe machen können. Es sprächen auch keine Gründe für die Zuerkennung von subsidiärem Schutz. Schließlich würden die öffentlichen Interessen an der Außerlandesbringung des BF gegenüber seinen privaten Interessen am Verbleib in Österreich überwiegen.

I.8. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, fristgerecht eingebrachte und zulässige Beschwerde. Der BF focht den Bescheid wegen inhaltlicher Fehler, Verfahrensmängeln und unrichtiger rechtlicher Beurteilung an.

I.9. Am 05.10.2020 fand am Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung im Beisein des BF und seiner anwaltlichen Rechtsvertretung statt. Auf die Verlesung des gesamten Akteninhalts wurde verzichtet. Dazu wurden von der erkennenden Richterin das aktuelle „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Afghanistan 13.11.2019 idF KI 21.07.2020“ sowie die aktuellen UNHCR-Richtlinien 2018 und EASO-Richtlinien in das Verfahren eingebracht.

Weiters wurden die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation „Afghanistan, Nationalpolizei, Dienstgrade, Dienstwaffe, Uniformen, zuständiges Ministerium, Ausbildung und Dienstende“ vom 24.05.2018 und die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation „Afghanistan Dienstausweise der afghanischen Polizei“ vom 11.01.2018 in der Verhandlung in das Verfahren eingeführt. Der BF verzichtete auf die Abgabe einer Stellungnahme dazu.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

II.1. Feststellungen:

II.1.1. Zur Identität und sozialem Hintergrund des BF:

Der BF ist im Entscheidungszeitpunkt volljährig, führt den im Spruch angeführten Namen und das dort genannte Geburtsdatum, ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Tadschiken und der sunnitischen Richtung des Islam an. Er ist ledig. Seine Muttersprache ist Dari, er spricht auch ein wenig Paschtu. Die Identität des BF steht nicht fest.

Der BF wurde in Kabul geboren und hat dort mit seiner Familie gelebt. Er hat zehn Jahre lang die Schule (Volksschule, Hauptschule, Gymnasium ohne Abschluss) in Kabul besucht. Die Familie hatte keine finanziellen Probleme, sie besaß zwei Autos und Geld. Dass der Vater des BF bei der Ausreise des BF „Polizeichef“ der afghanischen Nationalpolizei war und im Innenministerium arbeitete, kann nicht festgestellt werden. Das damit im Zusammenhang stehende Vorbringen, dass die Eltern und Geschwister des BF Kabul/Afghanistan mittlerweile wegen Bedrohungen des Vaters verlassen haben, kann somit ebenfalls nicht festgestellt werden. Weiters lebt in Kabul noch zumindest der der Cousin des BF (Sohn seines Onkels). Der Onkel und der Vater des BF haben gemeinsam die Flucht des BF organisiert. Der BF bringt vor, dass sein Onkel mittlerweile eines natürlichen Todes verstorben sei.

Der BF ist gesund und arbeitsfähig. Er gehört keiner Risikogruppe in Bezug auf COVID-19 an.

II.1.2. Zum Leben des BF in Österreich:

Der BF stellte am 31.08.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Zuvor hat der BF als unbegleiteter minderjähriger Asylwerber einen Asylantrag in Bulgarien gestellt, aufgrund der schlechten Bedingungen für Asylwerber hat der BF den Ausgang seines Verfahrens dort nicht abgewartet. Eine Rückführung des BF nach Bulgarien war nicht möglich.

Er hat in Österreich keine familiären Anknüpfungspunkte.

Der BF hat in Österreich Deutschkurse besucht und die Prüfungen bis zum Niveau A1 abgelegt; er weist Deutschkenntnisse auf diesem Niveau auf.

Weiters hat er die Kurse „Basisbildung für Jugendliche“ und „Basisbildung“ sowie „Berufsorientierung“ und „Kompetenzanalyse“ absolviert und die Pflichtschulabschlussprüfung bestanden.

Empfehlungsschreiben für den BF liegen vor. Der BF wird als höflich, aufgeschlossen, fleißig und ehrgeizig sowie interessiert an Ausbildung beschrieben.

Er geht keiner Erwerbstätigkeit nach und lebt von der Grundversorgung.

Der BF interessiert sich nicht für die (österreichische) Politik und konnte ein tiefergehendes Interesse für die österreichische Kultur und Geschichte nicht substantiieren.

Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

II.1.3. Zum Fluchtvorbringen des BF:

Der BF ist in Afghanistan nicht vorbestraft und er hatte keine Probleme mit Behörden, Gerichten oder der Polizei.

Der BF konnte nicht glaubhaft machen, dass er seinen Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung durch Feinde seines Vaters verlassen hat oder nach einer allfälligen Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte.

II.1.4. Zur Rückkehrsituation des BF:

Der BF wäre im Fall der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan nicht in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht.

Der BF kann in seine Herkunftsstadt Kabul (Afghanistan) zurückkehren, wo der BF geboren und aufgewachsen ist und Angehörige hat.

Der BF kann sich bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch in Mazar-e Sharif niederlassen. Dort kann der BF grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und dort einer Arbeit nachgehen und sich selber erhalten: Der BF hat zehn Jahre lang die Schule besucht, auch in Österreich einen Pflichtschulabschluss absolviert und wird als höflich, aufgeschlossen, fleißig und ehrgeizig beschrieben. Seine Existenz könnte er – zumindest anfänglich – mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Der BF hat sein gesamtes Leben bis zu seiner Ausreise in seinem Familienverband in Afghanistan, Kabul, verbracht, er ist dort geboren und aufgewachsen und wurde dort sozialisiert. Er spricht Dari und ein wenig Paschtu. Er entstammt einer Familie, die keine finanziellen Probleme hatte. Der BF hat auch Angehörige in Kabul; dass seine Eltern im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Vaters des BF als „Polizeichef“ Kabul oder Afghanistan verlassen haben, kann nicht festgestellt werden. Der BF gibt an, sein Onkel, ein Ingenieur, ebenfalls aufhältig in Kabul, sei mittlerweile eines natürlichen Todes verstorben, jedenfalls ein Cousin lebt aber noch dort. Es besteht kein plausibler Grund zur Annahme, dass der BF bei einer Rückkehr nicht von seinen Angehörigen – zumindest finanziell – unterstützt werden könnte. Eine allfällige räumliche Trennung steht dem nicht entgegen.

Der BF kann auch Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen. Es ist dem BF möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten in Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

Auch die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie bildet kein Rückkehrhindernis. Der BF ist gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

II.1.5. Zur aktuellen Situation in Afghanistan werden folgende Feststellungen getroffen:

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (Länderinformationsblatt für Afghanistan (in der Folge auch „LIB“) vom 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 1. Politische Lage).

COVID-19:

COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. In Afghanistan wurden bis 13. September 2020 38 641 Erkrankungsfälle registriert und 1.420 Todesfälle offiziell bestätigt (https://covid19.who.int/region/emro/country/af, Weekly Epidemiological Update 13.09.2020).

Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck) auf.

Berichten zufolge, haben sich in Afghanistan mehr als 35.000 Menschen mit COVID-19 angesteckt (WHO 20.7.2020; vgl. JHU 20.7.2020, OCHA 16.7.2020), mehr als 1.280 sind daran gestorben. Aufgrund der begrenzten Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der begrenzten Testkapazitäten sowie des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt zu wenig gemeldet. 10 Prozent der insgesamt bestätigten COVID-19-Fälle entfallen auf das Gesundheitspersonal. Kabul ist hinsichtlich der bestätigten Fälle nach wie vor der am stärksten betroffene Teil des Landes, gefolgt von den Provinzen Herat, Balkh, Nangarhar und Kandahar. Beamte in der Provinz Herat sagten, dass der Strom afghanischer Flüchtlinge, die aus dem Iran zurückkehren, und die Nachlässigkeit der Menschen, die Gesundheitsrichtlinien zu befolgen, die Möglichkeit einer neuen Welle des Virus erhöht haben, und dass diese in einigen Gebieten bereits begonnen hätte. Am 18.7.2020 wurde mit 60 neuen COVID-19 Fällen der niedrigste tägliche Anstieg seit drei Monaten verzeichnet – wobei an diesem Tag landesweit nur 194 Tests durchgeführt wurden (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).

Krankenhäuser und Kliniken berichten weiterhin über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19. Diese Herausforderungen stehen im Zusammenhang mit der Bereitstellung von persönlicher Schutzausrüstung (PSA), Testkits und medizinischem Material sowie mit der begrenzten Anzahl geschulter Mitarbeiter - noch verschärft durch die Zahl des erkrankten Gesundheitspersonals. Es besteht nach wie vor ein dringender Bedarf an mehr Laborequipment sowie an der Stärkung der personellen Kapazitäten und der operativen Unterstützung (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).

Maßnahmen der afghanischen Regierung und internationale Hilfe

Die landesweiten Sperrmaßnahmen der Regierung Afghanistans bleiben in Kraft. Universitäten und Schulen bleiben weiterhin geschlossen. Die Regierung Afghanistans gab am 6.6.2020 bekannt, dass sie die landesweite Abriegelung um drei weitere Monate verlängern und neue Gesundheitsrichtlinien für die Bürger herausgeben werde. Darüber hinaus hat die Regierung die Schließung von Schulen um weitere drei Monate bis Ende August verlängert (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).

Berichten zufolge werden die Vorgaben der Regierung nicht befolgt, und die Durchsetzung war nachsichtig. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus unterscheiden sich weiterhin von Provinz zu Provinz, in denen die lokalen Behörden über die Umsetzung der Maßnahmen entscheiden. Zwar behindern die Sperrmaßnahmen der Provinzen weiterhin periodisch die Bewegung der humanitären Helfer, doch hat sich die Situation in den letzten Wochen deutlich verbessert, und es wurden weniger Behinderungen gemeldet (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).

Einwohner Kabuls und eine Reihe von Ärzten stellten am 18.7.2020 die Art und Weise in Frage, wie das afghanische Gesundheitsministerium mit der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie im Land umgegangen ist, und sagten, das Gesundheitsministerium habe es trotz massiver internationaler Gelder versäumt, richtig auf die Pandemie zu reagieren. Es gibt Berichte wonach die Bürger angeben, dass sie ihr Vertrauen in öffentliche Krankenhäuser verloren haben und niemand mehr in öffentliche Krankenhäuser geht, um Tests oder Behandlungen durchzuführen (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).

Beamte des afghanischen Gesundheitsministeriums erklärten, dass die Zahl der aktiven Fälle von COVID-19 in den Städten zurückgegangen ist, die Pandemie in den Dörfern und in den abgelegenen Regionen des Landes jedoch zunimmt. Der Gesundheitsminister gab an, dass 500 Beatmungsgeräte aus Deutschland angekauft wurden und 106 davon in den Provinzen verteilt werden würden (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).

Am Samstag den 18.7.2020 kündete die afghanische Regierung den Start des Dastarkhan-e-Milli-Programms als Teil ihrer Bemühungen an, Haushalten inmitten der COVID-19-Pandemie zu helfen, die sich in wirtschaftlicher Not befinden. Auf der Grundlage des Programms will die Regierung in der ersten Phase 86 Millionen Dollar und dann in der zweiten Phase 158 Millionen Dollar bereitstellen, um Menschen im ganzen Land mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die erste Phase soll über 1,7 Millionen Familien in 13.000 Dörfern in 34 Provinzen des Landes abdecken (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).

Die Weltbank genehmigte am 15.7.2020 einen Zuschuss in Höhe von 200 Millionen US-Dollar, um Afghanistan dabei zu unterstützen, die Auswirkungen von COVID-19 zu mildern und gefährdeten Menschen und Unternehmen Hilfe zu leisten (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).

Auszugsweise Lage in den Provinzen Afghanistans

Dieselben Maßnahmen – nämlich Einschränkungen und Begrenzungen der täglichen Aktivitäten, des Geschäftslebens und des gesellschaftlichen Lebens – werden in allen folgend angeführten Provinzen durchgeführt. Die Regierung hat eine Reihe verbindlicher gesundheitlicher und sozialer Distanzierungsmaßnahmen eingeführt, wie z.B. das obligatorische Tragen von Gesichtsmasken an öffentlichen Orten, das Einhalten eines Sicherheitsabstandes von zwei Metern in der Öffentlichkeit und ein Verbot von Versammlungen mit mehr als zehn Personen. Öffentliche und touristische Plätze, Parks, Sportanlagen, Schulen, Universitäten und Bildungseinrichtungen sind geschlossen; die Dienstzeiten im privaten und öffentlichen Sektor sind auf 6 Stunden pro Tag beschränkt und die Beschäftigten werden in zwei ungerade und gerade Tagesschichten eingeteilt (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).

Die meisten Hotels, Teehäuser und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19 Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).

In der Provinz Kabul gibt es zwei öffentliche Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln mit 200 bzw. 100 Betten. Aufgrund der hohen Anzahl von COVID-19-Fällen im Land und der unzureichenden Kapazität der öffentlichen Krankenhäuser hat die Regierung kürzlich auch privaten Krankenhäusern die Behandlung von COVID-19-Patienten gestattet. Kabul sieht sich aufgrund von Regen- und Schneemangel, einer boomenden Bevölkerung und verschwenderischem Wasserverbrauch mit Wasserknappheit konfrontiert. Außerdem leben immer noch rund 12 Prozent der Menschen in Kabul unter der Armutsgrenze, was bedeutet, dass oftmals ein erschwerter Zugang zu Wasser besteht (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).

In der Provinz Balkh gibt es ein Krankenhaus, welches COVID-19 Patienten behandelt und über 200 Betten verfügt. Es gibt Berichte, dass die Bewohner einiger Distrikte der Provinz mit Wasserknappheit zu kämpfen hatten. Darüber hinaus hatten die Menschen in einigen Distrikten Schwierigkeiten mit dem Zugang zu ausreichender Nahrung, insbesondere im Zuge der COVID-19-Pandemie (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).

Wirtschaftliche Lage in Afghanistan

Verschiedene COVID-19-Modelle zeigen, dass der Höhepunkt des COVID-19-Ausbruchs in Afghanistan zwischen Ende Juli und Anfang August erwartet wird, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft Afghanistans und das Wohlergehen der Bevölkerung haben wird. Es herrscht weiterhin Besorgnis seitens humanitärer Helfer, über die Auswirkungen ausgedehnter Sperrmaßnahmen auf die am stärksten gefährdeten Menschen – insbesondere auf Menschen mit Behinderungen und Familien – die auf Gelegenheitsarbeit angewiesen sind und denen alternative Einkommensquellen fehlen. Der Marktbeobachtung des World Food Programme (WFP) zufolge ist der durchschnittliche Weizenmehlpreis zwischen dem 14. März und dem 15. Juli um 12 Prozent gestiegen, während die Kosten für Hülsenfrüchte, Zucker, Speiseöl und Reis (minderwertige Qualität) im gleichen Zeitraum um 20 – 31 Prozent gestiegen sind. Einem Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) und des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht (MAIL) zufolge sind über 20 Prozent der befragten Bauern nicht in der Lage, ihre nächste Ernte anzubauen, wobei der fehlende Zugang zu landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und die COVID-19-Beschränkungen als Schlüsselfaktoren genannt werden. Darüber hinaus sind die meisten Weizen-, Obst-, Gemüse- und Milchverarbeitungsbetriebe derzeit nur teilweise oder gar nicht ausgelastet, wobei die COVID-19-Beschränkungen als ein Hauptgrund für die Reduzierung der Betriebe genannt werden. Die große Mehrheit der Händler berichtete von gestiegenen Preisen für Weizen, frische Lebensmittel, Schafe/Ziegen, Rinder und Transport im Vergleich zur gleichen Zeit des Vorjahres. Frischwarenhändler auf Provinz- und nationaler Ebene sahen sich im Vergleich zu Händlern auf Distriktebene mit mehr Einschränkungen konfrontiert, während die große Mehrheit der Händler laut dem Bericht von teilweisen Marktschließungen aufgrund von COVID-19 berichtete (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).

Am 19.7.2020 erfolgte die erste Lieferung afghanischer Waren in zwei Lastwagen nach Indien, nachdem Pakistan die Wiederaufnahme afghanischer Exporte nach Indien angekündigt hatte um den Transithandel zu erleichtern. Am 12.7.2020 öffnete Pakistan auch die Grenzübergänge Angor Ada und Dand-e-Patan in den Provinzen Paktia und Paktika für afghanische Waren, fast zwei Wochen nachdem es die Grenzübergänge Spin Boldak, Torkham und Ghulam Khan geöffnet hatte (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).

Einreise und Bewegungsfreiheit

Die Türkei hat, nachdem internationale Flüge ab 11.6.2020 wieder nach und nach aufgenommen wurden, am 19.7.2020 wegen der COVID-19-Pandemie Flüge in den Iran und nach Afghanistan bis auf weiteres ausgesetzt, wie das Ministerium für Verkehr und Infrastruktur mitteilte (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).

Bestimmte öffentliche Verkehrsmittel wie Busse, die mehr als vier Passagiere befördern, dürfen nicht verkehren. Obwohl sich die Regierung nicht dazu geäußert hat, die Reisebeschränkungen für die Bürger aufzuheben, um die Ausbreitung von COVID-19 zu verhindern, hat sich der Verkehr in den Städten wieder normalisiert, und Restaurants und Parks sind wieder geöffnet (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).

Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen

In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (LIB 13.11.2019 idF 29.06.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).

Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei dem bedürftige Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden. In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes. Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern. Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (LIB 13.11.2019 idF 29.06.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).

Taliban und COVID-19

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommission gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen. Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (LIB 13.11.2019 idF 29.06.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB 13.11.2019 idF 29.06.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).

Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (LIB 13.11.2019 idF 29.06.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:

?        Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)

?        Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (LIB 13.11.2019 idF 29.06.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (LIB 13.11.2019 idF 29.06.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).

Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (LIB 13.11.2019 idF 29.06.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (LIB 13.11.2019 idF 29.06.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).

Sicherheitslage:

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (LIB 13.11.2019 idF 29.06.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage). Diese ist jedoch regional und sogar innerhalb der Provinzen von Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedlich (EASO Country Guidance Afghanistan, Juni 2019, S. 89ff; LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417. Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen. Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17), landesweit betrug die Zahl 88 (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet. Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen. Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt. Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien. Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff. Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage):

Taliban

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada– Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes. Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde. Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind. Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt. Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000. Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida. Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani, einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück. Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban. Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000, bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern. Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

Der ISKP geriet in dessen Hochburg in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck. Jahrelange konzertierten sich Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese Hochburgen. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in diesen Regionen. So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen. Schlussendlich ist im November 2019 die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen. Über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Zwar wurde der ISKP im November 2019 weitgehend aus der Provinz Nangarhar vertrieben, jedoch soll er weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein. Die landesweite Mannstärke des ISKP wurde seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf 300 Kämpfer reduziert (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 8.11.2019-6.2.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen. Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

Der ISKP verurteilt die Taliban als "Abtrünnige", die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen. Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban. Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken, zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont. Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

Im Rahmen der Friedensgespräche mit US-Vertretern haben die Taliban angeblich im Jänner 2019 zugestimmt, internationale Terrorgruppen wie Al-Qaida aus Afghanistan zu verbannen (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).

Lage in Kabul:

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 5.029.850 Personen für den Zeitraum 2019-20. Die Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten. Sie besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2.1. Kabul).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2.1. Kabul).

Aufgrund eben dieser öffentlichkeitswirksamer Angriffe auf Kabul-Stadt kündigte die afghanische Regierung bereits im August 2017 die Entwicklung eines neuen Sicherheitsplans für Kabul an. So wurde unter anderem das Green Village errichtet, ein stark gesichertes Gelände im Osten der Stadt, in dem unter anderem, Hilfsorganisationen und internationale Organisationen sowie ein Wohngelände für Ausländer untergebracht sind. Die Anlage wird stark von afghanischen Sicherheitskräften und privaten Sicherheitsmännern gesichert. Die Green Zone hingegen ist ein separater Teil, der nicht unweit des Green Villages liegt. Die Green Zone ist ein stark gesicherter Teil Kabuls, in dem sich mehrere Botschaften befinden – so z.B. auch die US-amerikanische Botschaft und andere britische Einrichtungen (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2.1. Kabul).

In Bezug auf die Anwesenheit von staatlichen Sicherheitskräften liegt die Provinz Kabul mit Ausnahme des Distrikts Surubi im Verantwortungsbereich der 111. ANA Capital Division, die unter der Leitung von türkischen Truppen und mit Kontingenten anderer Nationen der NATO-Mission Train, Advise and Assist Command – Capital untersteht. Der Distrikt Surubi fällt in die Zuständigkeit des 201. ANA Corps. Darüber hinaus wurde eine spezielle Krisenreaktionseinheit (Crisis Response Unit) innerhalb der afghanischen Polizei, um Angriffe zu verhindern und auf Anschläge zu reagieren (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2.1. Kabul).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 16% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2.1. Kabul).

Die afghanischen Sicherheitskräfte führten insbesondere im Distrikt Surubi militärische Operationen aus der Luft und am Boden durch, bei denen Aufständische getötet wurden. Dabei kam es unter anderem zu zivilen Opfern. Außerdem führten NDS-Einheiten Operationen in und um Kabul-Stadt durch. Dabei wurden unter anderem Aufständische getötet und verhaftet, sowie Waffen und Sprengsätze konfisziert (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2.1. Kabul).

Lage in der Provinz Balkh bzw. in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif:

Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan. Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2.5. Balkh).

Nach Schätzung der zentralen Statistikorganisation Afghanistan (CSO) für den Zeitraum 2019-20 leben 1.475.649 Personen in der Provinz Balkh, davon geschätzte 469.247 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2.5. Balkh).

Erreichbarkeit:

Die Autobahn, welche zum usbekischen Grenzübergang Hairatan-Termiz führt, zweigt ca. 40 km östlich von Mazar-e Sharif von der Ringstraße ab. In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen. Im Januar 2019 wurde ein Luftkorridor für Warentransporte eröffnet, der Mazar-e Sharif und Europa über die Türkei verbindet (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2.5. Balkh).

Sicherheitslage:

Balkh zählt zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Nordafghanistans, in welcher die Taliban in der Vergangenheit keinen Fuß fassen konnten. Die vergleichsweise ruhige Sicherheitslage war vor allem auf das Machtmonopol des ehemaligen Kriegsherrn und späteren Gouverneurs von Balkh, Atta Mohammed Noor, zurückzuführen. In den letzten Monaten versuchen Aufständische der Taliban die nördliche Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Die Taliban überrannten keines dieser Gebiete. Einem UN-Bericht zufolge, gibt es eine Gruppe von rund 50 Kämpfern in der Provinz Balkh, welche mit dem Islamischen Staat (IS) sympathisiert. Bei einer Militäroperation im Februar 2019 wurden unter anderem in Balkh IS-Kämpfer getötet (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2.5. Balkh).

Das Hauptquartier des 209. ANA Shaheen Corps befindet sich im Distrikt Dehdadi. Es ist für die Sicherheit in den Provinzen Balkh, Jawzjan, Faryab, Sar-e-Pul und Samangan zuständig und untersteht der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - North (TAAC-N), welche von deutschen Streitkräften geleitet wird. Deutsche Bundeswehrsoldaten sind in Camp Marmal in Mazar-e Sharif stationiert (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2.5. Balkh).

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 277 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 22% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2.5. Balkh).

Im Winter 2018/2019 und Frühjahr 2019 wurden ANDSF-Operationen in der Provinz Balkh durchgeführt. Die ANDSF führen auch weiterhin regelmäßig Operationen in der Provinz unter anderem mit Unterstützung der US-amerikanischen Luftwaffe durch. Taliban-Kämpfer griffen Einheiten der ALP, Mitglieder regierungsfreundlicher Milizen und Sicherheitsposten beispielsweise in den Distrikten Chahrbulak, Chemtal, und Nahri Shahi an (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2.5. Balkh).

Berichten zufolge, errichten die Taliban auf wichtigen Verbindungsstraßen, die unterschiedliche Provinzen miteinander verbinden, immer wieder Kontrollpunkte. Dadurch wird das Pendeln für Regierungsangestellte erschwert. Insbesondere der Abschnitt zwischen den Provinzen Balkh und Jawjzan ist von dieser Unsicherheit betroffen (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2.5. Balkh).

Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Provinz Balkh sowie in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO – Country Guidance Afghanistan, Juni 2019, Seite 89 und 92 f).

Wirtschaftslage:

Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum. In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen. Mazar-e Sharif ist ein regionales Handelszentrum für Nordafghanistan, wie auch ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen, welche Kunsthandwerk und Teppiche anbieten (LIB 13.11.2019 idF 21.07.2020, Kapitel 2.5. Balkh und 20. Grundversorgung)

Medizinische Versorgung:

In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es zwischen 10 und 15 Krankenhäusern; dazu zählen sowohl private als auch öffentliche Anstalten. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer; jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken; 20% dieser Gesundheitskliniken finanzieren sich selbst, während 80% öffentlich finanziert sind. Das Regionalkrankenhaus Balkh ist die tragende Säule medizinischer Dienstleistungen in Nordafghanistan; selbst aus angrenzenden Provinzen werden Patient/innen in dieses Krankenhaus überwiesen. Für das durch einen Brand zerstörte Hauptgebäude des Regionalkrankenhauses Balkh im Zentrum von Mazar-e Sharif wurde ein neuer Gebäudekomplex mit 360 Betten, 21 Intensivpflegeplätzen, sieben Operationssälen und Einrichtungen für Notaufnahme, Röntgen- und Labordiagnostik sowie telemedizinischer Ausrüstung errichtet. Zusätzlich kommt dem Krankenhaus als akademisches Lehrkrankenhaus mit einer angeschlossenen Krankenpflege- und Hebammenschule eine Schlüsselrolle bei der Ausbildung des medizinischen und pflegerischen Nachwuchses zu. Die Universität Freiburg (Deutschland) und die Mashhad Universität (Iran) sind Ausbildungspartner dieses Krankenhauses. Balkh gehörte bei einer Erhebung von 2016/2017 zu den Provinzen mit dem höchsten Anteil an Frauen, welche einen Zugang zu Gesundheitseinrichtungen haben. Weiters gibt es in Mazar-e Sharif ein privates ne

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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