Entscheidungsdatum
27.08.2020Norm
BFA-VG §18 Abs2 Z1Spruch
W192 2234464-1/2E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch den Richter Dr. Ruso als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit: Serbien, vertreten durch ARGE Rechtsberatung, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.06.2020, Zahl: 34068903/200151893:
A) In Erledigung der Beschwerde wird der bekämpfte Bescheid aufgehoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Begründung:
I. Verfahrensgang und Sachverhalt:
1. Der Beschwerdeführer ist ein in Österreich geborener Staatsangehöriger von Serbien, der über einen unbefristeten Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt-EU“ verfügt, wobei zufolge den Feststellungen des angefochtenen Bescheids zuletzt eine entsprechende Karte mit Gültigkeit bis 23.03.2022 ausgestellt wurde.
In der Zeit zwischen 1996 und November 2018 wurde der Beschwerdeführer zehn Mal vom Jugendgerichtshof und von Landesgerichten strafgerichtlich verurteilt. Dabei wurde zuletzt im März 2017 wegen Schweren Raubes eine unbedingte Freiheitsstrafe von 5 Jahren verhängt.
Am 25.10.2017 wurde der Beschwerdeführer zur Erlassung einer aufenthaltsbeendeten Maßnahme und zur Erlassung der Schubhaft kursorisch niederschriftlich einvernommen.
Mit Schreiben vom 18.05.2020 erging die Verständigung an den Beschwerdeführer, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden Bundesamt) beabsichtige, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung sowie ein Einreiseverbot zu erlassen. Dazu könne er durch schriftliche Beantwortung einer Reihe von im Schreiben enthaltener Fragen Stellung nehmen.
Mit Schreiben vom 19.05.2020 erstattete der Beschwerdeführer eine Stellungnahme. Er führte aus, sich seit Geburt im Bundesgebiet aufzuhalten. Derzeit verfüge er über den Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“.
In Österreich würden als österreichische Staatsbürger seine beiden Kinder sowie seine frühere Lebensgefährtin leben, ebenso seine Mutter und zwei Brüder. Der Beschwerdeführer habe früher gearbeitet, er sei gesund und hätte die Möglichkeit, nach der Haft bei einer Reinigungsfirma zu arbeiten.
Eine Einvernahme des Beschwerdeführers durch das Bundesamt ist nicht erfolgt.
2. Am 29.06.2020 erließ das Bundesamt den hier angefochtenen Bescheid, mit dem gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 5 FPG erlassen (Spruchpunkt I) sowie nach § 52 Abs. 9 FPG festgestellt wird, dass seine Abschiebung nach Serbien zulässig ist (Spruchpunkt II). Unter einem wurde ein unbefristetes Einreiseverbot gegen den Beschwerdeführer erlassen (Spruchpunkt III). Eine Frist für die freiwillige Ausreise wurde nicht festgesetzt (Spruchpunkt IV) und einer Beschwerde gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt.
Die Behörde traf Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers und führte aus, dass er von einem Gericht verurteilt worden sei. Es habe keine Aufenthaltsverfestigung erkannt werden können. Der Beschwerdeführer sei „seit spätestens Jänner 2017“ in Österreich aufhältig. Es wurde der die gerichtlich Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Schweren Raubes vom März 2017 betreffende Teil des Strafregisterauszug betreffend den Beschwerdeführer wiedergegeben und ausgeführt, dass der Beschwerdeführer mit den gesetzten Straftaten wiederholt seinen Unwillen gezeigt habe, sich an österreichische Gesetze nicht zu halten und somit gehe von ihm eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit aus.
Der Beschwerdeführer „befinde sich seit mehreren Jahren im Bundesgebiet, daher müsse ihm eine gewisse soziale Integration zugesprochen werden. Das zugebilligte Ausmaß an erfolgter Integration werde jedoch durch die gerichtliche Verurteilung mehr als kompensiert.“
Eine konkrete Bezugnahme auf relevante Urteile der Strafgerichte ist nicht erfolgt und im Verwaltungsakt sind auch keinerlei Ausfertigungen dieser Urteile enthalten. Der angefochtene Bescheid enthält keine Feststellungen über Art und Intensität der Beziehungen des Beschwerdeführers zu seinen Familienangehörigen in Österreich und auch nicht über den aufenthaltsrechtlichen Status seiner Mutter und seiner Brüder.
Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer in einer Justizanstalt am 29.07.2020 zugestellt.
3. Mit Schriftsatz einer Rechtsberatungsorganisation vom 28.07.2020 erhob der Beschwerdeführer gegen diesen Bescheid Beschwerde in vollem Umfang, worin ausgeführt wurde, dass der Beschwerdeführer derzeit eine freiwillige Drogentherapie absolviere. Die Behörde habe Verfahrensvorschriften verletzt, indem sie unterlassen habe, sich im Zusammenhang mit der aufenthaltsbehinderten Maßnahme einen persönlichen Eindruck vom Beschwerdeführer zu verschaffen. Die Behörde habe unzureichende Feststellungen über die familiären Bindungen des Beschwerdeführers in Österreich und über persönlichen und familiären Bindungen des Beschwerdeführers zu Österreich getroffen. Es sei eine korrekte Abwägung gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG nicht vorgenommen worden und sei auch keine fundierte Prognoseentscheidung über eine vom Beschwerdeführer ausgehende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit getroffen worden.
2. Beweiswürdigung:
Der oben angeführte Verfahrensgang und Sachverhalt ergeben sich aus dem vorgelegten Verwaltungsakt.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Zu Spruchpunkt A)
3.1.1. Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Gemäß Abs. 2 hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder dieser durch das Verwaltungsgericht selbst festgestellt werden kann, sofern dies im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist. Gemäß Abs. 3 zweiter Satz kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen, wenn die Behörde die notwendigen Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen hat. In diesem Fall ist die Behörde an die Rechtsansicht des Verwaltungsgerichtes gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgeht.
Das Modell der Aufhebung des Bescheids und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, setzt im Unterschied dazu aber nicht die Notwendigkeit der Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung voraus. Voraussetzung für eine Aufhebung und Zurückverweisung ist allgemein das Fehlen behördlicher Ermittlungsschritte. Sonstige Mängel, abseits jener der Sachverhaltsfeststellung, legitimieren nicht zur Behebung auf Grundlage von § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG (Fister/Fuchs/Sachs, Das neue Verwaltungsgerichtsverfahren, 2. Auflage [2018] § 28 VwGVG, Anm. 11).
§ 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, wenn „die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen“ hat.
3.1.2. Der Verwaltungsgerichtshof hat sich bereits wiederholt mit der Sachentscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte auseinandergesetzt und darin folgende Grundsätze herausgearbeitet (VwGH 26.06.2014, Ro 2014/03/0063; 30.06.2015, Ra 2014/03/0054):
Die Aufhebung eines Bescheides einer Verwaltungsbehörde durch ein Verwaltungs-gericht kommt nach dem Wortlaut des § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG nicht in Betracht, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits im verwaltungs-behördlichen Verfahren geklärt wurde, zumal dann, wenn sich aus der Zusammenschau der im verwaltungsbehördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen (im Zusammenhalt mit den dem Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsakten) mit dem Vorbringen in der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde kein gegenläufiger Anhaltspunkt ergibt.
Der Verfassungsgesetzgeber hat sich bei Erlassung der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 davon leiten lassen, dass die Verwaltungsgerichte grundsätzlich in der Sache selbst zu entscheiden haben, weshalb ein prinzipieller Vorrang einer meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte anzunehmen ist.
Angesichts des in § 28 VwGVG insgesamt verankerten Systems stellt die nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte dar. Nach dem damit gebotenen Verständnis steht diese Möglichkeit bezüglich ihrer Voraussetzungen nicht auf derselben Stufe wie die im ersten Satz des § 28 Abs. 3 verankerte grundsätzliche meritorische Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte. Vielmehr verlangt das in § 28 insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher insbesondere dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer „Delegierung“ der Entscheidung an das Verwaltungsgericht).
3.2. Solche gravierenden Ermittlungslücken sind dem Bundesamt hier unterlaufen:
Zunächst ist dazu festzuhalten, dass sich das Ermittlungsverfahren des Bundesamtes im Wesentlichen auf die Einholung einer schriftlichen Stellungnahme des Beschwerdeführers und die Einholung diverser Registerauszüge beschränkte. Eine Einsichtnahme in die relevanten Urteile der Strafgerichte ist nicht erfolgt und eine aktuelle mündliche Einvernahme des Beschwerdeführers durch das Bundesamt unterblieb.
Auszugehen ist davon, dass der Beschwerdeführer über den Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EU" verfügt. Damit kommt ihm nach § 20 Abs. 3 NAG in Österreich - unbeschadet der befristeten Gültigkeitsdauer des diesem Aufenthaltstitel entsprechenden Dokumentes - ein unbefristetes Niederlassungsrecht zu (vgl. VwGH 15.12.2015, Ra 2015/22/0024 sowie 29.05.2018, Ra 2018/21/0067).
Für Fremde mit dem Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EU" ist in § 52 Abs. 5 FPG eine Sonderbestimmung vorgesehen (vgl. VwGH 29.05.2018, Ra 2018/21/0067), der zufolge vom Fremden eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit im Sinne des § 53 Abs. 3 FPG ausgehen muss, um überhaupt eine Rückkehrentscheidung erlassen zu dürfen. Bei der Prüfung dieser Gefahr reicht es nicht aus, auf die bloße Tatsache der Verurteilung abzustellen. Vielmehr muss eine „das Gesamtverhalten des Fremden berücksichtigende Prognosebeurteilung“ (vgl. VwGH 21.06.2018, Ra 2016/22/0101) vorgenommen werden. Dabei ist auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils anzuwendende Gefährdungsannahme (hier: eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit) gerechtfertigt ist (vgl. VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0289 und 21.06.2018, Ra 2016/22/0101). Es ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. VwGH 20.12.2016, Ra 2016/21/0109; 31.08.2017, Ra 2017/21/0120; 21.06.2018, Ra 2016/22/0101). Dabei kommt der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks in Bezug auf die Gefährdungsprognose besondere Bedeutung zu (VwGH 21.06.2018, Ra 2016/22/0101). Einen solchen - für eine fundierte Prognoseentscheidung, ob ihr weiterer Aufenthalt iSd § 52 Abs. 5 FPG 2005 eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würde - unbedingt notwendigen persönlichen Eindruck hätte das Bundesamt vor Erlassung der Rückkehrentscheidung durch die Einvernahme des Beschwerdeführers gewinnen müssen. Ohne den Beschwerdeführer einzuvernehmen, darf nicht schon wegen einer strafgerichtlichen Verurteilung eo ipso auf eine von ihm ausgehende „gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit“ iSd § 52 Abs. 5 FPG 2005 geschlossen werden, zumal eine Auseinandersetzung der Behörde mit den konkreten Strafurteilen, aus denen die Umstände der Tatbegehung und die jeweiligen Erschwerungs- und Milderungsgründe erst ersichtlich wären, nicht erfolgt ist.
Trotz dieser Gegebenheiten unterließ es das Bundesamt, den Beschwerdeführer zu seinen Straftaten, deren Hintergründen und möglicher Ursachen in seiner Suchterkrankung einzuvernehmen, obwohl dies zur Prognose der Gefährlichkeit des Beschwerdeführers und damit zur Beurteilung unabdingbar war, ob gegen ihn trotz der Voraussetzungen gemäß § 52 Abs. 5 FPG überhaupt eine Rückkehrentscheidung erlassen werden darf.
Ferner wäre die Einvernahme des Beschwerdeführers zu den genannten Hintergründen seiner Strafbarkeit auch erforderlich gewesen, um jene Gefährdungsprognose treffen zu können, auf die das Bundesamt das unter einem gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 gegen den Beschwerdeführer verhängte Einreiseverbot von acht Jahren stützt. Denn bei der Bemessen eines Einreiseverbots ist darauf abzustellen, wie lange die von der Fremden ausgehende Gefährdung zu prognostizieren ist (VwGH 15.12.2011, 2011/21/0237). Auch für diese Prognose kommt der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks besondere Bedeutung zu (VwGH 16.10.2014, Ra 2014/21/0039). Daher wäre der Beschwerdeführer auch zur Bemessung des Einreiseverbots zu den Umständen seiner Delinquenz einzuvernehmen gewesen.
Besonders gravierend erscheint es dem Bundesverwaltungsgericht, dass der Beschwerdeführer trotz seines seit Geburt bestehenden rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet zu seiner Integration in Österreich nicht einvernommen wurde, könnte sein Privat- und Familienleben in Österreich doch dazu führen, dass Art 8 EMRK und § 9 BFA-VG die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den Beschwerdeführer trotz der strafgerichtlichen Verurteilungen nicht zulassen. Mit Blick darauf, dass die bisherigen Ermittlungsergebnisse darauf hindeuten, dass der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat keine Familienangehörigen, im Bundesgebiet jedoch ihre gesamten Angehörigen hat, wäre es erforderlich gewesen, den Beschwerdeführer zu seinem Verhältnis zu diesen, insbesondere zu der Intensität und Regelmäßigkeit des Kontakts sowie etwaiger wechselseitiger Abhängigkeiten und Unterstützung, einzuvernehmen, um das Gewicht dieses Privat- und oder Familienlebens zu ermitteln. Ohne diese Ermittlungen durch Einvernahme des Beschwerdeführers erscheint eine Beurteilung des Gewichts dieses Privat- und Familienlebens nicht möglich. Der schlichte Hinweis im angefochtenen Bescheid es stehe fest, dass der Beschwerdeführer kein schützenswertes Privat- und Familienleben habe, greift zu kurz.
Angesichts seines langen Aufenthalts, der dazu führen kann, dass mit einer Rückkehrentscheidung ein gravierender Eingriff in die Rechte des Beschwerdeführers gemäß Art. 8 EMRK verbunden sind, hat das Bundesamt wegen der Maßgeblichkeit des Privat- und Familienlebens für die Zulässigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung vor dem Hintergrund von Art. 8 EMRK und § 9 BFA-VG einen gravierenden Ermittlungsmangel begangen, indem es den Beschwerdeführer nicht zu seinem Privat- und Familienleben in Österreich einvernommen hat.
In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass § 9 Abs. 4 BFA-VG durch das FrÄG 2018 mit Ablauf des 31. August 2018 zwar aufgehoben wurde. Allerdings hat der Verwaltungsgerichtshof (Ra 2019/21/0238 vom 19.12.2019) zum Ausdruck gebracht, dass ungeachtet des Außerkrafttretens des § 9 Abs. 4 BFA-VG die Wertungen dieser ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestände im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG weiter beachtlich seien (vgl. VwGH 16.5.2019, Ra 2019/21/0121, Rn. 9, mit dem Hinweis auf VwGH 25.9.2018, Ra 2018/21/0152, Rn. 20), ohne dass es aber einer ins Detail gehenden Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen für die Anwendung des ehemaligen § 9 Abs. 4 BFA-VG bedürfe (siehe neuerlich VwGH 25.9.2018, Ra 2018/21/0152, Rn. 20). Es ist also weiterhin darauf Bedacht zu nehmen, dass für die Fälle des bisherigen § 9 Abs. 4 BFA-VG allgemein unterstellt wurde, diesfalls habe die Interessenabwägung - trotz einer vom Fremden ausgehenden Gefährdung - regelmäßig zu seinen Gunsten auszugehen und eine aufenthaltsbeendende Maßnahme dürfe in diesen Konstellationen grundsätzlich nicht erlassen werden. Durch die Aufhebung dieser Bestimmung wollte der Gesetzgeber erkennbar nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen einen fallbezogenen Spielraum einräumen (vgl. dazu noch einmal RV 189 BlgNR 26. GP 27, wo diesbezüglich von "gravierender Straffälligkeit" bzw. "schwerer Straffälligkeit" gesprochen wird). Dazu zählen jedenfalls die schon bisher in § 9 Abs. 4 Z 1 BFA-VG normierten Ausnahmen bei Erfüllung der Einreiseverbotstatbestände nach den Z 6, 7 und 8 des § 53 Abs. 3 FPG, aber auch andere Formen gravierender Straffälligkeit (siehe zu solchen Fällen der Sache nach zuletzt VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0232, betreffend Vergewaltigung, und VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0207, betreffend grenzüberschreitenden Kokainschmuggel).
Dass das Bundesamt es unterließ, dem Beschwerdeführer zu den Straftaten, deren Hintergründen und zu seinem Privat- und Familienleben einzuvernehmen, stellt daher einen im Sinne der vorzitierten Rechtsprechung besonders gravierenden Ermittlungsmangel dar, der die Aufhebung des angefochtenen Bescheids und die Zurückverweisung der Angelegenheit zum Bundesamt gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG rechtfertigt.
Denn mit Blick auf den skizzierten Hergang des Ermittlungsverfahrens geht das Bundes-verwaltungsgericht davon aus, dass das Bundesamt den Sachverhalt, welchen es für die Erlassung sämtlicher Spruchpunkte des angefochtenen Bescheids als maßgeblich feststellte, im Sinne der vorzitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bloß ansatzweise ermittelt hat. Trotz nur ansatzweise vorliegender Beweisergebnisse sah das Bundesamt nämlich davon ab, den Beschwerdeführer einzuvernehmen, um so den Sachverhalt zu klären.
Der angefochtene Bescheid ist sohin gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG aufzuheben und die Rechtssache wird zur Erlassung eines neuen Bescheids an das Bundesamt zurückverwiesen.
Zu Spruchpunkt B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung, des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige (insbesondere VwGH 21.06.2018, Ra 2016/22/0101) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.
Schlagworte
Behebung der Entscheidung Einvernahme Ermittlungspflicht Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Privat- und FamilienlebenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:W192.2234464.1.00Im RIS seit
22.12.2020Zuletzt aktualisiert am
22.12.2020