Entscheidungsdatum
01.09.2020Norm
BFA-VG §18 Abs1Spruch
W189 2006576-5/2E
W189 2006578-5/2E
W189 2150124-4/3E
W189 2208264-4/2E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Irene RIEPL als Einzelrichterin über die Beschwerde von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX und 4.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Russische Föderation, vertreten durch ARGE – Diakonie Flüchtlingsdienst und RA Mag. Wolfgang Auner, gegen die Spruchpunkte II. – VI. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zlen. 1.) XXXX , 2.) XXXX , 3.) XXXX und 4.) XXXX , zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte II. und III. der angefochtenen Bescheide gem. § 10 AsylG, § 9 BFA-VG und § 52 FPG als unbegründet abgewiesen.
II. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte IV. und V. der angefochtenen Bescheide ersatzlos behoben.
III. Gemäß § 55 Abs. 2 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Asylverfahren
1.1. Der Erstbeschwerdeführer (in der Folge: BF1) und die Zweitbeschwerdeführerin (in der Folge: BF2) sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe und verheiratet. Sie stellten am XXXX infolge illegaler Einreise Anträge auf Gewährung internationalen Schutzes. Am gleichen Tag wurden der BF1 und die BF2 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes niederschriftlich erstbefragt.
1.2. Der BF1 und die BF2 wurden am XXXX niederschriftlich vor dem nunmehrigen Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) einvernommen.
1.3. Mit Bescheiden des BFA jeweils vom XXXX wurden die Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen. Der BF1 und die BF2 wurden in die Russische Föderation ausgewiesen.
1.4. Gegen diese Bescheide erhoben der BF1 und die BF2 fristgerecht Beschwerde.
1.5. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX , wurden die bekämpften Bescheide behoben und die Angelegenheiten zur Erlassung neuer Bescheide an das BFA zurückverwiesen.
1.6. Am XXXX wurden der BF1 und die BF2 erneut durch das BFA niederschriftlich einvernommen.
1.7. Mit Bescheiden des BFA vom XXXX wurden die Anträge auf internationalen Schutz des BF1 und der BF2 erneut hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 57 AsylG nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.
1.8. Gegen diese Bescheide wurde mit Schriftsatz vom XXXX Beschwerde erhoben.
1.9. Der BF3 wurde am XXXX im Bundesgebiet geboren. Der BF1 und die BF2 stellten für ihn als gesetzliche Vertreter am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz.
1.10. Mit Bescheid des BFA vom XXXX wurde der Antrag des BF3 auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 57 AsylG nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.
1.11. Der BF4 wurde am XXXX Bundesgebiet geboren. Der BF1 und die BF2 stellten für ihn als gesetzliche Vertreter am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz.
1.12. Mit Bescheid des BFA vom XXXX wurde der Antrag des BF4 auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 57 AsylG nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.
1.13. In einer vor dem Bundesverwaltungsgericht am XXXX durchgeführten öffentlichen mündlichen Verhandlung wurde Beweis aufgenommen durch Einvernahme des BF1 und der BF2, Einsichtnahme in den Verwaltungsakt und durch Einsicht in den Akt des Bundesverwaltungsgerichts.
1.14. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX , Zl. XXXX wurden die Beschwerden als unbegründet abgewiesen.
1.15. Gegen diese Entscheidung erhoben die BF Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der die Behandlung der Beschwerde nach Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung mit Beschluss vom XXXX mit Beschluss vom XXXX , Zl. XXXX , ablehnte.
1.16. Gemäß Bericht der Landespolizeidirektion Steiermark vom XXXX , Zl. XXXX , waren die BF trotz mehrmaliger Nachschau in jenem Zeitraum an ihrer Meldeadresse nicht erreichbar.
2. Wiederaufnahmeverfahren
2.1. Am XXXX stellten die BF jeweils einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens.
2.2. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX , Zl. XXXX 3.1. Am XXXX stellten die BF unter Verwendung eines Formularvordrucks beim BFA jeweils einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen“ gem. § 56 Abs. 1 AsylG. Das Formularfeld „Verfügbare eigene Mittel zur Sicherung des Lebensunterhaltes für die Aufenthaltsdauer“ wurde von den BF nicht ausgefüllt. Den Anträgen beigelegt wurde jeweils ein Passbild. Identitätsbezeugende Urkunden und Nachweise wurden nicht vorgelegt.
3.2. Mit Schreiben vom XXXX wurde seitens eines Rechtsanwaltes dem BFA die rechtsfreundliche Vertretung der BF bekanntgegeben und angefragt, ob in Anbetracht des ordentlichen Vorlebens, der strafrechtlichen Unbescholtenheit sowie der Aufenthaltsdauer eine Antragstellung auf Gewährung eines Aufenthaltstitels aus humanitären Gründen denkbar und möglich sei.
3.3. Mit Schreiben vom XXXX übermittelte der BF1 eine mit der Erteilung eines Aufenthaltstitels bedingte Einstellungszusage vom XXXX hinsichtlich einer Beschäftigung als „Platzarbeiter“ zu einem Nettomonatslohn von EUR 1.550,-.
3.4. Mit Verfahrensanordnung vom XXXX teilte das BFA den BF unter Setzung einer zweiwöchigen Frist mit, dass zur Prüfung des gegenständlichen Antrages gem. § 8 AsylG-DV die Übermittlung von identitätsbezeugenden Dokumenten sowie Unterlagen zum Nachweis des Bestehens einer Krankenversicherung, des gesicherten Lebensunterhalts, zur schulischen und beruflichen Ausbildung und von Deutschkenntnissen erforderlich sei.
3.5. Mit Schreiben vom XXXX beantragten die BF eine Fristerstreckung bis XXXX , die mit Schreiben des BFA vom Folgetag gewährt wurde.
3.6. Mit Schreiben vom XXXX teilte der rechtsfreundliche Vertreter der BF mit, dass hinsichtlich gültiger Reisedokumente festgehalten werde, dass „bislang, soweit verständlich, die Familie solche Dokumente nicht erhalten“ habe. Hinsichtlich des BF1 und der BF2 seien auch keine Geburtsurkunden vorhanden. Die Familie sei integriert und spreche gut Deutsch. Die Selbsterhaltungsfähigkeit sei aufgrund der Einstellungszusage im Falle der Erteilung eines Aufenthaltstitels gegeben. Vorgelegt wurden: Die bereits zuvor übermittelte Einstellungszusage, ein Mietvertrag, bezüglich des BF1 ein Deutschzertifikat auf dem Niveau A2 vom XXXX , bezüglich der BF2 Deutschzertifikate auf dem Niveau A1 und A2 vom XXXX und XXXX , drei Deutschkursbestätigungen des BF1 vom XXXX , XXXX und XXXX , eine Teilnahmebestätigung an einem Erste-Hilfe-Auffrischungskurs vom XXXX , eine Heiratsurkunde in Übersetzung, die Geburtsurkunden des BF3 und des BF4, Krankenversicherungsbestätigungen der BF sowie bezüglich des BF1 eine Bestätigung vom XXXX über die Ableistung von gemeinnützigen Arbeiten im Zeitraum XXXX .
3.7. Auf Anfrage des BFA teilte die Landespolizeidirektion Steiermark am XXXX mit, dass bezüglich des BF1 und der BF2 keine verwaltungsstrafrechtlichen Vormerkungen aufscheinen.
3.8. Mit Bescheiden vom XXXX setzte das BFA die gegenständlichen Verfahren gem. § 38 AVG bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Verfahrens auf internationalen Schutz des jüngstgeborenen (dritten) Sohnes des BF1 und der BF2 aus.
3.9. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der Antrag auf internationalen Schutz des jüngstgeborenen, dritten Sohnes des BF1 und der BF2 mit der Maßgabe rechtskräftig abgewiesen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Wegfall der durch die COVID-19-Pandemie bedingten Ausreisebeschränkungen betrage.
3.10. Mit den nunmehr hinsichtlich der Spruchpunkte II. – VI. angefochtenen Bescheide des BFA vom XXXX wurden die Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus besonders berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 56 AsylG gem. § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG als unzulässig zurückgewiesen (Spruchpunkt I.), gegen die BF eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt II.), festgestellt, dass die Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt III.), gem. § 53 Abs. 1 iVm. Abs. 2 Z 6 FPG ein zweijähriges Einreiseverbot gegen die BF erlassen (Spruchpunkt IV.), einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt V.) und festgestellt, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkt VI.).
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass die gegenständlichen Anträge mangels Vorlage identitätsbezeugender Dokumente zurückzuweisen seien. Die BF würden sich unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und es habe sich seit rechtkräftiger Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX keine maßgebliche Änderung im Privat- und Familienleben der BF ergeben. Aus den Länderberichten ergebe sich kein Rückkehrhindernis und auch die nunmehrige COVID-19-Pandemie stehe einer Rückkehr der BF nicht entgegen. Es sei ein Einreiseverbot zu erlassen, da die BF mittellos und nicht ausreisewillig seien. Einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung sei die aufschiebende Wirkung abzuerkennen, da die sofortige Ausreise der BF im Interesse der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich sei und Fluchtgefahr bestehe. Aus diesem Grund bestehe auch keine Frist für die freiwillige Ausreise.
3.11. Mit Schriftsatz vom XXXX brachten die BF gegen die Spruchpunkte II. – VI. dieser Bescheide fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde ein. Dabei wurde nach Wiederholung des Verfahrensganges im Wesentlichen moniert, dass die belangte Behörde die BF nicht einvernommen habe und zum Privat- und Familienleben der BF, zur Situation im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie, zum Gesundheitszustand des BF3 sowie zur Gesundheitsversorgung in der Russischen Föderation ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt habe. Ebenso sei die Beweiswürdigung mangelhaft, woraus sich letztlich eine unrichtige rechtliche Beurteilung ergebe. Beantragt wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Vorgelegt wurden eine aktuelle Stellungnahme der Frühförderung des BF3 und ein mit der Erteilung einer Aufenthalts- und Arbeitsberechtigung aufschiebend bedingter Dienstvertrag als „Gartenarbeiter“ zu einem Bruttomonatslohn von EUR 1.441,52.
3.12. Die gegenständliche Beschwerde langte am XXXX beim Bundesverwaltungsgericht ein.
3.13. Mit Schreiben vom XXXX wurde für den BF3 ein mit dem XXXX datiertes ärztliches Attest einer Allgemeinmedizinerin vorgelegt, in welchem diesem folgende Diagnosen gestellt wurden: P99 Autismusspektrumstörung, A29 globaler Entwicklungsrückstand, H02 Status post Adenotomie und Paracentese 7/2019, Verdacht auf chronisches Reizdarmsyndrom, Durchschlafstörung.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person der BF
Die BF sind Staatsangehörige der Russischen Föderation. Der BF1 und die BF2 stammen aus der Republik Tschetschenien und sind verheiratet, der BF3 und der BF4 sind ihre in Österreich nachgeborenen, minderjährigen Söhne.
Der BF1 hat in Tschetschenien drei Brüder und eine Tante. Ein weiterer Bruder lebt in der Russischen Föderation. Der BF1 war vor seiner Ausreise als XXXX tätig und verfügt über eine Ausbildung zum XXXX . Die BF2 hat einen Großvater, eine Schwester, Onkel und Tanten in Tschetschenien. Ihre Mutter lebt im Westen der Russischen Föderation. Die BF2 hat eine XXXX Schulbildung absolviert und war im Herkunftsstaat noch nicht berufstätig.
Der BF1 und die BF2 stellten am XXXX nach illegaler Einreise einen Antrag auf internationalen Schutz. Für den BF3 stellten sie am XXXX und für den BF4 am XXXX als gesetzliche Vertreter ebenso jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz. Diese Anträge wurden letztlich mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX , Zl. XXXX , rechtskräftig abgewiesen. Gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts erhoben die BF Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der die Behandlung der Beschwerde nach Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung mit Beschluss vom XXXX , Zl XXXX , ablehnte. Die BF waren im XXXX an ihrer Meldeadresse trotz mehrmaliger polizeilicher Nachschau nicht erreichbar. Am XXXX stellten die BF beim BFA die gegenständlichen Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen“ gem. § 56 Abs. 1 AsylG. Am XXXX stellten die BF jeweils einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens vor dem Bundesverwaltungsgericht. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX , Zl. XXXX Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom selben Tag, Zl. XXXX , wurde der Antrag auf internationalen Schutz des jüngstgeborenen, dritten Sohnes des BF1 und der BF2 mit der Maßgabe rechtskräftig abgewiesen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Wegfall der durch die COVID-19-Pandemie bedingten Ausreisebeschränkungen betrage.
Der BF1 und die BF2 befinden sich seit rund XXXX Jahren – bzw. der BF3 und der BF4 jeweils seit ihrer Geburt – in Österreich. Der Aufenthalt war bis zur rechtskräftigen Abweisung der Anträge auf internationalen Schutz bloß aufgrund eines vorübergehenden Aufenthaltsrechts im Asylverfahren rechtmäßig. Aktuell halten sich die BF unrechtmäßig im Bundesgebiet auf.
Der BF1 und die BF2 verfügen über Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2. Sie gingen in der Vergangenheit diversen gemeinnützigen Tätigkeiten nach. Der BF1 verfügt über eine Einstellungszusage als „ XXXX “ zu einem Nettomonatslohn von EUR 1.550,- und einen Dienstvertrag als „ XXXX “ zu einem Bruttomonatslohn von EUR 1.441,52, die jeweils mit der Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung und Beschäftigungsbewilligung bedingt sind. Die BF haben in Österreich Freunde und Bekannte. Die BF leben von Leistungen aus der Grundversorgung und sind nicht selbsterhaltungsfähig.
Der BF1 hat zwei Cousins im Bundesgebiet, zu denen gelegentlicher Kontakt besteht. Die BF2 hat einen Großcousin in Österreich, zu dem nur selten Kontakt besteht. Die Schwester des BF1, XXXX , stellte gemeinsam mit ihrem Ehemann am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX , Zl. XXXX , rechtskräftig abgewiesen wurde.
Die BF leiden an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen, bezüglich derer es keine Behandlungsmöglichkeiten in der Russischen Föderation gibt. Der BF3 litt an klin. Seromucotymp. bds (Sekretansammlung in der Paukenhöhe, Anm.) und hypertr. Adenoide (Wucherung der Rachenmandeln, Anm.), welche mittels Adenotomie und Paracentese im XXXX entfernt wurden. Der BF3 leidet an einer Sprachentwicklungsverzögerung, einer Autismusspektrumstörung und einem globalen Entwicklungsrückstand. Es besteht ein Verdacht auf ein chronisches Reizdarmsyndrom sowie Durchschlafstörung. Er wird derzeit einmal wöchentlich mobil im Rahmen der interdisziplinären Frühförderung und Familienbegleitung von einer Frühförderin betreut.
Die BF sind strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation
1.2.1. Grundversorgung
2018 betrug die Zahl der Erwerbstätigen in Russland ca. 73,6 Millionen, somit ungefähr 62% der Gesamtbevölkerung. Der Frauenanteil an der erwerbstätigen Bevölkerung beträgt knapp 55%. Die Arbeitslosenrate liegt bei 4,7% (WKO 7.2019), diese ist jedoch abhängig von der jeweiligen Region. Russische StaatsbürgerInnen haben überall im Land Zugang zum Arbeitsmarkt (IOM 2018). Das BIP lag 2018 bei ca. USD 1.630 Milliarden (WKO 7.2019, vgl. GIZ 2.2020b).
Die primäre Versorgungsquelle der Russen bleibt ihr Einkommen. Staatliche Hilfe können Menschen mit Behinderungen, Senioren und Kinder unter drei Jahren erwarten. Fast 14% der russischen Bevölkerung leben unterhalb der absoluten Armutsgrenze, die dem per Verordnung bestimmten monatlichen Existenzminimum von derzeit RUB 10.444 [ca. EUR 141] entspricht. Auch der Mindestlohn wurde seit 1.5.2018 an das Existenzminimum angeglichen. Der Warenkorb, der zur Berechnung des Existenzminimums herangezogen wird, ist marktfremd. Die errechnete Summe reicht kaum zum Überleben aus. Diese Entwicklung kann nur teilweise durch die Systeme der sozialen Absicherung aufgefangen werden (AA 13.2.2019).
Als besonders armutsgefährdet gelten Familien mit Kindern, vor allem Großfamilien, Alleinerziehende, Rentner und Menschen mit Behinderung. Weiters gibt es regionale Unterschiede. In den wirtschaftlichen Zentren, wie beispielsweise Moskau oder St. Petersburg ist die offizielle Armutsquote nur halb so hoch wie im Landesdurchschnitt (knapp 14%), wohingegen beispielsweise in Regionen des Nordkaukasus jeder fünfte mit weniger als dem Existenzminimum auskommen muss. Auch ist prinzipiell die Armutsgefährdung am Land höher als in den Städten. Die soziale Absicherung ist über Renten, monatliche Geldleistungen für bestimmte Personengruppen (beispielsweise Kriegsveteranen, Menschen mit Behinderung, Veteranen der Arbeit) und Mutterschaftsbeihilfen organisiert (Russland Analysen 21.2.2020a).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020b): Russland, Wirtschaft und Entwicklung
- IOM – International Organisation of Migration (2018): Länderinformationsblatt Russische Föderation
- Russland Analysen/ Brand, Martin (21.2.2020a): Armutsbekämpfung in Russland, in: Russland Analysen Nr. 382
- WKO – Wirtschaftskammer Österreich (7.2019): Länderprofil Russland
1.2.2. Grundversorgung im Nordkaukasus
Die nordkaukasischen Republiken stechen unter den Föderationssubjekten Russlands durch einen überdurchschnittlichen Grad der Verarmung und der Abhängigkeit vom föderalen Haushalt hervor. Die Haushalte Dagestans, Inguschetiens und Tschetscheniens werden zu über 80% von Moskau finanziert (GIZ 2.2020a, vgl. ÖB Moskau 12.2018), obwohl die föderalen Zielprogramme für die Region mittlerweile ausgelaufen sind. Dennoch hat sich die wirtschaftliche Lage im Nordkaukasus in den letzten Jahren einigermaßen stabilisiert. Wenngleich die föderalen Transferzahlungen wichtig bleiben, konnten in den vergangenen Jahren dank des massiven Engagements der Föderalen Behörden, insbesondere des Nordkaukasus-Ministeriums, signifikante Fortschritte bei der sozio-ökonomischen Entwicklung der Region erzielt werden (ÖB Moskau 12.2019). Die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung haben sich seit dem Ende des Tschetschenienkrieges dank großer Zuschüsse aus dem russischen föderalen Budget deutlich verbessert. Die ehemals zerstörte Hauptstadt Tschetscheniens, Grosny, ist wieder aufgebaut. Problematisch sind allerdings weiterhin die Arbeitslosigkeit und die daraus resultierende Armut und Perspektivlosigkeit von Teilen der Bevölkerung. Die Bevölkerungspyramide ähnelt derjenigen eines klassischen Entwicklungslandes mit hohen Geburtenraten und niedrigem Durchschnittsalter und unterscheidet sich damit stark von der gesamtrussischen Altersstruktur (AA 13.2.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020a): Russland, Geschichte und Staat
- ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation
1.2.3. Sozialbeihilfen
Die Russische Föderation hat ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Rentensystem. Leistungen hängen von der spezifischen Situation der Personen ab; eine finanzielle Beteiligung der Profitierenden ist nicht notwendig. Alle Leistungen stehen auch Rückkehrern offen (IOM 2018).
Der Sozialversicherungsfonds finanziert das Mutterschaftsgeld (bis zu 18 Wochen), Kinder- und Krankengeld. Das Krankenversicherungssystem umfasst eine garantierte staatliche Minimalversorgung, eine Pflichtversicherung und eine freiwillige Zusatzversicherung. Vom staatlichen Beschäftigungsfonds wird das Arbeitslosengeld (maximal ein Jahr lang) ausgezahlt. Alle Sozialleistungen liegen auf einem niedrigen Niveau (GIZ 2.2020c).
Zum Kreis der schutzbedürftigen Personen zählen Familien mit mehr als drei Kindern, Menschen mit Beeinträchtigungen sowie alte Menschen. Staatliche Zuschüsse werden durch die Pensionskasse bestimmt (IOM 2017).
Familienbeihilfe: Monatliche Zahlungen im Falle von einem Kind liegen bei RUB 3.120 (ca. EUR 44). Bei einem zweiten Kind sowie bei weiteren Kindern liegt der Betrag bei RUB 6.131 (ca. EUR 87). Der maximale Betrag liegt bei RUB 22.120 (ca. EUR 313) (IOM 2018). Seit 2018 gibt es für einkommensschwache Familien für Kleinkinder (bis 1,5 Jahre) monetäre Unterstützung in Höhe des regionalen Existenzminimums. Ab 2020 soll der Kreis der berechtigten Familien erweitert werden (Russland Analysen 21.2.2020a).
Mutterschaftskapital: Zu den bedeutendsten Positionen der staatlichen Beihilfe zählt das Mutterschaftskapital, in dessen Genuss Mütter mit der Geburt ihres zweiten Kindes kommen. Dieses Programm wurde 2007 aufgelegt und wird russlandweit umgesetzt. Der Umfang der Leistungen ist beträchtlich – innerhalb von zehn Jahren stiegen sie inflationsbereinigt von RUB 250.000 auf 453.026, also von EUR 4.152 auf mehr als EUR 7.500 (RBTH 22.4.2017). Ab dem 1.1.2020 wird das Mutterschaftskapital in Russland erhöht. Familien, in denen das zweite Kind geboren wird, erhalten RUB 470.000 (ca. EUR 6.100) statt der derzeitigen 453.000. Dies teilte der Minister für Arbeit und soziale Sicherheit mit (Russland Capital 7.6.2019). Man bekommt das Geld allerdings erst drei Jahre nach der Geburt ausgezahlt und die Zuwendungen sind an bestimmte Zwecke gebunden. So etwa kann man von den Geldern Hypothekendarlehen tilgen, weil das zur Verbesserung der Wohnsituation beiträgt. In einigen Regionen darf der gesamte Umfang des Mutterkapitals bis zu 70% der Wohnkosten decken. Aufgestockt werden die Leistungen durch Beihilfen in den Regionen (RBTH 22.4.2017). Die Höhe des Mutterschaftskapital entspricht etwa einem durchschnittlichen Jahresgehalt und bisher profitierten über fünf Millionen Familien davon. Das Mutterschaftskapital soll laut Putin bis Ende 2026 fortgeführt werden und auf die Geburt des ersten Kindes ausgeweitet werden (Russland Analysen 21.2.2020a). Das Mutterschaftskapital muss nicht versteuert werden und ist status- und einkommensunabhängig (Russland Analysen 21.2.2020b).
Behinderung: ArbeitnehmerInnen mit einem Behindertenstatus haben das Recht auf eine Behindertenrente. Dies gilt unabhängig von der Ursache der Behinderung. Diese wird für die Dauer der Behinderung gewährt oder bis zum Erreichen des normalen Rentenalters (IOM 2018).
Arbeitslosenunterstützung: Eine Person kann sich bei den Arbeitsagenturen der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) arbeitslos melden und Arbeitslosenhilfe beantragen. Daraufhin wird die Arbeitsagentur innerhalb von zehn Tagen einen Arbeitsplatz anbieten. Sollte der/die BewerberIn diesen zurückweisen, wird er/sie als arbeitslos registriert. Arbeitszentren gibt es überall im Land. Arbeitslosengeld wird auf Grundlage des durchschnittlichen Gehalts des letzten Beschäftigungsverhältnisses kalkuliert. Die Mindesthöhe pro Monat beträgt RUB 850 (EUR 12) und die Maximalhöhe RUB 4.900 (EUR 70). Gelder werden monatlich ausgezahlt. Die Voraussetzung ist jedoch die notwendige Neubewertung (normalerweise zweimal im Monat) der Bedingungen durch die Arbeitsagenturen. Die Leistungen können unter verschiedenen Umständen auch beendet werden. Arbeitssuchende, die sich bei der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung registriert haben, haben das Recht an kostenlosen Fortbildungen teilzunehmen und so ihre Qualifikationen zu verbessern. Ebenfalls bieten private Schulen, Trainingszentren und Institute Schulungen an. Diese sind jedoch nicht kostenlos (IOM 2018).
Quellen:
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020c): Russland, Gesellschaft
- IOM – International Organisation of Migration (2018): Länderinformationsblatt Russische Föderation
- RBTH – Russia beyond the Headlines (22.4.2017): Gratis-Studium und Steuerbefreiung: Russlands Wege aus der Geburtenkrise
- Russland Analysen/ Brand, Martin (21.2.2020a): Armutsbekämpfung in Russland, in: Russland Analysen Nr. 382
- Russland Analysen/ Hornke, Theresa (21.2.2020b): Russlands Familienpolitik, in: Russland Analysen Nr. 382
- Russland Capital (7.6.2019): Das Mutterschaftskapital wird auf 470.000 Rubel erhöht
1.2.4. Medizinische Versorgung
Das Recht auf kostenlose medizinische Grundversorgung für alle Bürger ist in der Verfassung verankert (GIZ 2.2020c, vgl. ÖB Moskau 12.2018). Voraussetzung ist lediglich eine Registrierung des Wohnsitzes im Land. Am Meldeamt nur temporär registrierte Personen haben Zugang zu notfallmäßiger medizinischer Versorgung, während eine permanente Registrierung stationäre medizinische Versorgung ermöglicht. Fälle von Diskriminierung aufgrund von Religion oder ethnischer Herkunft bezüglich der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen sind nicht bekannt (ÖB Moskau 12.2019). Das Gesundheitswesen wird im Rahmen der „Nationalen Projekte“, die aus Rohstoffeinnahmen finanziert werden, modernisiert. So wurden landesweit sieben föderale Zentren mit medizinischer Spitzentechnologie und zwölf Perinatalzentren errichtet, Transport und Versorgung von Unfallopfern verbessert, sowie Präventions- und Unterstützungsprogramme für Mütter und Kinder entwickelt. Schrittweise werden die Gehälter für das medizinische Personal angehoben sowie staatliche Mittel in die Modernisierung bestehender Kliniken investiert. Seit 2002 ist die Lebenserwartung in Russland stetig gestiegen (GIZ 2.2020c).
Medizinische Versorgung wird von staatlichen und privaten Einrichtungen zu Verfügung gestellt. StaatsbürgerInnen haben im Rahmen der staatlich finanzierten, obligatorischen Krankenversicherung (OMS) Zugang zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung (IOM 2018, vgl. ÖB Moskau 12.2019). Jede/r russische Staatsbürger/in, egal ob er einer Arbeit nachgeht oder nicht, ist von der Pflichtversicherung erfasst (ÖB Moskau 12.2019). Dies gilt somit auch für Rückkehrer, daher kann jeder russische Staatsbürger bei Vorlage eines Passes oder einer Geburtsurkunde (für Kinder bis 14) eine OMS-Karte erhalten (IOM 2018, vgl. ÖB Moskau 12.2019). Diese müssen bei der nächstliegenden Krankenversicherung eingereicht werden. An staatlichen wie auch an privaten Kliniken sind medizinische Dienstleistungen verfügbar, für die man direkt bezahlen kann (im Rahmen der freiwilligen Krankenversicherung – Voluntary Medical Insurance DMS) (IOM 2018). Durch die Zusatzversicherung sind einige gebührenpflichtige Leistungen in einigen staatlichen Krankenhäusern abgedeckt (ÖB Moskau 12.2019).
Die kostenfreie Versorgung umfasst Notfallbehandlung, ambulante Behandlung, inklusive Vorsorge, Diagnose und Behandlung von Krankheiten zu Hause und in Kliniken, stationäre Behandlung und teilweise kostenlose Medikamente. Behandlungen innerhalb der OMS sind kostenlos. Für die zahlungspflichtigen Dienstleistungen gibt es Preislisten auf den jeweiligen Webseiten der öffentlichen und privaten Kliniken (IOM 2018, vgl. ÖB Moskau 12.2019), die zum Teil auch mit OMS abrechnen (GTAI 27.11.2018). Immer mehr russische Staatsbürger wenden sich an Privatkliniken (GTAI 27.11.2018, vgl. Ostexperte 22.9.2017).
Das noch aus der Sowjetzeit stammende Gesundheitssystem bleibt ineffektiv. Trotz der schrittweisen Anhebung der Honorare sind die Einkommen der Ärzte und des medizinischen Personals noch immer niedrig (GIZ 2.2020c). Dies hat zu einem System der faktischen Zuzahlung durch die Patienten geführt, obwohl ärztliche Behandlung eigentlich kostenfrei ist (GIZ 2.2020c, vgl. AA 13.2.2019). Kostenpflichtig sind einerseits Sonderleistungen (Einzelzimmer u. Ä.), andererseits jene medizinischen Leistungen, die auf Wunsch des Patienten durchgeführt werden (z.B. zusätzliche Untersuchungen, die laut behandelndem Arzt nicht indiziert sind) (ÖB Moskau 12.2019).
Personen haben das Recht auf freie Wahl der medizinischen Anstalt und des Arztes, allerdings mit Einschränkungen. Für einfache medizinische Hilfe, die in der Regel in Polikliniken erwiesen wird, haben Personen das Recht, die medizinische Anstalt nicht öfter als einmal pro Jahr, unter anderem nach dem territorialen Prinzip (d.h. am Wohn-, Arbeits- oder Ausbildungsort), zu wechseln. Davon ausgenommen ist ein Wechsel im Falle einer Änderung des Wohn- oder Aufenthaltsortes. Das bedeutet aber auch, dass die Inanspruchnahme einer medizinischen Standardleistung (gilt nicht für Notfälle) in einem anderen als dem „zuständigen“ Krankenhaus, bzw. bei einem anderen als dem „zuständigen“ Arzt, kostenpflichtig ist. In der ausgewählten Einrichtung können Personen ihren Allgemein- bzw. Kinderarzt nicht öfter als einmal pro Jahr wechseln. Falls eine geplante spezialisierte medizinische Behandlung im Krankenhaus nötig wird, erfolgt die Auswahl der medizinischen Anstalt durch den Patienten gemäß der Empfehlung des betreuenden Arztes oder selbstständig, falls mehrere medizinische Anstalten zur Auswahl stehen. Abgesehen von den oben stehenden Ausnahmen sind Selbstbehalte nicht vorgesehen (ÖB Moskau 12.2019).
Die Versorgung mit Medikamenten ist grundsätzlich bei stationärer Behandlung sowie bei Notfallbehandlungen kostenlos. Es wird aber berichtet, dass in der Praxis die Bezahlung von Schmiergeld zur Durchführung medizinischer Untersuchungen und Behandlungen teilweise erwartet wird (ÖB Moskau 12.2019). Bestimmte Medikamente werden kostenfrei zur Verfügung gestellt, z.B. Medikamente gegen Krebs und Diabetes (DIS 1.2015). In Notfällen sind Medikamente in Kliniken, wie auch an Ambulanzstationen, kostenfrei erhältlich. Gewöhnlich kaufen russische Staatsbürger ihre Medikamente jedoch selbst. Bürgerinnen mit speziellen Krankheiten wird Unterstützung gewährt, u.a. durch kostenfreie Medikamente, Behandlung und Transport. Die Kosten für Medikamente variieren, feste Preise bestehen nicht (IOM 2018). Weiters wird berichtet, dass die Qualität der medizinischen Versorgung hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Ausstattung von Krankenhäusern und der Qualifizierung der Ärzte landesweit variieren kann (ÖB Moskau 12.2019). Im Zuge der Lokalisierungspolitik der Russischen Föderation sinkt der Anteil an hochwertigen ausländischen Medikamenten. Es wurde über Fälle von Medikamenten ohne oder mit schädlichen Wirkstoffen berichtet. Als Gegenmaßnahme wurde 2018 ein neues System der Etikettierung eingeführt, sodass nun nachvollzogen werden kann, wo und wie die Arzneimittel hergestellt und bearbeitet wurden. Die Medikamentenversorgung ist zumindest in den Großstädten gewährleistet und teilweise kostenfrei (AA 13.2.2019).
Das Wissen und die technischen Möglichkeiten für anspruchsvollere Behandlungen sind meistens nur in den Großstädten vorhanden. Das Hauptproblem ist jedoch weniger die fehlende technische Ausstattung, sondern ein Ärztemangel, obwohl die Zahl der Ärzte 2018 leicht gestiegen ist. Hinzu kommt, dass die Gesundheitsversorgung zu stark auf die klinische Behandlung ausgerichtet ist. Da in den letzten Jahren die Zahl der Krankenhäuser und Ärztezentren abgenommen hat, hat die Regierung darauf reagiert und 2018 beschlossen, dass bis 2024 360 neue medizinische Einrichtungen, darunter 30 onkologische Zentren, gebaut und weitere 1.200 saniert werden sollen. Zusätzlich sollen 800 mobile Einrichtungen eröffnet werden. Parallel zu diesen Beschlüssen wurden jedoch 2018 300 staatliche Krankenhäuser geschlossen. Den größten Fortschritt in der medizinischen Versorgung brachten 2018 die Einführung der Telemedizin und die digitale Erbringung der medizinischen Leistung. Patienten können seit dem 1.4.2018 einen Termin über ihr e-Konto vereinbaren oder einen digitalen Arzt in Anspruch nehmen. Diagnose und Behandlung erfolgen online. Mit der Einführung der Telemedizin haben sich die langen Wartezeiten auf eine Behandlung verkürzt (AA 13.2.2019).
Aufgrund der Bewegungsfreiheit im Land ist es für alle Bürger der Russischen Föderation möglich, bei Krankheiten, die in einzelnen Teilrepubliken nicht behandelbar sind, zur Behandlung in andere Teile der Russischen Föderation zu reisen (vorübergehende Registrierung) (DIS 1.2015, vgl. AA 13.2.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020c): Russland, Gesellschaft
- GTAI – German Trade and Invest (27.11.20186): Russlands Privatkliniken glänzen mit hohem Wachstum
- DIS – Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014
- IOM – International Organisation of Migration (2018): Länderinformationsblatt Russische Föderation
- ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation
- Ostexperte.de (22.9.2017): Privatkliniken in Russland immer beliebter
1.2.5. Medizinische Versorgung in Tschetschenien
Wie jedes Subjekt der Russischen Föderation hat auch Tschetschenien eine eigene öffentliche Gesundheitsverwaltung, die die regionalen Gesundheitseinrichtungen wie z.B. regionale Spitäler (spezialisierte und zentrale), Tageseinrichtungen, diagnostische Zentren und spezialisierte Notfalleinrichtungen leitet. Das Krankenversicherungssystem wird vom territorialen verpflichtenden Gesundheitsfonds geführt. Schon 2013 wurde eine dreistufige Roadmap eingeführt, mit dem Ziel, die Verfügbarkeit und Qualität des tschetschenischen Gesundheitssystems zu erhöhen. In der ersten Stufe wird die primäre Gesundheitsversorgung, inklusive Notfall- und spezialisierter Gesundheitsversorgung, zur Verfügung gestellt. In der zweiten Stufe wird die multidisziplinäre spezialisierte Gesundheitsversorgung und in der dritten Stufe die spezialisierte Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellt (BDA CFS 31.3.2015). Es sind somit in Tschetschenien sowohl primäre als auch spezialisierte Gesundheitseinrichtungen verfügbar. Die Krankenhäuser sind in einem besseren Zustand als in den Nachbarrepubliken, da viele vor nicht allzu langer Zeit erbaut wurden (DIS 1.2015).
Bestimmte Medikamente werden kostenfrei zur Verfügung gestellt, z.B. Medikamente gegen Krebs und Diabetes. Auch gibt es bestimmte Personengruppen, die bestimmte Medikamente kostenfrei erhalten. Dazu gehören Kinder unter drei Jahren, Kriegsveteranen, schwangere Frauen und Onkologie- und HIV-Patienten. Verschriebene Medikamente werden in staatlich lizensierten Apotheken kostenfrei gegen Vorlage des Rezeptes abgegeben (DIS 1.2015).
Die obligatorische Krankenversicherung deckt unter anderem auch klinische Untersuchungen von bestimmten Personengruppen, wie Minderjährigen, Studenten, Arbeitern usw., und medizinische Rehabilitation in Gesundheitseinrichtungen. Weiters werden zusätzliche Gebühren von Allgemeinmedizinern und Kinderärzten, Familienärzten, Krankenschwestern und Notfallmedizinern finanziert. Peritoneal- und Hämodialyse werden auch unterstützt (nach vorgegebenen Raten), einschließlich der Beschaffung von Materialien und Medikamenten. Die obligatorische Krankenversicherung in Tschetschenien ist von der föderalen obligatorischen Krankenversicherung subventioniert (BDA CFS 31.3.2015). Trotzdem muss angemerkt werden, dass auch hier aufgrund der niedrigen Löhne der Ärzte das System der Zuzahlung durch die Patienten existiert (BDA CFS 31.3.2015, vgl. GIZ 2.2020c, AA 13.2.2019). Es gibt dennoch medizinische Einrichtungen, wo die Versorgung kostenfrei bereitgestellt wird, beispielsweise im Distrikt von Gudermes [von hier stammt Ramzan Kadyrow]. In kleinen Dörfern sind die ärztlichen Leistungen günstiger (BDA CFS 31.3.2015).
In Tschetschenien gibt es nur einige private Gesundheitseinrichtungen, die normalerweise mit Fachärzten arbeiten, die aus den Nachbarregionen eingeladen werden. Die Preise sind hier um einiges höher als in öffentlichen Institutionen, und zwar aufgrund von komfortableren Aufenthalten, besser qualifizierten Spezialisten und modernerer medizinischer Ausstattung (BDA CFS 31.3.2015).
Wenn eine Behandlung in einer Region nicht verfügbar ist, gibt es die Möglichkeit, dass der Patient in eine andere Region, wo die Behandlung verfügbar ist, überwiesen wird (BDA CFS 31.3.2015).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020c): Russland, Gesellschaft
- BDA – Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI
- DIS – Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014
1.2.6. Behandlungsmöglichkeiten von psychischen Krankheiten
Psychiatrische Behandlungen für diverse psychische Störungen und Krankheiten sind in der gesamten Russischen Föderation verfügbar. Es gibt auch psychiatrische Krisenintervention bei Selbstmordgefährdeten (BMA 12248).
Wie in anderen Teilen Russlands werden auch in Tschetschenien psychische Krankheiten hauptsächlich mit Medikamenten behandelt und es gibt nur selten eine Therapie. Die Möglichkeiten für psychosoziale Therapie oder Psychotherapie sind aufgrund des Mangels an notwendiger Ausrüstung, Ressourcen und qualifiziertem Personal in Tschetschenien stark eingeschränkt. Ambulante Konsultationen und Krankenhausaufenthalte sind im Republican Psychiatric Hospital of Grozny für alle in Tschetschenien lebende Personen kostenlos. Auf die informelle Zuzahlung wird hingewiesen. Üblicherweise zahlen Personen für einen Termin wegen psychischer Probleme zwischen RUB 700 und 2.000 (ca. EUR 8 bis 24). In diesem Krankenhaus ist die Medikation bei stationärer und ambulanter Behandlung kostenfrei (BDA 31.3.2015).
Quellen:
- International SOS via MedCOI (3.4.2019): BMA 12248
- BDA – Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI
2. Beweiswürdigung:
1.1. Zur Person der BF
Die Feststellungen zur Herkunft und zur Staatsangehörigkeit der BF, ihrer schulischen Ausbildung, Arbeitserfahrung sowie zur familiären und verwandtschaftlichen Situation in der Russischen Föderation beruhen auf den Angaben der BF in ihrem Asylverfahren, die im rechtskräftigen Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX ebenso festgestellt wurden.
Die Feststellungen betreffend den Verfahrensgang und den Aufenthalt der BF sowie des drittgeborenen, jüngsten Sohnes des BF1 und der BF2 ergeben sich aus den unbedenklichen und unstrittigen, dort jeweils angeführten Verwaltungs- und Gerichtsakten.
Die Feststellungen über die Deutschkenntnisse, die gemeinnützige Tätigkeit und den Freundes- und Bekanntenkreis der BF im Bundesgebiet stützt sich auf die Angaben der BF im Asylverfahren und den damit verbundenen Feststellungen im Erkenntnis vom XXXX sowie den damit übereinstimmenden Angaben und Vorlagen im gegenständlichen Verfahren. Die Feststellungen zur bedingten Einstellungszusage und zum bedingten Dienstvertrag des BF1 folgen den Vorlagen im gegenständlichen Verfahren. Dass die BF Leistungen aus der Grundversorgung beziehen ergibt sich aus einem aktuellen Auszug aus dem Grundversorgungssystem. Dass die BF nicht selbsterhaltungsfähig sind, ist Folge dessen.
Die Feststellungen zur Verwandtschaft der BF in Österreich folgen ihren Angaben im Asylverfahren, die ebenso entsprechend im Erkenntnis vom XXXX festgestellt wurden, sowie hinsichtlich der Schwester des BF1 zusätzlich dem oben angeführten Gerichtsakt.
Die Feststellungen über den Gesundheitszustand und der derzeitigen Betreuung der BF, insbesondere des BF3, folgen ebenso den Angaben und Vorlagen der BF in ihrem Asylverfahren und den damit verbundenen Feststellungen im Erkenntnis vom XXXX sowie den Vorlagen in der gegenständlichen Beschwerde und nachfolgend vom XXXX .
Dass die BF strafgerichtlich unbescholten sind, folgt aus einem aktuellen Auszug aus dem Strafregister bzw. der Strafunmündigkeit des BF3 und des BF4.
2.2. Zu den Feststellungen der maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat
Die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat ergeben sich aus dem im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Russischen Föderation vom 27.03.2020 wiedergegebenen und zitierten Länderberichten, die mit den in den angefochtenen Bescheiden genannten Berichten übereinstimmen. Diese gründen sich auf den jeweils angeführten Berichten angesehener staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen. Angesichts der Seriosität der Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen besteht für das Bundesverwaltungsgericht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln. Die konkret den Feststellungen zugrundeliegenden Quellen wurden unter Punkt 1.2. zitiert.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchpunkt I. A)
3.1. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkte II. und III. der angefochtenen Bescheide
§ 10 Abs. 3 AsylG 2005 lautet: „Wird der Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 abgewiesen, so ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden. Wird ein solcher Antrag zurückgewiesen, gilt dies nur insoweit, als dass kein Fall des § 58 Abs. 9 Z 1 bis 3 vorliegt.“
Gemäß § 52 Abs. 3 FPG hat das BFA gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 AsylG 2005 zurück- oder abgewiesen wird.
§ 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG lautet:
„(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.“
Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden (und seiner Familie) schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.
Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen.
Bei dieser Interessenabwägung sind - wie in § 9 Abs. 2 BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wird - die oben genannten Kriterien zu berücksichtigen (vgl. VfSlg. 18.224/2007; VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479; 26.01.2006, 2002/20/0423).
Der Begriff des „Familienlebens“ in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität aufweisen, etwa ein gemeinsamer Haushalt vorliegt (vgl. dazu EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; Frowein - Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 2. Auflage (1996) Rz 16 zu Art. 8; Baumgartner, Welche Formen des Zusammenlebens schützt die Verfassung? ÖJZ 1998, 761; vgl. auch Rosenmayer, Aufenthaltsverbot, Schubhaft und Abschiebung, ZfV 1988, 1). In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s. auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).
Durch die gemeinsame Ausweisung bzw. Rückkehrentscheidung betreffend eine Familie wird nicht in das Familienleben der Fremden eingegriffen (VwGH 18.03.2010, 2010/22/0013; 19.09.2012, 2012/220143; 19.12.2012, 2012/22/0221; vgl. EGMR 09.10.2003, Fall Slivenko, NL 2003, 263).
Ein schützenswertes Familienleben der BF untereinander liegt aufgrund der gegenüber allen erlassenen Rückkehrentscheidungen nicht vor. Ebenso besteht gegen den jüngstgeborenen, dritten Sohn des BF1 und der BF3 eine rechtskräftige Rückkehrentscheidung (s. Punkt I.3.9). Der BF1 hat eine in Österreich aufhältige Schwester, gegen die gleichfalls eine rechtskräftige Rückkehrentscheidung besteht (s. XXXX ). Weiters hat der BF1 zwei Cousins und die BF2 einen Großcousin im Bundesgebiet, zu denen gelegentlicher Kontakt und kein gemeinsamer Haushalt besteht. Diese Beziehung fällt daher mangels geeigneter Intensität nicht in den Bereich des Familienlebens. Sonstige nahe Angehörige oder Verwandte haben die BF in Österreich nicht. Die Rückkehrentscheidung bildet daher keinen unzulässigen Eingriff in das Recht der BF auf Schutz des Familienlebens.
Die aufenthaltsbeenden Maßnahme könnte daher allenfalls in das Privatleben der BF eingreifen.
Unter dem „Privatleben“ sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. Sisojeva ua gg. Lettland, EuGRZ 2006, 554). In diesem Zusammenhang komme dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu.
Für den Aspekt des Privatlebens spielt zunächst die zeitliche Komponente im Aufenthaltsstaat eine zentrale Rolle, wobei die bisherige Rechtsprechung keine Jahresgrenze festlegt, sondern eine Interessenabwägung im speziellen Einzelfall vornimmt (vgl. dazu Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 MRK, in ÖJZ 2007, 852 ff.). Die zeitliche Komponente spielt jedoch eine zentrale Rolle, da - abseits familiärer Umstände - eine von Art. 8 EMRK geschützte Integration erst nach einigen Jahren im Aufenthaltsstaat anzunehmen ist (vgl. Thym, EuGRZ 2006, 541). Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessensabwägung zukommt (vgl. VwGH 30.07.2015, Ra 2014/22/0055 ua, mwH).
Außerdem ist nach der bisherigen Rechtsprechung auch auf die Besonderheiten der aufenthaltsrechtlichen Stellung von Asylwerbern Bedacht zu nehmen, zumal das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration dann gemindert ist, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf unberechtigte Asylanträge zurückzuführen ist (vgl. VwGH 17.12.2007, 2006/01/0216 mwN).
Nach ständiger Rechtsprechung der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts kommt dem öffentlichen Interesse aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung iSd Art. 8 Abs. 2 EMRK ein hoher Stellenwert zu. Der Verfassungsgerichtshof und der Verwaltungsgerichtshof haben in ihrer Judikatur ein öffentliches Interesse in dem Sinne bejaht, als eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestigung von Personen, die sich bisher bloß auf Grund ihrer Asylantragsstellung im Inland aufhalten durften, verhindert werden soll (VfSlg. 17.516 und VwGH 26.06.2007, Zl. 2007/01/0479). Der Verwaltungsgerichtshof hat festgestellt, dass beharrliches illegales Verbleiben eines Fremden nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens bzw. ein länger dauernder illegaler Aufenthalt eine gewichtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Hinblick auf ein geordnetes Fremdenwesen darstellen würde, was eine Ausweisung als dringend geboten erscheinen lässt (VwGH 31. 10. 2002, 2002/18/0190).
Im Falle einer bloß auf die Stellung eines Asylantrags gestützten Aufenthalts wurde in der Entscheidung des EGMR (N. gegen United Kingdom vom 27.05.2008, Nr. 26565/05) auch ein Aufenthalt in der Dauer von zehn Jahren nicht als allfälliger Hinderungsgrund gegen eine Ausweisung unter dem Aspekt einer Verletzung von Art. 8 EMRK thematisiert. In seiner davor erfolgten Entscheidung Nnyanzi gegen United Kingdom vom 08.04.2008 (Nr. 21878/06) kommt der EGMR zu dem Ergebnis, dass bei der vorzunehmenden Interessensabwägung zwischen dem Privatleben des Asylwerbers und dem staatlichen Interesse eine unterschiedliche Behandlung von Asylwerbern, denen der Aufenthalt bloß aufgrund ihres Status als Asylwerber zukommt, und Personen mit rechtmäßigem Aufenthalt gerechtfertigt sei, da der Aufenthalt eines Asylwerbers auch während eines jahrelangen Asylverfahrens nie sicher ist. So spricht der EGMR in dieser Entscheidung ausdrücklich davon, dass ein Asylweber nicht das garantierte Recht hat, in ein Land einzureisen und sich dort niederzulassen. Eine Abschiebung ist daher immer dann gerechtfertigt, wenn diese im Einklang mit dem Gesetz steht und auf einem in Art. 8 Abs. 2 EMRK angeführten Grund beruht. Insbesondere ist nach Ansicht des EGMR das öffentliche Interesse jedes Staates an einer effektiven Einwanderungskontrolle jedenfalls höher als das Privatleben eines Asylwerbers; auch dann, wenn der Asylwerber im Aufnahmestaat ein Studium betreibt, sozial integriert ist und schon zehn Jahre im Aufnahmestaat lebte.
Der BF1 und die BF2 befinden sich – nach illegaler Einreise – seit der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz im XXXX , somit seit rund XXXX Jahren – bzw. der BF3 seit seiner Geburt im XXXX und der BF4 seit seiner Geburt im XXXX – in Österreich. Der Aufenthalt war bis zur rechtskräftigen Abweisung dieser Anträge durch das Bundesverwaltungsgericht im XXXX bloß aufgrund eines vorübergehenden Aufenthaltsrechts im Asylverfahren rechtmäßig. Die Maßgeblichkeit der zwar nicht mehr als kurz, aber ebensowenig als übermäßig lang zu bezeichnenden Aufenthaltsdauer der BF wird durch diese Tatsachen bereits erheblich relativiert, zumal ihnen der unsichere bzw. nunmehr unrechtmäßige Aufenthalt bewusst sein musste.
Ebenso weisen die BF einen nur geringen Integrationsgrad in Österreich auf, der sich seit dem rechtskräftigen Abschluss des Asylverfahrens auch nicht maßgeblich erhöht hat. Trotz ihres langjährigen Aufenthaltes verfügen der BF1 und die BF2 nur über Deutschzertifikate auf dem niedrigen Niveau A2. Sie haben in der Vergangenheit gemeinnützige Arbeiten ausführt und im Laufe ihres Aufenthaltes einen gewissen Freundes- und Bekanntenkreis aufgebaut. Darin war schon im Zeitpunkt des abweisenden Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts über das Asylverfahren keine maßgebliche, gar außerordentliche Integrationsleistung zu erkennen. Daran vermögen auch die kurzen Ausführungen im gegenständlichen Beschwerdeschriftsatz nichts zu ändern. Soweit der BF1 im gegenständlichen Verfahren nun erstmals eine Einstellungszusage sowie einen Dienstvertrag, jeweils bedingt mit der Erteilung einer Aufenthalts- und Arbeitsberechtigung, vorlegte, ist darin keine entscheidungsmaßgebliche Änderung des Privatlebens zu sehen. So hat auch schon der Verwaltungsgerichtshof zum Ausdruck gebracht, dass der Ausübung einer Beschäftigung sowie einer etwaigen Einstellungszusage oder Arbeitsplatzzusage eines Asylwerbers, der lediglich über eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung verfügt, keine wesentliche Bedeutung zukommt (VwGH 22.02.2011, 2010/18/0323 mwN). Dies muss umso mehr für den BF1 gelten, dem nun kein Aufenthaltsrecht mehr zukommt. Zudem ist zu bezweifeln, dass der BF1 mit einem angebotenen Bruttomonatslohn von EUR 1.441,52 in der Lage wäre, die gesamte Familie zu erhalten, zumal dieser Lohn vergleichsweise nicht den in § 11 Abs. 5 NAG als maßgeblich normierten Richtsatz erfüllen würde.
Der BF1 und die BF2 haben hingegen ihr gesamtes Leben bis zur Ausreise aus der Russischen Föderation dort verbracht. Sie beherrschen die Landessprachen Russisch und Tschetschenisch und haben dort ihre Schulbildung genossen. Der BF1 ging einer Erwerbstätigkeit nach. Weiters verfügen sie über zahlreiche nahe Verwandte im Herkunftsstaat. Damit deutet nichts darauf hin, dass sich der BF1 und die BF2 nach wenn auch längerer Abwesenheit von ihrem Heimatland nicht wieder in die dortige Gesellschaft integrieren können werden.
Soweit, wie im vorliegenden Fall, Kinder von der Rückkehrentscheidung betroffen sind, sind nach der Judikatur des EGMR die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder,