TE OGH 2020/12/7 12Os122/20p

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Veröffentlicht am 07.12.2020
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 7. Dezember 2020 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Oshidari, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel-Kwapinski und Dr. Brenner und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter in der Strafsache gegen Baraa K***** wegen des Verbrechens des Mordes nach §§ 15, 75 StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Jugendgeschworenengericht vom 24. August 2020, GZ 36 Hv 97/19t-91, nach Anhörung der Generalprokuratur nichtöffentlich gemäß § 62 Abs 1 zweiter Satz OGH-Geo 2019 zu Recht erkannt:

Spruch

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Aus deren Anlass wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, im Strafausspruch (einschließlich der Vorhaftanrechung) und in der Anordnung der Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 2 StGB aufgehoben und die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht Wiener Neustadt verwiesen.

Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf die kassatorische Entscheidung verwiesen.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen, auf dem Wahrspruch der Geschworenen beruhenden Urteil wurde Baraa K***** der Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 StGB (I./) und der Körperverletzung nach §§ 15, 83 Abs 1 StGB (II./1./) sowie des Verbrechens des Mordes nach §§ 15, 75 StGB (II./2./) schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Zugleich wurde seine Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 2 StGB angeordnet.

Danach hat er in W***** seinen Bruder Yaman K*****

I./ am 5. Mai 2018 dadurch, dass er ein Messer zückte und in bedrohlicher Weise aggressiv auf ihn zuging, zumindest mit einer Verletzung am Körper gefährlich bedroht, um ihn in Furcht und Unruhe zu versetzen;

II./ am 21. Oktober 2019

1./ vorsätzlich am Körper zu verletzen versucht, indem er ihm mit der Faust ins Gesicht schlug, ihn würgte sowie Gläser und eine Vase gegen ihn warf;

2./ vorsätzlich zu töten versucht, indem er ihm mit einem Klappmesser eine lebensgefährliche Stichverletzung an der linken Brustkorbseite verbunden mit einem Lungenkollaps, beginnender Verdrängung des Mittelfells und konsekutiver Einblutung in die linke Brusthöhle, die ohne intensivmedizinische und chirurgische Versorgung unweigerlich zum Kollaps der betroffenen Lunge und ausgedehnten Blutungen in die Brustkorbhöhle sowie weiters durch die aus der Lunge in die Brustkorbhöhle austretende Atemluft zu kompressionsbedingter Behinderung der noch funktionierenden Lunge der Gegenseite (Erstickungstod) und durch Verdrängung des Mittelfells zur Gegenseite zu einem reflektorischen Herzstillstand geführt hätte, zufügte sowie anschließend unter dem sinngemäßen Bekunden, er werde ihn „abstechen“ ein weiteres Mal auf ihn einzustechen trachtete, woran er durch anwesende Familienmitglieder gehindert wurde.

Die Geschworenen hatten die anklagekonform gestellten Hauptfragen (1., 2. und 3.) bejaht, die zur Hauptfrage 3. gestellte Zusatzfrage nach Notwehr, Notwehrüberschreitung aus asthenischem Affekt, Putativnotwehr und Putativnotwehrüberschreitung aus asthenischem Affekt verneint (4.). Demgemäß blieben die in Richtung der Verbrechen der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs 1 StGB (6.) und der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs 4 und Abs 5 Z 1 StGB (9.) sowie des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 3 und 4 zweiter Satz erster Fall StGB (5., 8., 11.) gestellten Eventualfragen sowie die jeweiligen Zusatzfragen nach Notwehr, Notwehrüberschreitung aus asthenischem Affekt, Putativnotwehr und Putativnotwehrüberschreitung aus asthenischem Affekt (7. und 10.) unbeantwortet.

Rechtliche Beurteilung

Dagegen richtet sich die auf § 345 Abs 1 Z 5 und 6 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten, der keine Berechtigung zukommt.

Entgegen der Verfahrensrüge (Z 5) erfolgte die Abweisung des in der Hauptverhandlung vom 17. Juni 2020 (ON 81 [Teil 2] S 54) gestellten Antrags auf Vernehmung des Zeugen Herfried B***** zum Beweis dafür, dass ihm die Zeugin Lama Ba***** erzählt habe, vom Tatopfer misshandelt worden zu sein, ohne Verletzung von Verteidigungsrechten, weil das Stattfinden eines Gesprächs mit diesem Inhalt keine erhebliche Tatsache betrifft (RIS-Justiz RS0116987).

Die Fragenrüge (Z 6) reklamiert gestützt auf das Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen Univ.-Prof. Dr. W***** und die Verantwortung des Angeklagten, wonach er in Rage gewesen sei, sich aufgrund des tyrannischen auch Tätlichkeiten gegenüber der gemeinsamen Mutter und ihn selbst umfassenden Verhaltens des Tatopfers unterdrückt gefühlt und das Tatopfer ihn unmittelbar vor der zu II./2./ inkriminierten Tat geschlagen und in den Schwitzkasten genommen habe, sowie auf Zeugenaussagen, die diese Darstellung stützen würden, die Stellung einer Eventualfrage nach dem Verbrechen des Totschlags nach §§ 15, 76 StGB.

Gesetzeskonforme Ausführung einer solchen Rüge verlangt vom Beschwerdeführer die deutliche und bestimmte Bezeichnung einerseits der vermissten Fragen, andererseits jenes Sachverhalts, auf den die Rechtsbegriffe der §§ 312 ff StPO abstellen, vorliegend somit eines die begehrte Eventualfrage indizierenden Tatsachensubstrats (RIS-Justiz RS0117447; Ratz, WK-StPO § 345 Rz 23). Beruft sich der Angeklagte dabei auf seine eigene Verantwortung, darf der Nachweis der Nichtigkeit nicht auf Grundlage isoliert herausgegriffener Teile dieser geführt werden, sondern ist die Einlassung in ihrer Gesamtheit zu berücksichtigen (vgl RIS-Justiz RS0120766 [T3]).

Diesen Kriterien wird die Beschwerde nicht gerecht, vernachlässigt sie doch, dass der Angeklagte den für die Verwirklichung des Verbrechens des Totschlags nach §§ 15, 76 StGB erforderlichen (RIS-Justiz RS0092113) Tötungsvorsatz dezidiert in Abrede stellte (ON 81 [Teil 1] S 46), sodass schon aus diesem Grund kein Sachverhalt genannt wird, welcher indiziert, der Angeklagte habe sich in einer allgemein begreiflichen heftigen Gemütsbewegung zu einer Tötungshandlung hinreißen lassen (RIS-Justiz RS0120766 [T5]).

         Zudem scheidet die (ebenfalls ins Treffen geführte) Abartigkeit des Angeklagten höheren Grades und die damit einhergehende mangelhafte Impulskontrolle und hohe reaktive Aggressivität (ON 81 [Teil 2] S 50) als ernstzunehmendes Indiz für die allgemeine Begreiflichkeit der heftigen Gemütsbewegung von vornherein aus (RIS-Justiz RS0092353 [T2, T5]).

Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – bereits bei der nichtöffentlichen Beratung gemäß §§ 344, 285d Abs 1 StPO sofort zurückzuweisen.

Aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerde überzeugte sich der Oberste Gerichtshof jedoch davon, dass die vom Erstgericht angeordnete Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 2 StGB mit nicht geltend gemachter Nichtigkeit gemäß § 345 Abs 1 Z 13 zweiter Fall StPO behaftet ist. Denn die Annahme, der Angeklagte werde mit hoher Wahrscheinlichkeit unter dem Einfluss seiner seelischen Abartigkeit höheren Grades „neuerlich Tathandlungen mit schweren Folgen“ begehen, „die in erster Linie gegen den Bruder gerichtet sind“ (US 8 f), stellt mangels Umschreibung der Prognosetat zumindest ihrer Art nach noch keine ausreichende Feststellungsgrundlage dar, welche die Beurteilung der befürchteten Begehung einer Tat mit schweren Folgen ermöglichen würde (RIS-Justiz RS0118581&SkipToDocumentPage=True&SucheNachRechtssatz=True&SucheNachText=False"> [T9, T10], RS0113980&SkipToDocumentPage=True&SucheNachRechtssatz=True&SucheNachText=False"> [T8, T10]; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 721; ders in WK² StGB § 21 Rz 26).

Diese dem Angeklagten zum Nachteil gereichende Nichtigkeit war von Amts wegen aufzugreifen (§§ 344, 285e erster Fall, 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall StPO), weil sich weder die Nichtigkeitsbeschwerde noch die Berufung gegen die Maßnahmenanordnung richten. Dem Berufungsgericht ist in einem solchen Fall zufolge Beschränkung auf die der Berufung unterzogenen Punkte die amtswegige Wahrnehmung einer diesen Ausspruch betreffenden Nichtigkeit nach § 345 Abs 1 Z 13 StPO zugunsten des Angeklagten nicht möglich (Ratz, WK-StPO § 294 Rz 10 und § 295 Rz 7 und 14).

Aufgrund der Kassation der Anordnung der Maßnahme war – wegen des untrennbaren Zusammenhangs (§ 289 StPO) – auch die Aufhebung des Strafausspruchs (RIS-Justiz RS0115054) erforderlich.

Die Kostenersatzpflicht, welche die amtswegige Maßnahme nicht umfasst (Lendl, WK-StPO § 390a Rz 12), gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.

Textnummer

E130100

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0120OS00122.20P.1207.000

Im RIS seit

22.12.2020

Zuletzt aktualisiert am

07.05.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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