TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/10 W165 2168285-3

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Veröffentlicht am 10.11.2020
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Entscheidungsdatum

10.11.2020

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §15b
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
AVG §68 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §53
FPG §55

Spruch

W165 2168285-3/10E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Ilse LESNIAK als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.04.2020, Zl. 1067336301/200112600, zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 68 Abs. 1 AVG als unbegründet abgewiesen.

II. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte III. bis VIII. des angefochtenen Bescheides wird gemäß §§ 10 und 57 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG, gemäß §§ 46, 52, 53 und § 55 FPG sowie gemäß § 15b AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der im Spruch angeführte Beschwerdeführer (in der Folge: BF), ein Staatsangehöriger Afghanistans, wurde anlässlich seiner irregulären Einreise nach Österreich am 05.05.2015 im Rahmen einer sicherheitspolizeilichen Kontrolle auf einem Bahnhof angehalten und stellte im Zuge dessen einen (ersten) Antrag auf internationalen Schutz.

In seiner polizeilichen Erstbefragung am 06.05.2015 gab der BF im Wesentlichen an, dass er 16 Jahre alt sei und zuletzt im Iran gelebt habe, wo er seit seinem zehnten Lebensjahr in einer Schuhfabrik gearbeitet habe. Er habe Afghanistan als Kleinkind im Alter von zwei Jahren nach der Scheidung seiner Eltern mit seinem Großvater verlassen, bei dem er aufgewachsen sei. Er habe damals keinen Fluchtgrund gehabt. Da er sich im Iran illegal aufgehalten und ihm deshalb die Abschiebung nach Afghanistan gedroht habe, wo er niemanden habe, zumal kein Kontakt zu seinen Eltern bestehe, sei er geflüchtet.

Aufgrund der behaupteten Minderjährigkeit des BF wurde ein Altersfeststellungsgutachten eingeholt, aufgrund dessen die Minderjährigkeit des BF im Zeitpunkt der Asylantragstellung nicht ausgeschlossen werden konnte und das fiktive Geburtsdatum mit XXXX angenommen wurde.

Mit Verfahrensanordnung vom 06.07.2015 wurde das Asylverfahren des BF zugelassen.

Mit Verfahrensanordnung vom 17.10.2016 wurde dem BF der Verlust seines Aufenthaltsrechtes mitgeteilt, da er wegen unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt worden war.

In seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA), vom 06.07.2017 brachte der BF vor, dass sein Vater und seine Stiefmutter als er zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen sei, in den Iran gekommen seien und ihn zu sich nach Afghanistan geholt hätten, wo er mit ihnen etwa zwei Jahre zusammengelebt habe. Seine leibliche Mutter, die in Griechenland lebe, habe er nie persönlich getroffen, doch bestehe seit etwa einem halben Jahr telefonischer Kontakt. Zu seinen Fluchtgründen führte der BF aus, dass seine Stiefmutter drogenabhängig gewesen sei. Sein Vater habe ihm eines Tages mitgeteilt, dass er vierzehn Tage lang in Pakistan arbeiten müsse, sei aber nicht mehr zurückgekehrt. Seine Stiefmutter habe ihn gezwungen, Geld und Essen zu besorgen, wobei es ihr egal gewesen sei, ob er stehlen oder rauben müsse, er hätte nur nicht mit leeren Händen zurückkehren dürfen. Sie habe ihn verprügelt und geschlagen und er habe barfuß mit einem Fuß im Schnee stehen müssen, da er sich den Namen des Imams nicht gemerkt habe. Sie habe ihn immer wieder in ein Geschäft mitgenommen, wo sie den Verkäufer abgelenkt habe, währenddessen er teure Waren stehlen habe müssen. Wenn er erwischt worden sei, habe sie ihn geschlagen, wobei er am Kopf noch Narben davon habe. Mit vierzehn Jahren habe er Afghanistan wieder verlassen und sei in den Iran zurückgekehrt.

Mit Bescheid vom 20.07.2017, Zl. 1067336301-150459308, wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (im Folgenden: AsylG), ab (Spruchpunkt I.) und erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 13 Abs. 2 Z 1 AsylG festgestellt, dass der BF sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab 19.09.2016 verloren habe (Spruchpunkt V.).

Begründend wurde ausgeführt, dass es dem BF nicht gelungen sei, die behaupteten Verfolgungsgründe glaubhaft zu machen und eine konkrete Gefährdung der Hazara seinem Vorbringen nicht zu entnehmen sei. Der BF sei gesund, verfüge in Kabul über ein soziales Netzwerk und habe mehrjährige Schulbildung sowie Berufserfahrung als Schuster, weshalb im Falle der Rückkehr eine Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK nicht zu erwarten sei. Der BF sei illegal eingereist, stütze seinen Aufenthalt auf einen unberechtigten Asylantrag, sei zweimal gerichtlich verurteilt worden und habe eine mehrmonatige Haftstrafe verbüßt, weshalb das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung die privaten Interessen des BF am Verbleib im Bundesgebiet überwiege. Aufgrund der rechtskräftigen Verurteilung habe der BF sein Aufenthaltsrecht ex lege verloren.

In der gegen diesen Bescheid fristgerecht eingebrachten Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden: BVwG), wiederholte der BF im Wesentlichen sein bisheriges Vorbringen und brachte ergänzend vor, dass die Behörde seine Volksgruppenzugehörigkeit im Rahmen der Beweiswürdigung nicht berücksichtigt habe. Aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara und seines wehrfähigen Alters falle der BF unter zumindest drei Risikoprofile der UNHCR-Richtlinien und könne zudem ein Nachfluchtgrund entstanden sein, da er sich über zwei Jahre im Westen aufgehalten habe und der deutschen Sprache mächtig sei und zuvor jahrelang im Iran gelebt habe. Angesichts seines iranischen Akzentes, der iranischen Lebensweise und der Unkenntnis der afghanischen Sitten und Gebräuche falle der BF in Afghanistan als „Iran-Rückkehrer“ auf und sei als solcher erhöhter Gefahr ausgesetzt, da die Taliban dem Iran feindlich gesinnt seien und Rückkehrern, insbesondere Hazara, tendenziell mit Misstrauen begegnen würden. Bei richtiger rechtlicher Beurteilung wäre dem BF schon aufgrund der prekären Sicherheitslage zumindest der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen gewesen.

Das BVwG führte über die eingebrachte Beschwerde am 19.03.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in welcher der BF ausführlich zu seinen persönlichen Verhältnissen, seinem Leben im Iran, seinen Fluchtgründen und seiner Integration in Österreich befragt wurde. Ergänzend zu seinen bisherigen Angaben schilderte der BF, dass auf dem Weg nach Österreich von einigen Afghanen sein „christliches“ Tattoo am Oberarm entdeckt worden sei und ihn diese köpfen hätten wollen. Im Falle, dass ein Taliban in Afghanistan dieses Tattoo sehe, würde er getötet werden. Zudem besuche er eine Kirche und wolle das Christentum kennenlernen, wobei nicht ausgeschlossen sei, dass er sich für eine Konversion entscheide.

Mit Erkenntnis vom 13.03.2019, Zl. W264 2168285-1/28E, wies das BVwG die Beschwerde als unbegründet ab.

Begründend wurde ausgeführt, dass der BF eine aktuelle und konkret gegen seine Person gerichtete Verfolgungshandlung nicht glaubhaft vorgebracht habe. In seine Herkunftsprovinz könne der BF zwar nicht zurückkehren, jedoch stehe ihm eine innerstaatliche Fluchtalternative in Herat und Mazar-e Sharif offen. Der BF verfüge über eine in einem von islamischen Werten geprägten Land erworbene Schulausbildung und Arbeitserfahrung, sei ein gesunder, arbeitsfähiger junger Mann, weshalb seine Teilnahme am Erwerbsleben vorausgesetzt werden könne und im Falle der Rückkehr nicht zu erwarten sei, dass der BF in eine existenzgefährdende Notlage geraten würde. Aufgrund der kurzen Aufenthaltsdauer von drei Jahren, der trotz unrechtmäßiger Einreise erfolgten Familiengründung und seines bisherigen Fehlverhaltens (zwei Wegweisungen und zwei Verurteilungen nach dem SMG) sei seine Integration als gering einzustufen und überwiege das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit die privaten Interessen des BF. Die Trennung von seiner Lebensgefährtin und den gemeinsamen Kindern sei im öffentlichen Interesse in Kauf zu nehmen.

Die Behandlung einer beim Verfassungsgerichtshof eingebrachten Beschwerde wurde mit Beschluss vom 11.06.2019, Zl. E 1639/2019-6, abgelehnt. Der Verfassungsgerichtshof befand die vorgenommene Auseinandersetzung des BVwG mit Art. 8 EMRK nicht zu beanstanden.

Am 25.07.2019 wurde dem BF von der afghanischen Botschaft in Wien ein Laissez-Passer ausgestellt.

Im August 2019 begab sich der BF freiwillig nach Frankreich, um dort einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. In Frankreich wurde ein Dublin-Verfahren eingeleitet und dem BF mitgeteilt, dass seine Rücküberstellung nach Österreich beabsichtigt sei, sodass dieser in weiterer Folge im Jänner 2020 nach Österreich zurückkehrte.

Am 25.01.2020 wurde der BF aufgrund des Verdachts der absichtlich schweren Körperverletzung festgenommen und einer Beschuldigtenvernehmung unterzogen. Der BF gab dabei an, dass er seit seiner Einreise nach Österreich bei Freunden wohne und er seine Familie lediglich besuche.

Im Hinblick auf den unrechtmäßigen Aufenthalt des BF im Bundesgebiet wurde die Festnahme gemäß § 40 BFA-VG aufrechterhalten und der BF am 26.01.2020 von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes zu seinem unrechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet niederschriftlich einvernommen.

Mit der anschließenden Haftentlassung wurde dem BF aufgetragen, sich ab 27.01.2020 jeden zweiten Tag zwischen 10:00 Uhr und 14:00 Uhr auf einer bekanntgegebenen Polizeiinspektion zu melden.

Über Auftrag des BFA vom 28.01.2020 wurde der BF in der Folge in ein Polizeianhaltezentrum verbracht, wo dieser am 29.01.2020 einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz (Folgeantrag), stellte.

In der am selben Tag durchgeführten Erstbefragung gab der BF an, dass seine Fluchtgründe nach wie vor aufrecht seien, weshalb er nicht nach Afghanistan zurückkehren könne. Neue Fluchtgründe seien nicht vorhanden.

Mit Verfahrensanordnung vom 29.01.2020 wurde dem BF aufgetragen, in der ihm zugewiesenen Grundversorgungseinrichtung durchgängig Unterkunft zu nehmen und wurde der BF über die Folgen der Missachtung dieser Anordnung in Kenntnis gesetzt.

Am 05.02.2020 fand eine Einvernahme des BF vor dem BFA statt, in welcher der BF, nach einer Änderung der im ersten Verfahren angegebenen Ausreisegründe befragt, erklärte, dass sich seine Mutter in Griechenland befinde und sein Vater verschollen sei. Die Schwierigkeiten, die er damals gehabt habe, seien mehr geworden. Ansonsten führte der BF im Wesentlichen aus, dass er die Religion zu wechseln beabsichtige. Er habe dies jedoch noch nicht getan, da ihm dies als schiitischer Hazara nicht erlaubt sei und er nicht wisse, was mit ihm passieren würde. Er habe mehrere neue Tätowierungen, nämlich die Namen seiner Kinder sowie das Logo der Marke Adidas und sei das Tattoo auf seinem Oberarm zu einem Stammeszeichen verändert worden. Nach seinem Glauben dürfe er keine Tattoos tragen und sei auf seinem rechten Unterarm die zweite Frau Davids abgebildet, was große Probleme bedeute. Auf Frage seines Vertreters bejahte der BF, dass er eine standesamtliche Heirat mit seiner Lebensgefährtin anstrebe, allerdings keine Dokumente habe.

Der BF wurde auf die Möglichkeit der Einsichtnahme und Stellungnahme zu den Länderberichten zu Afghanistan hingewiesen und wurde dem Rechtsvertreter eine Stellungnahmefrist bis 11.02.2020 eingeräumt.

Mit Verfahrensanordnung vom 05.02.2020 teilte das BFA dem BF gemäß § 29 Abs. 3 AsylG mit, dass beabsichtigt sei, seinen Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen, da entschiedene Sache im Sinne des § 68 AVG vorliege. Zudem sei beabsichtigt, den faktischen Abschiebeschutz durch mündlichen Bescheid aufzuheben (§ 12a Abs. 2 AsylG). Diese Mitteilung wurde dem BF nachweislich am selben Tag persönlich ausgehändigt.

Am 11.02.2020 wurde der BF neuerlich vor dem BFA einvernommen und brachte ergänzend vor, dass sein Vater gemeinsam mit seinem Großvater aufgrund von Grundstücksstreitigkeiten in den Iran geflohen sei. Seine Eltern hätten ihn dann bei den Großeltern im Iran zurückgelassen und seien verschwunden. Sein Vater habe im Iran als Schuster gearbeitet und sei vor zwei bis drei Jahren aus seinem Betrieb entführt worden. Zuvor habe sein Vater bereits erfahren, dass er gesucht werde, weshalb er die leibliche Mutter des BF nach Europa geschickt habe. Er selbst habe seinen Vater, seit er bei den Großeltern „abgegeben“ worden sei, nicht mehr gesehen. Seine Mutter habe ihm erst jetzt davon erzählt und könne alles bezeugen.

Mit mündlich verkündetem Bescheid des BFA vom 11.02.2020 wurde der faktische Abschiebeschutz gemäß § 12 AsylG in Anwendung des § 12a Abs. 2 AsylG aufgehoben.

Begründend wurde ausgeführt, dass der BF seine im Erstverfahren vorgebrachten Fluchtgründe, wonach er von seiner Stiefmutter geschlagen sowie zum Stehlen gezwungen worden sei, nicht habe glaubhaft machen können und sein Vorbringen, dass er aufgrund seiner Tattoos, einer möglichen Konversion bzw. einer Verwestlichung einer Verfolgung unterliegen könnte, mit Erkenntnis des BVwG als nicht zutreffend beurteilt worden sei. Im gegenständlichen Verfahren habe der BF keine neuen Verfolgungsgründe vorgebracht und habe sich der entscheidungsmaßgebliche Sachverhalt seit rechtskräftigem Abschluss des Vorverfahrens nicht geändert.

Da die gegen den BF erlassene rechtskräftige Rückkehrentscheidung weiterhin aufrecht sei, der BF über kein sonstiges Aufenthaltsrecht verfüge, er von der afghanischen Botschaft identifiziert und ihm ein Laissez-Passer ausgestellt worden sei und sich die allgemeine Lage wie auch seine persönlichen Verhältnisse sowie sein körperlicher Zustand seit der letzten Entscheidung des BFA nicht entscheidungswesentlich geändert hätten, könne davon ausgegangen werden, dass eine Abschiebung in seinen Herkunftsstaat für den BF zu keiner Bedrohung der angeführten Rechte nach der EMRK führen werde.

Die Verwaltungsakten (samt Vorakten) langten am 12.02.2020 beim BVwG ein.

Mit Aktenvermerk vom 17.02.2020, Zl. W165 2168285-2/4Z, hielt das BVwG fest, dass nach dem Ergebnis einer unverzüglichen Prüfung aus derzeitiger Sicht nicht zu entscheiden gewesen sei, dass die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes nicht rechtmäßig gewesen wäre. Es sei aus ho. derzeitiger Sicht (auf Basis der aktuell vorliegenden Aktenlage) nicht anzunehmen, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des BF nach Afghanistan eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2, 3 oder 8 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Ein diesbezügliches Vorbringen sei – nach dem Ergebnis einer Grobprüfung – nicht glaubhaft erstattet worden.

Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid des BFA vom 30.04.2020 wurde der Folgeantrag des BF hinsichtlich des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Zudem wurde gemäß § 55 Abs. 1a FPG festgestellt, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkt VI.) und wurde gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein befristetes Einreiseverbot für die Dauer von fünf Jahren erlassen (Spruchpunkt VII.) und dem BF gemäß § 15b Abs. 1 AsylG 2005 die Unterkunftnahme in der BS West AIBE Thalham aufgetragen (Spruchpunkt VIII.).

Zusammengefasst führte das BFA aus, dass der BF bei seiner Erstbefragung keine neuen Fluchtgründe vorgebracht habe und seine Angaben, wonach er seinen Vater zuletzt gesehen habe, als ihn dieser bei seinen Großeltern zurückgelassen habe, in offensichtlichem Widerspruch zu seinem Vorbringen im ersten Asylverfahren stehe. Auf die Konversion und die Tätowierungen des BF sei bereits im ersten Asylverfahren eingegangen worden und habe sich diesbezüglich kein neuer entscheidungsrelevanter Sachverhalt ergeben. Der BF habe zwar eine Lebensgefährtin und zwei Kinder in Österreich, habe sein Familienleben allerdings während des laufenden Asylverfahrens, sohin zu einem Zeitpunkt, zu dem er sich seines unsicheren Aufenthaltes hätte bewusst sein müssen, begründet. Zwar werde das Familienband im Falle der Rückkehr des BF zerrissen, doch sei ein diesbezüglicher Eingriff im Hinblick auf die Straffälligkeit und die zweimaligen Wegweisungen als verhältnismäßig anzusehen. Zudem sei der BF selbständig nach Frankreich gereist und habe dadurch nicht nur seine Familie freiwillig verlassen, sondern alle anderen sozialen Bindungen an Österreich aufgegeben. Schließlich sei der BF unter Umgehung der Grenzkontrollen eingereist und stütze seinen Aufenthalt auf zwei unbegründete Asylanträge, weshalb die lange Aufenthaltsdauer nicht zu einem Überwiegen seiner privaten Interessen führen könne. Eine Verletzung von Art. 8 EMRK liege daher nicht vor.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde vom 20.05.2020, mit der der Bescheid in vollem Umfang angefochten und zwei Unterstützungsschreiben sowie eine Stellungnahme der Lebensgefährtin des BF vorgelegt wurden. Darin führte der BF ergänzend aus, dass sich die Beziehung zwischen ihm und seiner Frau zwischen dem ersten und dem aktuellen Antrag auf internationalen Schutz verstärkt habe. Sie seien nach islamischem Recht verheiratet, jedoch sei eine standesamtliche Heirat aufgrund fehlender Dokumente nicht möglich. Sie hätten mittlerweile zwei gemeinsame Kinder (eineinhalb und zweieinhalb Jahre alt). Zum Zeitpunkt der letzten rechtskräftigen Entscheidung hätten sie nur ein gemeinsames Kind gehabt. Sie würden weiterhin zu viert gemeinsam wohnen. Die Frau und die Kinder seien in Österreich asylberechtigt und bereits gut integriert. Der Sachverhalt habe sich damit dahingehend verändert, dass er nun insofern einer konkret(er)en Bedrohung ausgesetzt sei, als er im Iran zu einer langen Gefängnisstrafe oder zur Todesstrafe verurteilt werden könnte. In diesem Sinne hätte die Behörde bei richtiger Beweiswürdigung und rechtlicher Beurteilung eine maßgebliche Sachverhaltsänderung gegenüber dem Erstverfahren erkennen und daher in der Sache entscheiden müssen. Hinsichtlich des Einreiseverbots habe sich die Behörde nicht mit dem bisherigen Verhalten des BF auseinandergesetzt, sondern ausschließlich seine Verfehlungen berücksichtigt.

Die Beschwerdevorlage vom 22.05.2020 langte am 25.05.2020 beim BVwG ein.

Mit Schreiben des BVwG vom 19.05.2020 war dem BF Gelegenheit gegeben worden, zum Länderinformationsblatt zu Afghanistan, Stand 18.05.2020, binnen sieben Tagen Stellung zu nehmen.

In der am 03.06.2020 übermittelten schriftlichen Stellungnahme führte der BF unter Bezugnahme auf verschiedene Berichte zur Lage in Afghanistan aus, dass eine Rückkehr aufgrund der Auswirkungen der COVID-19 Pandemie in Verbindung mit der allgemeinen prekären Gesundheits-, Hygiene- und Versorgungslage nicht zumutbar sei.

Mit Beschluss vom selben Tag, Zl. W165 2168285-2/9E, erklärte das BVwG die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes gemäß §§ 12a Abs. 2 und 22 Abs. 10 AsylG 2005 iVm § 22 BFA-VG für rechtmäßig.

Begründet wurde dies im Wesentlichen damit, dass seit rechtskräftigem Abschluss des Vorverfahrens weder bezüglich der Fluchtgründe oder der familiären und privaten Situation des BF noch hinsichtlich der Situation im Herkunftsstaat des BF eine entscheidungswesentliche Änderung eingetreten sei und daher keine Umstände vorliegen würden, die einer Abschiebung des BF entgegenstünden.

Mit Entscheidung des BVwG vom 03.06.2020, Zl. W165 2168285-3/3E, wurde der verfahrensgegenständlichen Beschwerde vom 20.05.2020 die aufschiebende Wirkung gemäß § 17 BFA-VG nicht zuerkannt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Das BVwG stellt den Verfahrensgang fest, wie unter Pkt. I wiedergegeben.

Der volljährige BF ist afghanischer Staatsangehöriger und wurde in der Provinz Maidan-Wardak in Afghanistan geboren. Der BF gehört der Volksgruppe der Hazara an, ist schiitischer Moslem und seine Muttersprache ist Dari.

Der BF ist gesund.

Vor seiner Reise nach Europa lebte der BF sowohl in Afghanistan als auch im Iran. Er verfügt über mehrjährige Schulbildung und Berufserfahrung, die er im Iran erlangte.

Der BF ist unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich gereist und stellte am 05.05.2015 einen ersten Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet, der mit Bescheid des BFA vom 20.07.2017 zur Gänze abgewiesen wurde. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF nicht erteilt. Gegen den BF wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Dagegen erhob der BF Beschwerde, die nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis vom 13.03.2019, W264 2168285-1/28E, als unbegründet abgewiesen wurde. Das Erkenntnis des BVwG ist in Rechtskraft erwachsen. Die Behandlung einer dagegen eingebrachten Beschwerde lehnte der Verfassungsgerichtshof mit Beschluss vom 11.06.2019, Zl. E 1639/2019-6, ab.

Nach rechtskräftigem Abschluss des Vorverfahrens wurde dem BF von der afghanischen Botschaft in Wien am 25.07.2019 ein Laissez-Passer ausgestellt.

Im August 2019 verließ der BF freiwillig das Bundesgebiet und reiste nach Frankreich, wo ein Dublin-Verfahren eingeleitet und dem BF mitgeteilt wurde, dass seine Rücküberstellung nach Österreich beabsichtigt sei, sodass dieser im Jänner 2020 nach Österreich zurückkehrte.

Der BF ist mit seiner Partnerin, (in der Folge: Lebensgefährtin, da keine standesamtliche Eheschließung vorliegt), nach islamischem Ritus verheiratet und hat mit dieser einen am 02.08.2017 geborenen Sohn und eine am 12.09.2018 geborene Tochter. Beide Kinder sind in Österreich geboren. Die Lebensgefährtin und die Kinder des BF sind afghanische Staatsangehörige und in Österreich asylberechtigt.

Der BF war seit seiner Rückkehr aus Frankreich erst seit 29.01.2020 wieder im Bundesgebiet gemeldet (abermalige Asylantragstellung am 29.01.2020) und bezog zunächst eine Grundversorgungseinrichtung. Am 11.02.2020 wurde der BF in Schubhaft genommen, aus der er am 28.02.2020 wieder entlassen wurde, da die afghanische Botschaft die Ausstellung eines Heimreisezertifikats aufgrund der vorgelegten Geburtsurkunden der Kinder sowie der Angaben der Lebensgefährtin des BF verweigert hatte. Im Zeitraum 12.03.2020 bis 30.06.2020 lebte der BF mit seiner Lebensgefährtin und seinen Kindern im gemeinsamen Haushalt zusammen. Seit 30.06.2020 besteht keine behördliche Meldung im Bundesgebiet mehr.

Der BF ging in Österreich niemals einer legalen Beschäftigung nach, bezog während seines Aufenthaltes Leistungen aus der Grundversorgung und war in Österreich nie selbsterhaltungsfähig. Er besuchte mehrere Deutschkurse und bestand am 13.12.2016 die Deutschprüfung auf Sprachniveau A1.

Am 27.02.2016 war gegen den BF erstmals eine Wegweisung samt Betretungsverbot ausgesprochen worden, da die Lebensgefährtin des BF angab: „Mein Mann hat mich geschlagen. Er schlägt mich immer wieder. Mehrmals wöchentlich“ und daher der Verdacht der fortgesetzten Gewaltausübung gegen eine andere Person nach § 107b StGB bestand.

Mit Urteil des Landesgerichts Linz vom 02.08.2016, Zl. 25 Hv 51/16m, wurde der BF wegen der Vergehen des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 erster, zweiter und achter Fall, Abs. 2a SMG sowie nach § 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall, Abs 2 SMG zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt, wobei die Strafe unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF am 10.06.2016 in Linz an zwei namentlich unbekannt gebliebene Abnehmer eine unbekannte Menge Cannabis verkaufte und ab Ende April 2016 bis 10.06.2016 zum persönlichen Gebrauch eine insgesamt unbekannte Menge Cannabiskraut erwarb und bis zum Eigenkonsum besaß.

Als mildernd wertete das Gericht die Unbescholtenheit, das Alter des BF unter 21 Jahren sowie den Verfall des Suchtgifterlöses von EUR 20,--, als erschwerend das Zusammentreffen von Vergehen.

Mit Urteil des Landesgerichts Linz vom 13.09.2016, Zl. 25 Hv 67/16i, wurde der BF wegen der Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall, Abs. 2 SMG sowie nach § 27 Abs. 1 Z 1 erster, zweiter und achter Fall, Abs. 2a SMG zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt. Nach Verbüßung von drei Monaten der Freiheitsstrafe wurde der BF am 11.11.2016 unter Gewährung einer Probezeit von drei Jahren sowie Anordnung der Bewährungshilfe bedingt entlassen.

Am 13.08.2017 wurde gegenüber dem BF ein Betretungsverbot ausgesprochen, da eine andere Person angab, dass sie der BF mit einem Messer bedroht habe und ein Messer mit acht Zentimeter Klingenlänge in der Wohnung, in der die Bedrohung stattgefunden haben soll, aufgefunden wurde, weshalb der Verdacht der schweren Nötigung bestand.

Am 25.01.2020 wurde der BF wegen des Verdachts der absichtlich schweren Körperverletzung festgenommen und im Rahmen einer amtsärztlichen Untersuchung ein Drogenharntest durchgeführt, der in Bezug auf den Wirkstoff THC positiv verlief. In der darauffolgenden Beschuldigtenvernehmung gab der BF zu, dass er Cannabiskraut in Form von täglich bis zu zwei Joints konsumiere. Von der strafrechtlichen Verfolgung des Suchtmittelvergehens trat die Staatsanwaltschaft unter Setzung einer Probezeit von einem Jahr vorläufig zurück.

Der BF stützte seinen Folgeantrag vom 29.01.2020 auf dieselben Fluchtgründe, die bereits im ersten Verfahren geltend gemacht wurden. Neue Fluchtgründe, denen ein "glaubwürdiger Kern" innewohnen würde, wurden nicht vorgebracht.

Im gegenständlichen Fall ergeben sich im Vergleich zum Vorverfahren keine maßgeblichen Änderungen in Bezug auf in der Person des BF gelegene Umstände. Auch die Rechtslage blieb, soweit entscheidungsrelevant, unverändert.

In Bezug auf die individuelle Lage des BF im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat kann im Vergleich zu jenem Zeitpunkt, in dem letztmalig über den Antrag auf internationalen Schutz inhaltlich entschieden wurde – März 2019 – keine maßgebliche Änderung der Situation festgestellt werden. Die Herkunftsprovinz des BF (Maidan-Wardak) ist weiterhin als volatil zu bezeichnen. Dem BF steht jedoch nach wie vor Mazar-e Sharif als innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung.

Zur allgemeinen Lage in Afghanistan bzw. in Maidan-Wardak und Mazar-e Sharif (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA vom 19.11.2019, letzte Kurzinformation eingefügt am 21.07.2020, Schreibfehler teilweise korrigiert):

„1. Länderspezifische Anmerkungen

COVID-19:

[…]

Berichten zufolge, haben sich in Afghanistan mehr als 35.000 Menschen mit COVID-19 angesteckt (WHO 20.7.2020; vgl. JHU 20.7.2020, OCHA 16.7.2020), mehr als 1.280 sind daran gestorben. Aufgrund der begrenzten Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der begrenzten Testkapazitäten sowie des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt zu wenig gemeldet (OCHA 16.7.2020; vgl. DS 19.7.2020). 10 Prozent der insgesamt bestätigten COVID-19-Fälle entfallen auf das Gesundheitspersonal. Kabul ist hinsichtlich der bestätigten Fälle nach wie vor der am stärksten betroffene Teil des Landes, gefolgt von den Provinzen Herat, Balkh, Nangarhar und Kandahar (OCHA 15.7.2020). Beamte in der Provinz Herat sagten, dass der Strom afghanischer Flüchtlinge, die aus dem Iran zurückkehren, und die Nachlässigkeit der Menschen, die Gesundheitsrichtlinien zu befolgen, die Möglichkeit einer neuen Welle des Virus erhöht haben, und dass diese in einigen Gebieten bereits begonnen hätte (TN 14.7.2020). Am 18.7.2020 wurde mit 60 neuen COVID-19 Fällen der niedrigste tägliche Anstieg seit drei Monaten verzeichnet – wobei an diesem Tag landesweit nur 194 Tests durchgeführt wurden (AnA 18.7.2020).

Krankenhäuser und Kliniken berichten weiterhin über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19. Diese Herausforderungen stehen im Zusammenhang mit der Bereitstellung von persönlicher Schutzausrüstung (PSA), Testkits und medizinischem Material sowie mit der begrenzten Anzahl geschulter Mitarbeiter - noch verschärft durch die Zahl des erkrankten Gesundheitspersonals. Es besteht nach wie vor ein dringender Bedarf an mehr Laborequipment sowie an der Stärkung der personellen Kapazitäten und der operativen Unterstützung (OCHA 16.7.2020, vgl. BBC-News 30.6.2020).

Maßnahmen der afghanischen Regierung und internationale Hilfe

Die landesweiten Sperrmaßnahmen der Regierung Afghanistans bleiben in Kraft. Universitäten und Schulen bleiben weiterhin geschlossen (OCHA 8.7.2020; vgl. RA KBL 16.7.2020). Die Regierung Afghanistans gab am 6.6.2020 bekannt, dass sie die landesweite Abriegelung um drei weitere Monate verlängern und neue Gesundheitsrichtlinien für die Bürger herausgeben werde. Darüber hinaus hat die Regierung die Schließung von Schulen um weitere drei Monate bis Ende August verlängert (OCHA 8.7.2020).

Berichten zufolge werden die Vorgaben der Regierung nicht befolgt, und die Durchsetzung war nachsichtig (OCHA 16.7.2020, vgl. TN 12.7.2020). Die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus unterscheiden sich weiterhin von Provinz zu Provinz, in denen die lokalen Behörden über die Umsetzung der Maßnahmen entscheiden. Zwar behindern die Sperrmaßnahmen der Provinzen weiterhin periodisch die Bewegung der humanitären Helfer, doch hat sich die Situation in den letzten Wochen deutlich verbessert, und es wurden weniger Behinderungen gemeldet (OCHA 15.7.2020).

Einwohner Kabuls und eine Reihe von Ärzten stellten am 18.7.2020 die Art und Weise in Frage, wie das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) mit der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie im Land umgegangen ist, und sagten, das Gesundheitsministerium habe es trotz massiver internationaler Gelder versäumt, richtig auf die Pandemie zu reagieren (TN 18.7.2020). Es gibt Berichte wonach die Bürger angeben, dass sie ihr Vertrauen in öffentliche Krankenhäuser verloren haben und niemand mehr in öffentliche Krankenhäuser geht, um Tests oder Behandlungen durchzuführen (TN 12.7.2020).

Beamte des afghanischen Gesundheitsministeriums erklärten, dass die Zahl der aktiven Fälle von COVID-19 in den Städten zurückgegangen ist, die Pandemie in den Dörfern und in den abgelegenen Regionen des Landes jedoch zunimmt. Der Gesundheitsminister gab an, dass 500 Beatmungsgeräte aus Deutschland angekauft wurden und 106 davon in den Provinzen verteilt werden würden (TN 18.7.2020).

Am Samstag den 18.7.2020 kündete die afghanische Regierung den Start des Dastarkhan-e-Milli-Programms als Teil ihrer Bemühungen an, Haushalten inmitten der COVID-19-Pandemie zu helfen, die sich in wirtschaftlicher Not befinden. Auf der Grundlage des Programms will die Regierung in der ersten Phase 86 Millionen Dollar und dann in der zweiten Phase 158 Millionen Dollar bereitstellen, um Menschen im ganzen Land mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die erste Phase soll über 1,7 Millionen Familien in 13.000 Dörfern in 34 Provinzen des Landes abdecken (TN 18.7.2020; vgl. Mangalorean 19.7.2020).

Die Weltbank genehmigte am 15.7.2020 einen Zuschuss in Höhe von 200 Millionen US-Dollar, um Afghanistan dabei zu unterstützen, die Auswirkungen von COVID-19 zu mildern und gefährdeten Menschen und Unternehmen Hilfe zu leisten (WB 10.7.2020; vgl. AN 10.7.2020).

Auszugsweise Lage in den Provinzen Afghanistans

Dieselben Maßnahmen – nämlich Einschränkungen und Begrenzungen der täglichen Aktivitäten, des Geschäftslebens und des gesellschaftlichen Lebens – werden in allen folgend angeführten Provinzen durchgeführt. Die Regierung hat eine Reihe verbindlicher gesundheitlicher und sozialer Distanzierungsmaßnahmen eingeführt, wie z.B. das obligatorische Tragen von Gesichtsmasken an öffentlichen Orten, das Einhalten eines Sicherheitsabstandes von zwei Metern in der Öffentlichkeit und ein Verbot von Versammlungen mit mehr als zehn Personen. Öffentliche und touristische Plätze, Parks, Sportanlagen, Schulen, Universitäten und Bildungseinrichtungen sind geschlossen; die Dienstzeiten im privaten und öffentlichen Sektor sind auf 6 Stunden pro Tag beschränkt und die Beschäftigten werden in zwei ungerade und gerade Tagesschichten eingeteilt (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).

Die meisten Hotels, Teehäuser und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19 Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).

In der Provinz Kabul gibt es zwei öffentliche Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln mit 200 bzw. 100 Betten. Aufgrund der hohen Anzahl von COVID-19-Fällen im Land und der unzureichenden Kapazität der öffentlichen Krankenhäuser hat die Regierung kürzlich auch privaten Krankenhäusern die Behandlung von COVID-19-Patienten gestattet. Kabul sieht sich aufgrund von Regen- und Schneemangel, einer boomenden Bevölkerung und verschwenderischem Wasserverbrauch mit Wasserknappheit konfrontiert. Außerdem leben immer noch rund 12 Prozent der Menschen in Kabul unter der Armutsgrenze, was bedeutet, dass oftmals ein erschwerter Zugang zu Wasser besteht (RA KBL 16.7.2020; WHO o.D).

In der Provinz Balkh gibt es ein Krankenhaus, welches COVID-19 Patienten behandelt und über 200 Betten verfügt. Es gibt Berichte, dass die Bewohner einiger Distrikte der Provinz mit Wasserknappheit zu kämpfen hatten. Darüber hinaus hatten die Menschen in einigen Distrikten Schwierigkeiten mit dem Zugang zu ausreichender Nahrung, insbesondere im Zuge der COVID-19-Pandemie (RA KBL 16.7.2020).

In der Provinz Herat gibt es zwei Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln. Ein staatliches öffentliches Krankenhaus mit 100 Betten, das vor kurzem speziell für COVID-19-Patienten gebaut wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 19.3.2020) und ein Krankenhaus mit 300 Betten, das von einem örtlichen Geschäftsmann in einem umgebauten Hotel zur Behandlung von COVID-19-Patienten eingerichtet wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 4.5.2020). Es gibt Berichte, dass 47,6 Prozent der Menschen in Herat unter der Armutsgrenze leben, was bedeutet, dass oft ein erschwerter Zugang zu sauberem Trinkwasser und Nahrung haben, insbesondere im Zuge der Quarantäne aufgrund von COVID-19, durch die die meisten Tagelöhner arbeitslos blieben (RA KBL 16.7.2020; vgl. UNICEF 19.4.2020).

[…]

Wirtschaftliche Lage in Afghanistan

Verschiedene COVID-19-Modelle zeigen, dass der Höhepunkt des COVID-19-Ausbruchs in Afghanistan zwischen Ende Juli und Anfang August erwartet wird, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft Afghanistans und das Wohlergehen der Bevölkerung haben wird (OCHA 16.7.2020). Es herrscht weiterhin Besorgnis seitens humanitärer Helfer, über die Auswirkungen ausgedehnter Sperrmaßnahmen auf die am stärksten gefährdeten Menschen – insbesondere auf Menschen mit Behinderungen und Familien – die auf Gelegenheitsarbeit angewiesen sind und denen alternative Einkommensquellen fehlen (OCHA 15.7.2020). Der Marktbeobachtung des World Food Programme (WFP) zufolge ist der durchschnittliche Weizenmehlpreis zwischen dem 14. März und dem 15. Juli um 12 Prozent gestiegen, während die Kosten für Hülsenfrüchte, Zucker, Speiseöl und Reis (minderwertige Qualität) im gleichen Zeitraum um 20 – 31 Prozent gestiegen sind (WFP 15.7.2020, OCHA 15.7.2020). Einem Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) und des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht (MAIL) zufolge sind über 20 Prozent der befragten Bauern nicht in der Lage, ihre nächste Ernte anzubauen, wobei der fehlende Zugang zu landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und die COVID-19-Beschränkungen als Schlüsselfaktoren genannt werden. Darüber hinaus sind die meisten Weizen-, Obst-, Gemüse- und Milchverarbeitungsbetriebe derzeit nur teilweise oder gar nicht ausgelastet, wobei die COVID-19-Beschränkungen als ein Hauptgrund für die Reduzierung der Betriebe genannt werden. Die große Mehrheit der Händler berichtete von gestiegenen Preisen für Weizen, frische Lebensmittel, Schafe/Ziegen, Rinder und Transport im Vergleich zur gleichen Zeit des Vorjahres. Frischwarenhändler auf Provinz- und nationaler Ebene sahen sich im Vergleich zu Händlern auf Distriktebene mit mehr Einschränkungen konfrontiert, während die große Mehrheit der Händler laut dem Bericht von teilweisen Marktschließungen aufgrund von COVID-19 berichtete (FAO 16.4.2020; vgl. OCHA 16.7.2020; vgl. WB 10.7.2020).

Am 19.7.2020 erfolgte die erste Lieferung afghanischer Waren in zwei Lastwagen nach Indien, nachdem Pakistan die Wiederaufnahme afghanischer Exporte nach Indien angekündigt hatte um den Transithandel zu erleichtern. Am 12.7.2020 öffnete Pakistan auch die Grenzübergänge Angor Ada und Dand-e-Patan in den Provinzen Paktia und Paktika für afghanische Waren, fast zwei Wochen nachdem es die Grenzübergänge Spin Boldak, Torkham und Ghulam Khan geöffnet hatte (TN 20.7.2020).

Einreise und Bewegungsfreiheit

Die Türkei hat, nachdem internationale Flüge ab 11.6.2020 wieder nach und nach aufgenommen wurden, am 19.7.2020 wegen der COVID-19-Pandemie Flüge in den Iran und nach Afghanistan bis auf weiteres ausgesetzt, wie das Ministerium für Verkehr und Infrastruktur mitteilte (TN 20.7.2020; vgl. AnA 19.7.2020, DS 19.7.2020).

Bestimmte öffentliche Verkehrsmittel wie Busse, die mehr als vier Passagiere befördern, dürfen nicht verkehren. Obwohl sich die Regierung nicht dazu geäußert hat, die Reisebeschränkungen für die Bürger aufzuheben, um die Ausbreitung von COVID-19 zu verhindern, hat sich der Verkehr in den Städten wieder normalisiert, und Restaurants und Parks sind wieder geöffnet (TN 12.7.2020).

[…]

Stand 29.6.2020

Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt (WP 25.5.2020; vgl. JHU 26.6.2020), mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (WP 25.6.2020).

In vier der 34 Provinzen Afghanistans – Nangahar, Ghazni, Logar und Kunduz – hat sich unter den Sicherheitskräften COVID-19 ausgebreitet. In manchen Einheiten wird eine Infektionsrate von 60-90% vermutet. Dadurch steht weniger Personal bei Operationen und/oder zur Aufnahme des Dienstes auf Außenposten zur Verfügung (WP 25.6.2020).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden (RA KBL 19.6.2020). In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (AJ 8.6.2020).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge, lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt (AF 24.6.2020). Dem Lockdown Folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (AJ 8.6.2020).

Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen

In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (AF 24.6.2020).

Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei dem bedürftige Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden (AF 24.6.2020). In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes (TN 15.6.2020). Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern (AF 24.6.2020; vgl. TN 15.6.2020). Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (TN 20.5.2020).

Weitere Maßnahmen der afghanischen Regierung

Schulen und Universitäten sind nach aktuellem Stand bis September 2020 geschlossen (AJ 8.6.2020; vgl. RA KBL 19.6.2020). Über Fernlernprogramme, via Internet, Radio und Fernsehen soll der traditionelle Unterricht im Klassenzimmer vorerst weiterhin ersetzen werden (AJ 8.6.2020). Fernlehre funktioniert jedoch nur bei wenigen Studierenden. Zum Einen können sich viele Familien weder Internet noch die dafür benötigten Geräte leisten und zum Anderem schränkt eine hohe Analphabetenzahl unter den Eltern in Afghanistan diese dabei ein, ihren Kindern beim Lernen behilflich sein zu können (HRW 18.6.2020).

Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen (RA KBL 19.6.2020). Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wieder aufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird (AnA 24.6.2020). Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020; vgl. GN 9.6.2020). Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020). Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich (RA KBL 19.6.2020). Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (RA KBL 19.6.2020).

Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (UNHCR 20.6.2020).

Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus Pakistan

Die Grenze zu Pakistan war fast drei Monate lang aufgrund der COVID-19-Pandemie gesperrt. Mit 22.6.2020 erhielt Pakistan an drei Grenzübergängen erste Exporte aus Afghanistan: frisches Obst und Gemüse wurde über die Grenzübergänge Torkham, Chaman und Ghulam Khan nach Pakistan exportiert. Im Hinblick auf COVID-19 wurden Standardarbeitsanweisungen (SOPs – standard operating procedures) für den grenzüberschreitenden Handel angewandt (XI 23.6.2020). Der bilaterale Handel soll an sechs Tagen der Woche betrieben werden, während an Samstagen diese Grenzübergänge für Fußgänger reserviert sind (XI 23.6.2020; vgl. UNHCR 20.6.2020); in der Praxis wurde der Fußgängerverkehr jedoch häufiger zugelassen (UNHCR 20.6.2020).

Pakistanischen Behörden zufolge waren die zwei Grenzübergänge Torkham und Chaman auf Ansuchen Afghanistans und aus humanitären Gründen bereits früher für den Transithandel sowie Exporte nach Afghanistan geöffnet worden (XI 23.6.2020).

Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus dem Iran

Die Anzahl aus dem Iran abgeschobener Afghanen ist im Vergleich zum Monat Mai stark gestiegen. Berichten zufolge haben die Lockerungen der Mobilitätsmaßnahmen dazu geführt, dass viele Afghanen mithilfe von Schmugglern in den Iran ausreisen. UNHCR zufolge, gaben Interviewpartner/innen an, kürzlich in den Iran eingereist zu sein, aber von der Polizei verhaftet und sofort nach Afghanistan abgeschoben worden zu sein (UNHCR 20.6.2020).

[…]

Stand: 18.5.2020

[…]

In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblemen bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).

Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an CO-VID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).

Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Herat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).

Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung

Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).

Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).

Taliban und COVID-19

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).

Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:

•        Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)

•        Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (IOM AUT 18.5.2020).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (IOM AUT 18.5.2020)

Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (IOM KBL 13.5.2020).

[…]

2. Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020; UNGASC 17.3.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28. September stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020).

Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.4.2020). Am 9.3.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020), einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.5.2020; vgl. BBC 17.5.2020; DW 17.5.2020).

[…]

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afg

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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