TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/14 W226 1432964-2

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Veröffentlicht am 14.09.2020
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Entscheidungsdatum

14.09.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z5
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §9 Abs1
AsylG 2005 §9 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z4
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W226 1432964-2/31E

W226 1432965-2/17E

W226 1432966-2/11E

W226 2178714-1/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. WINDHAGER als Einzelrichter über die Beschwerden von 1.) XXXX (BF1), geb. XXXX ; 2.) XXXX (BF2), geb. XXXX ; 3.) XXXX (BF3), geb. XXXX und 4.) XXXX (BF4), geb. XXXX , alle StA: Russische Föderation, vertreten durch ARGE Rechtsberatung, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 31.10.2017, Zlen. 1.) 821320510-171019858, 2.) 821320706-171019895, 3.), 821320804-171019925 und 4.) 1020702507-171019947, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 25.06.2020 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

1. Verfahren über die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten:

1.1. Der Erstbeschwerdeführer (im Folgenden BF1) reiste gemeinsam mit seiner Frau, der Zweitbeschwerdeführerin (im Folgenden BF2) und dem gemeinsamen minderjährigen Sohn (Drittbeschwerdeführer, im Folgenden BF3) am 22.09.2012 illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellten sie am selben Tag Anträge auf internationalen Schutz.

1.2. Mit Bescheiden des Bundesasylamtes vom 31.01.2013 wurden die Anträge auf internationalen Schutz des BF1, der BF2 und des BF3 bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkte I.), die Anträge bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkte II.) und der BF1, die BF2 und der BF3 gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen (Spruchpunkte III.).

Gegen diese Bescheide haben der BF1, die BF2 und der BF3 fristgerecht Beschwerden (in Verbindung mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung) erhoben.

1.3. Am XXXX wurde die BF4 im österreichischen Bundesgebiet geboren und wurde für diese am 04.06.2014 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Das Asylverfahren der BF4 wurde vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes ausgesetzt.

1.4. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 02.09.2014 (Zlen.: W121 1432964-1/14E, W121 1432965-1/10E und W121 1432966-1/8E) wurden die Beschwerden des BF1, der BF2 und des BF3 hinsichtlich Spruchpunkt I. (Asyl) gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 wurde dem BF1, der BF2 und dem BF3 der Status der subsidiär Schutzberechtigten auf den Herkunftsstaat Russische Föderation zuerkannt und wurden dem BF1, der BF2 und dem BF3 gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 befristete Aufenthaltsberechtigungen als subsidiär Schutzberechtige bis zum 02.09.2015 erteilt. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wurde gemäß § 71 Abs. 1 AVG als unzulässig zurückgewiesen.

Das erkennende Gericht stellte zu den persönlichen Verhältnissen fest, dass der BF1, die BF2 und der BF3 Staatsangehörige der Russischen Föderation und Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe seien. Sie würden sich zum muslimischen Glauben bekennen. Zahlreiche Verwandte der BF würden nach wie vor im Herkunftsstaat leben Vor der Ausreise habe die Familie von der Unterstützung der Eltern des BF1 und in deren Haus gelebt.

Hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Asylstatus wurde ausgeführt, dass die angegebenen Probleme des BF1, wonach er im Herkunftsstaat Probleme gehabt habe, weil er in Tschetschenien wiederholt Kontakt zu Rebellen gehabt habe, diese mit Lebensmitteln unterstützt habe und er deshalb wiederholt mitgenommen und zu den Widerstandskämpfern befragt worden sei, sich wegen zahlreicher Widersprüche und Ungereimtheiten als unglaubwürdig herausgestellt hätten. Die BF2 habe ihre Ausreisegründe im Wesentlichen auf die Behauptungen ihres Mannes gestützt und seien auch für den BF3 keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht worden.

Zu den Erkrankungen des BF1 wurde Folgendes festgestellt bzw. ausgeführt:

„Beim Erstbeschwerdeführer wurden zahlreiche Erkrankungen festgestellt und in Österreich behandelt. Insbesondere liegt beim Erstbeschwerdeführer eine Varusfehlstellung im Bereich des linken Oberarmes vor, aufgrund derer er operiert und behandelt wird. Er war insbesondere vom 16.08 bis zum 17.08.2013 in der Orthopädie, orthopädischen Chirurgie und Unfallchirurgie des Landesklinikums stationäre aufhältig und dabei wurde „St.p. Umstellungsosteotomie Humerus links“ diagnostiziert. Laut ärztlichem Befund eines Arztes für Allgemeinmedizin vom 30.01.2014 wurden beim Erstbeschwerdeführer die Diagnosen „postspezifische Veränderungen rechts, negative bronchoskopische Aktivitätsdiagnostik 11/13“ gestellt. Überdies war er vom 31.10.2013 bis zum 06.11.2013 in der Pulmologie des Landesklinikums aufhältig und wurde beim Erstbeschwerdeführer „latente Tuberkulose (nicht ansteckend)“ diagnostiziert. Im psychotherapeutischen Befundbericht eines Psychotherapeuten vom 16.05.2014 wurde ausgeführt, dass der Erstbeschwerdeführer seit April 2014 zur psychotherapeutischen Behandlung wegen andauernder psychischer Probleme geht. Beim Erstbeschwerdeführer wurden typische Merkmale einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung (ICD 10 F43.1) zu Folge sequentieller Traumatisierung im Krieg diagnostiziert, weiters eine Zwangsstörung (ICD 10 F42.1) und eine Klaustrophobie (ICD 10 F 40.2). Da der Erstbeschwerdeführer auch das Ende seiner Möglichkeiten, den Alltag zu bewältigen, wie auch den Kampf gegen Selbstmordgedanken deutlich in Gesprächen dargelegt hatte, ist der Erstbeschwerdeführer laut aktuellem Befundbericht für den Fall, dass seine besondere Schutz- und Schonungsbedürftigkeit nicht berücksichtigt wird, einem erhöhtem Risiko der weiteren, anhaltenden Verschlechterung seines Gesundheitszustandes und von Selbstmordimpulsen ausgesetzt.“

Weiters wurde vom Gericht ausgeführt, dass in der Russischen Föderation respektive Tschetschenien zwar die generelle medizinische Versorgung gewährleistet sei; BF1 benötige aber wegen seiner zahlreichen und teilweise schweren Erkrankungen eine umfassende medizinische Behandlung, welche im Herkunftsstaat, auch in Zusammenschau mit den begrenzten finanziellen Mitteln der Familie jedoch nicht ausreichend gewährleistet bzw. gesichert sei. Es sei keinesfalls gesichert, dass der BF1 eine ausreichende medizinische Betreuung für seine diversen Leiden erhalte. Die Annahme einer beruflichen Tätigkeit im Herkunftsstaat wäre dem BF1 aufgrund der dargelegten gesundheitlichen Beeinträchtigungen und der BF2, welche die beiden minderjährigen Kinder betreuen müsse, kaum bis gar nicht möglich, zumal die Arbeitsmarktsituation in der Russischen Föderation respektive Tschetschenien bereits für gesunde Menschen bzw. für Menschen, welche keine derartigen Betreuungspflichten hätten, äußerst schwierig sei.

Bei Beachtung der konkreten Einzelsituation in ihrer Gesamtheit vor dem Hintergrund der allgemeinen Verhältnisse im Herkunftsstaat könne nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass sich der physische und psychische Gesundheitszustand des BF1 bei einer Rückkehr zum jetzigen Entscheidungszeitpunkt nicht massiv verschlechtere und keine ausreichende medizinische Versorgung und spezielle, auf die Bedürfnisse des BF1 zugeschnittene Behandlungsmöglichkeiten gegeben seien. Es könne daher – auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass weitere Angehörige im Herkunftsstaat leben – nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass die BF bei einer Verbringung in ihren Herkunftsstaat in eine als unmenschlich zu bezeichnende Lage geraten könnten. Eine Rückkehr in den Herkunftsstaat sei daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zu verantworten, da es sehr wahrscheinlich bzw. in Zusammenschau der Fakten nicht ausgeschlossen erscheine, dass die BF im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation respektive Tschetschenien in eine derart prekäre Lage geraten würden, die eine unmenschliche bzw. eine erniedrigende Behandlung iSd Art. 3 EMRK darstellen würde.

1.5. In weiterer Folge wurde das Verfahren der BF4 vom BFA fortgesetzt und ihr Antrag auf internationalen Schutz mit Bescheid des BFA vom 17.09.2014 bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkte I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG wurde der BF4 der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 02.09.2015 erteilt (Spruchpunkt III.)

Darin wurde ausgeführt, dass die BF4 keiner Verfolgung in der Russischen Föderation ausgesetzt gewesen sei und auch den restlichen Familienangehörigen kein Asylstatus zuerkannt worden sei. Ihrem Vater (BF1) sei aber der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden und sei der gleiche Schutzstatus daher auch der BF4 im Zuge des Familienverfahrens zuzuerkennen.

1.6. Am 17.08.2015 stellten die BF einen Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigungen, welche mit nicht näher begründeten Bescheiden des BFA vom 01.09.2015 gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 02.09.2017 verlängert wurden.

1.7. Laut Protokollsvermerk und gekürzter Urteilsausfertigung des Landesgerichtes XXXX vom 13.01.2016 wurde der BF1 wegen dem Vergehen des Diebstahls durch Einbruch gemäß §§ 127, 129 Abs. 1 Z 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, wobei die Strafe unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

1.8. In weiterer Folge stellte der BF1 einen Antrag auf Austausch seiner Lenkerberechtigung und wurde ihm von der zuständigen BH ein österreichischer Führerschein ausgestellt.

1.9. Am 11.08.2017 beantragten die BF abermals die Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigungen als subsidiär Schutzberechtigte.

2. Verfahren zur Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten:

2.1. Aufgrund der rechtskräftigen Verurteilung des BF1 und weil der BF2, dem BF3 und der BF4 der Status der subsidiär Schutzberechtigten im Rahmen eines Familienverfahrens zuerkannt wurde, wurde vom BFA in weiterer Folge gegen sämtliche BF ein Aberkennungsverfahren eingeleitet.

2.2. Am 20.09.2017 wurden der BF1 und die BF2 vom BFA in Beisein eines Dolmetschers der Sprache Russisch einvernommen.

Der BF1 gab an, dass es ihm gut gehe. Nach Vorhalt seiner rechtskräftigen Verurteilung bzw. der Einleitung des Aberkennungsverfahrens führte der BF aus, er wisse, dass er einen Fehler gemacht habe, dies sei sein einziger Fehler gewesen. Zu Verwandten in Österreich befragt, gab er an, dass eine entfernte Verwandte in XXXX lebe. Manchmal würden Treffen stattfinden. Ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis zu Personen in Österreich bestehe nicht. Er habe aber viele Bekannte und Freunde. In der Heimat habe er noch zwei Brüder, eine Schwester und seine Mutter. Sein Vater sei bereits verstorben. Er stehe fast jeden Tag über WhatsApp in Kontakt. Die Deutsche Sprache habe er mittelmäßig erlernt, beim Sprechen tue er sich aber noch schwer. Er arbeite in einer Gärtnerei, werde von Monat zu Monat unterschiedlich angestellt (10 oder 20 Stunden) und verdiene etwa 500 EUR. Wenn er viel arbeite, bekomme er Probleme mit der linken Hand. Er beziehe auch Sozialleistungen und wohne in einer Mietwohnung. Zu seiner sonstigen Integration in Österreich gab er an, Deutschkurse besucht zu haben und er eine Prüfung machen wolle.

Zu seinen Erkrankungen befragt, gab er an, keine schweren Erkrankungen zu haben. Seine Psyche sei beeinträchtigt. Er gehe zum Hausarzt und lasse sich Medikamente verschreiben. In einer geschlossenen Anstalt sei er nie gewesen. Wegen der TBC sei er stationär aufgenommen worden. Nun habe er Vernarbungen auf der Lunge und müsse er alle sechs Monate zur Kontrolle. Die TBC sei nicht mehr ansteckend. Wegen seines linken Armes sei er in Österreich zweimal operiert worden, ihm seien Metalle eingesetzt worden und er müsse zur Kontrolle. Vielleicht würden die Metalle wieder herausgenommen werden. Abgesehen von den Psychopharmaka müsse er keine Medikamente laufend einnehmen. In der Russischen Föderation habe er für eine Privatperson als Hilfsarbeiter/Gelegenheitsarbeiter auf Baustellen gearbeitet.

Die BF2 führte in der Einvernahme aus, dass es ihr gut gehe und es in Österreich keine Personen gebe, zu denen ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis bestehe. In Tschetschenien würden ihre Eltern, eine Schwester, ein Bruder sowie Onkeln und Tanten leben. Sie habe mit ihren Verwandten über Skype Kontakt. Sie beherrsche die deutsche Sprache nicht sehr gut und habe hier auch nicht gearbeitet. Im November könne sie in derselben Gärtnerei wie ihr Mann anfangen, zudem gebe es eine Fabrik, in der sie arbeiten könne. Sie würden Sozialleistungen beziehen. Wegen der Kinder habe sie in Österreich keine Kurse besuchen können, sie lerne zu Hause selbstständig. Die BF2 leide an keinen schweren Krankheiten und nehme keine Medikamente ein. Auch der BF3 und die BF4 seien gesund. Der BF3 besuche die Volksschule, die Tochter gehe demnächst in den Kindergarten. Der BF3 verstehe Deutsch. Zur wirtschaftlichen Situation in der Russischen Föderation befragt, gab die BF2 an, dass sie in einer Bäckerei mitgeholfen habe. Zu ihren Rückkehrbefürchtungen befragt, gab sie an, dass ihr Mann dort Probleme habe.

Die BF brachten folgende Unterlagen in Vorlage:

-        Unauffälliger Befund eines Landesklinikums (Interdisziplinärer Aufnahmebereich) vom 17.01.2017, wonach der BF1 wegen seit mehreren Monaten bestehenden Schmerzen im Bereich des linken Hemithorax vorstellig geworden sei. Der BF1 wurde am selben Tag wieder entlassen und ihm Schmerzmittel verschrieben;

-        Sachverständigengutachten des SMS (nach der Einschätzungsverordnung) vom 11.07.2016, wobei als Ergebnis ein Behinderungsgrad von 50 % (wegen der Posttraumatischen Belastungsstörung und dem Zustand nach ellbogennaher Oberarmfraktur links mit Radialisläsion) festgestellt wurde. Eine Nachuntersuchung wurde wegen der Besserungsfähigkeit der Leiden für Juli 2018 festgelegt. Zudem wurde festgehalten, dass der BF1 trotz seiner Funktionsbeeinträchtigungen mit Wahrscheinlichkeit auf einem geschützten Arbeitsplatz oder in einem integrativen Betrieb (allenfalls unter Zuhilfenahme von Unterstützungsstrukturen) einer Erwerbsfähigkeit nachgehen könne;

-        Behindertenpass des BF1 (Befristung bis 30.09.2017);

-        Empfehlungsschreiben der ehemaligen Unterkunftgeber der BF;

-        Unterschriftenliste für den Verbleib der BF in Österreich;

-        Empfehlungsschreiben des Arbeitgebers des BF1 (Inhaber eines Geschäftes für Gartengestaltung und Dekoration) sowie einer Kundin;

-        Bestätigung, wonach die BF2 am 01.11.2017 ebenso in dem Geschäft für Gartengestaltung und Dekoration zu arbeiten beginnen könne.

2.3. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden des BFA vom 31.10.2017 wurde den BF der zuerkannte Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.). Die mit Bescheiden des BFA erteilten befristeten Aufenthaltsberechtigungen als subsidiär Schutzberechtigte wurde den BF gemäß § 9 Abs. 4 AsylG entzogen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG wurde den BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt und gegen die BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt III.). Die Frist zur freiwilligen Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

Das BFA stellte zum Gesundheitszustand des BF1 fest, dass er an einer Varusfehlstellung des linken distalen Oberarmes mit Radialisäsion bei Z.n. supracondylärer Humerusfraktur und an einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung leide. Zudem habe er an TBC gelitten. Aufgrund der Tatsache, dass er während seines Aufenthaltes in Österreich hinreichend medizinisch versorgt worden sei und sein Gesundheitszustand so weit stabilisiert werden habe können, dass er in Österreich einer Arbeit nachgehen habe können, stehe fest, dass die im Jahr 2014 festgestellten Gefahren im Falle einer Rückkehr aktuell nicht mehr vorliegen. Auch weitere Gründe für die Beibehaltung subsidiären Schutzes hätten nicht festgestellt werden können. Die BF würden in der Russischen Föderation mehrere nahe Verwandte haben, von denen sie im Bedarfsfall Unterstützung (zum Beispiel finanzielle Hilfeleistungen oder Unterkunft) erwarten können.

In der Beweiswürdigung führte die belangte Behörde aus, dass eine Überprüfung der Sachlage ergeben habe, dass die physischen und psychischen Beeinträchtigungen des BF1 nicht mehr dazu führen würden, dass ihm eine Teilnahme am Erwerbsleben verwehrt sei. Eine existenzbedrohende Krankheit des BF1 liege nicht mehr vor und sei eine Behandlung der gesundheitlichen Beeinträchtigungen des BF1 auch in der Russischen Föderation möglich. Er sei in Österreich nicht mehr auf eine umfassende Behandlung angewiesen und nehme er lediglich Psychopharmaka ein. Nach den Länderfeststellungen würden in Tschetschenien zahlreiche medizinische Einrichtungen bestehen, die Weiterführung einer etwaigen Behandlung sei gesichert. Auch die individuelle Situation des BF1 habe sich geändert, zumal er in Österreich einer Arbeit nachgehen könne und auch seinen russischen Führerschein umschreiben habe lassen. Dies schließe eine fehlende Mobilität aus. Auch der Besitz eines österreichischen Führerscheines deute darauf hin, dass der BF1 gesundheitlich stabil sei. Der BF1 werde bei einer Rückkehr in die Russische Föderation in der Lage sein für den Lebensunterhalt seiner Familie aufzukommen. In der Russischen Föderation gebe es zudem Beihilfen für Menschen mit Behinderungen und sei es auch der BF2 möglich, am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, wodurch die Familie nicht in eine hoffnungslose Lage geraten werde. Zum heutigen Zeitpunkt bestehe daher im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation keine existenzbedrohende Gefahr mehr.

Da der BF2, dem BF3 und der BF4 im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen des § 34 AsylG der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden sei und es im Verfahren der Bezugsperson (BF1) zu einer Aberkennung gekommen sei, sei auch ihr Asylverfahren von einer Aberkennung nach den gesetzlichen Bestimmungen des § 9 AsylG betroffen. Für die BF2, den BF3 und die BF4 bestehe im Falle einer Rückkehr nach Russland keine Gefahr mehr und liege im Ergebnis kein Grund vor, die befristete Aufenthaltsberechtigung zu verlängern bzw. weiter subsidiären Schutz zu gewähren, da weder eine Gefahr aufgrund der allgemeine Lage, noch eine sonstige Gefahr der körperlichen Integrität vorliege bzw. drohe.

Zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung wurde ausgeführt, dass der BF1 mittelmäßig Deutsch beherrsche und sich beim Sprechen schwertue. Er habe zwar Deutschkurse besucht, aber bisher keine Prüfung gemacht. An sonstigen Kursen oder Fortbildungsmaßnahmen habe er nicht teilgenommen. Der BF1 gehe seit Oktober 2016 einer regelmäßigen legalen Erwerbstätigkeit nach, sei aber nicht selbsterhaltungsfähig, da er nur geringfügig angestellt sei. Er sei kein Mitglied in Vereinen oder sonstigen Organisationen. Ein nennenswerter Freundes- oder Bekanntenkreis sei nicht hervorgekommen. Auch sonst seien keine integrationsfestigenden Maßnahmen gesetzt worden. Auch die BF2 beherrsche die Deutsche Sprache nicht sehr gut und sei in Österreich keiner Arbeit nachgegangen. Sie habe bisher keine Kurse besucht und habe lediglich eine Einstellungszusage vorlegen können, welche aber keine näheren Details zum Beschäftigungsverhältnis beinhalte. Der minderjährige BF3 und die minderjährige BF4 seien in einem anpassungsfähigen Alter Insgesamt würde daher das öffentliche Interesse an einer Ausweisung der BF aus dem österreichischen Bundesgebiet überwiegen.

2.3 Gegen diese Bescheide brachten die BF fristgerecht eine Beschwerde ein. Darin wird im Wesentlichen ausgeführt, dass der linke Arm des BF1 immer noch zu Beschwerden bzw. Schmerzen (in der kalten Jahreszeit) führe und nicht vollständig geheilt sei. Es gäbe noch immer Probleme mit der Beweglichkeit. Der BF1 befinde sich zudem seit April 2014 in psychotherapeutischer Behandlung wegen andauernder psychischer Probleme und nehme nach wie vor Psychopharmaka ein. Der Status der subsidiär Schutzberechtigten sei aus nicht erkennbaren Gründen aberkannt worden, da in Spruchpunkt I. der Bescheide keine Ziffer vermerkt sei. Es liege daher ein mangelhaftes Verfahren vor. Die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gründete sich auf den zum Zeitpunkt der Entscheidung vorgelegenen gesundheitlichen Zustand des BF1, er habe aber weiterhin Probleme mit dem Arm. Er besitze einen Behindertenpass, eine Verlängerung sei gerade in Bearbeitung. Um die aktuellen Beschwerden abzuklären, habe der BF1 am 24.01.2018 einen Termin in einem Landesklinikum. Der BF1 habe sich hier mit seiner Familie ein neues Leben aufgebaut, habe trotz seiner Einschränkung des linken Armes eine Arbeit gefunden und könne sich eine Mietwohnung leisten. Sofern seine Gesundheit nicht im Wege stehe, wäre er auch bereit mehr zu arbeiten. Sein Vorgesetzter unterstützte die Familie, auch die BF2 habe eine Einstellungszusage bekommen. Der BF1 habe einen österreichischen Führerschein gemacht und lerne fleißig Deutsch. Anfang Dezember werde er die A2-Prüfung ablegen. Er habe einen großen Unterstützungs- und Freundeskreis. Der BF3 besuche die Volksschule, die BF4 warte auf einen freien Kindergartenplatz. Die Situation des BF1 habe sich tatsächlich verbessert, jedoch heiße dies nicht, dass die gesundheitlichen Probleme nicht mehr vorliegen würden bzw. nicht mehr auftreten und eine Retraumatisierung ausgeschlossen sei. Der BF1 habe erstmals neue Perspektiven für ein zukünftiges Leben hier in Österreich gefunden und eine positive Einstellung. Eine Abschiebung würde eine Retraumatisierung auslösen bzw. die Rückkehr der Selbstmordgedanken, die bereits einmal deutlich vorhanden und diagnostiziert worden seien. Wenn die Behörde behaupte, dass keine existenzbedrohende Krankheit mehr vorliege, dann bedeute dies nicht automatisch, dass eine Rückkehr nach Russland möglich sei. Eine Rückkehr und die damit einhergehende Unsicherheit über die Zukunft wäre für den BF1 ein traumatisches Erlebnis, welches zu einer Retraumatisierung und Rückkehr der Symptome führen könne. Die ärztliche Untersuchung für den österreichischen Führerschein sei nicht dazu geeignet, die psychische Situation des BF1 zu beurteilen, zumal der BF1 dem Amtsarzt aus Angst vor Verlust seiner Arbeitsstelle seine medizinische Geschichte nicht erwähnt habe und auch nicht gesagt habe, dass er Psychopharmaka einnehme. Es werde daher ein fachärztliches Gutachten zur Beurteilung des Gesundheitszustandes des BF1 beantragt. Die Möglichkeiten für psychosoziale Therapie oder Psychotherapie in Tschetschenien sei wegen des Mangels an notwendiger Ausrüstung, Ressourcen und qualifiziertem Personal stark eingeschränkt. Es gäbe keine spezialisierten Institutionen für PTBS. Laut Recherche der Schweizerischen Flüchtlingshilfe sei die Situation von Patienten mit psychiatrischen Störungen äußerst beunruhigend und seien zahlreiche Menschenrechtsverletzungen zu beobachten. Personen ohne staatliche Krankenversicherung würden keine kostenfreie Behandlung erhalten bzw. würden hohe Kosten für die Behandlung in Privatkliniken entstehen. Generell sei das Gesundheitswesen in Tschetschenien sehr mangelhaft ausgeprägt, es mangle an qualifizierten Fachkräften. Die Feststellungen der Behörde würden nur auf Vermutungen und laienhaften Feststellungen beruhen, zudem werde in den Länderfeststellungen zu wenig und unvollständig auf die Situation von Behandlungen von PTBS in Russland eingegangen. Der BF1 sei in seiner Arbeitsfähigkeit nach wie vor eingeschränkt und in einer sicheren Umgebung, da ihn der derzeitige Arbeitgeber unterstütze und über seine psychischen Probleme Bescheid wisse. Es könne daher nicht davon ausgegangen werden, dass der BF in Russland in der Lage sein werde, für den Lebensunterhalt der Familie aufzukommen. Auch werde in den Länderfeststellungen nicht darauf eingegangen, wie die Arbeitsmarktsituation von behinderten Menschen aussehe und ob der Zugang zum Arbeitsmarkt gegeben sei. Darin werde lediglich angemerkt, dass Menschen mit Behinderung eine Behindertenrente zustehe. Zum heutigen Zeitpunkt sei nicht davon auszugehen, dass sich der BF1 in einem derart stabilen Gesundheitszustand befinde, dass eine umfassende und gute medizinische und psychologische Behandlung in Russland vorgekommen werden könne und der BF1 für den Lebensunterhalt der Familie aufkommen könne. Auch bestehe für Rückkehrende ein akutes Risiko von Inhaftierung, Folter und Ermordung. Die Haftbedingungen in russischen Gefängnissen seien schlecht und seien die Sicherheitslage in Tschetschenien generell schlecht. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Verwandten die BF finanziell oder mit einer Unterkunft unterstützen können. Die BF würden nicht einfach so ohne weiteres Platz bei Verwandten finden können und würden begrenzte finanzielle Mittel der Verwandten bestehen. Zur Rückkehrentscheidung wurde ausgeführt, dass vor allem auf das Wohl der Kinder Bedacht zu nehmen sei. Der BF3 habe fast sein gesamtes bisheriges Leben in Österreich verbracht, die BF4 sei in Österreich geboren und noch nie in Russland gewesen. Die Familie spreche bereits gut Deutsch, die BF2 habe im November mit einem Deutschkurs starten wollen, leider habe es aber keinen freien Platz mehr gegeben. Die BF2 wolle gerne eine Lehre machen oder als Betreuerin im Kindergarten arbeiten. Derzeit beziehe die Familie zwar noch Sozialleistungen, sofern es die Gesundheit des BF1 zulasse, wolle er eine Vollzeitarbeitsstelle annehmen oder mehr Stunden arbeiten. Die rechtskräftige Verurteilung bereue der BF1 sehr, es sei ein einmaliger Fehler. Er habe von einem Schrottplatz einen Staubsauger und einen nicht funktionstüchtigen Computerbildschirm entfernt, wobei er gedacht habe, dass dies herrenlose Gegenstände seien und er diese mitnehmen dürfe. Zudem habe die Familie einen großen Freundes- und Bekanntenkreis und sei in Österreich gut integriert. Die Behörde habe eine mangelhafte Interessensabwägung durchgeführt und sie die Erlassung einer Rückkehrentscheidung unzulässig.

Mit der Beschwerde wurde eine Bestätigung des BF1 für ein Arbeitsverhältnis ab 01.01.2018 für eine Teilzeitbeschäftigung (30 Stunden/Woche) als Winterdiensthilfsarbeiter (bei gleichbleibender wirtschaftlicher guter Lage) vorgelegt.

2.4. Am 20. bzw. 21. 12.2017 legte der BF1 ein ÖSD-Zertifikat A2 vom 13.12.2017 sowie seinen Behindertenpass (Verlängerung, gültig bis 31.07.2018, Grad der Behinderung 50%) vor.

2.5. Am 08. bzw. 16.01.2018 brachte der BF1 einen Dienstvertrag datiert mit 02.01.2018 (Beginn: 02.01.2018, Befristung bis 02.04.2018 für die Aufgaben Hausservice/Winterdienst als Hilfsarbeiter und eine Wochenarbeitszeit von 30 Stunden) in Vorlage.

2.6. Am 06.02.2018 legte der BF1 einen Befund der Orthopädie, orthopädischen Chirurgie und Unfallchirurgie in Vorlage eines Landesklinikums in Vorlage, wonach beim BF1 am 24.01.2018 die Diagnose „Z.n. supracondyl. Umstellungsosteotomie li 2013 Radialisparese li“ erstellt wurde.

2.7. Mit 07.03.2018 brachte der BF1 einen psychotherapeutischen Kurzbericht vom 15.02.2018 in Vorlage, wonach der BF1 mit Unterbrechungen seit April 2014 zur Psychotherapie wegen andauernder psychischer Probleme komme. Es wurden typische Merkmale einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung, eine Zwangsstörung und Klaustrophobie diagnostiziert.

2.8. Am 17.09.2018 wurden folgende Unterlagen in Vorlage gebracht:

-        Termin einer ärztlichen Untersuchung betreffend das Verfahren nach dem Behindertengesetz für den 23.10.2018;

-        Arbeits- und Lohnbestätigung datiert mit 10.09.2018, wonach der BF1 seit 16.03.2018 als Hilfskraft beschäftigt sei, ab 01.09.2018 10 Stunden/Woche (Lohn brutto/netto monatlich 313 EUR);

-        Information, wonach die BF2 von 29.08.2018 bis 30.10.2018 für einen Deutschkurs angemeldet sei.

2.9. Mit 07.11.2018 legte der BF1 einen neuen Behindertenpass (gültig bis 31.10.2019, Grad der Behinderung 50%) vor.

2.10. Am 15.11.2018 legte die BF2 ein Zeugnis zur Integrationsprüfung A1 vom 06.11.2018 vor.

Am 20.12.2018 legte der BF1 einen Befund einer Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie vom 15.11.2018, wonach beim BF1 die Diagnosen: „Posttraumatische Belastungsstörung bei komplexer Traumatisierung und komplexer Wesensveränderung, somatoforme Schmerzstörung“ erstellte wurden und als Medikation Escitalopram 20mg, Mirtazapin 30mg Lyrica 25mg und Lyrica 30mg verordnet wurden.

2.11. Am 31.01.2019 wurden eine Lohn-/Gehaltsabrechnung des BF1 von Jänner 2019, Teile des Dienstvertrages des BF1 (Wochenarbeitszeit 30 Stunden) sowie ein Auszug des Sozialversicherungsträgers betreffend die Anmeldung des BF1 als Arbeiter mit 03.01.2019 vorgelegt.

2.12. Am 28.05.2019 bzw. am 03.06.2019 legte der BF1 folgende Unterlagen vor:

-        Befundbericht vom 22.05.2019 vor, wonach der BF1 wegen Schmerzen aufgrund seiner Behinderung an der Hand im Mai 2019 zur Kontrolle erschienen sei. Festgehalten wurde, dass eine Metallentfernung sinnvoll wäre und gegebenenfalls auch eine Arthrolyse zum Erreichen eines kompletten Streckungsumfanges. Die Entfernung von knöchernen Fragmenten könne wegen der Arbeitssituation des BF2 derzeit nicht durchgeführt werden, im Herbst solle aber ein OP-Termin geplant werden;

-        Schreiben betreffend die Einvernehmliche Auflösung eines Dienstverhältnisses (Firma für Baum und Gartenpflege) mit 29.03.2019.

2.13. Am 06.09.2019 bzw. am 10.09.2019 teilte der BF1 mit, dass er sich gerne selbstständig machen wolle, dies aber erst nach Abschluss des anhängigen Asylverfahrens möglich sei und er um Mitteilung bitte, bis wann eine Entscheidung gefällt werde.

2.14. Mit 07.11.2019 wurde ein Schreiben des Dienstgebers des BF1 datiert mit 27.10.2019 vorgelegt, wonach beabsichtigt sei, dass dieser sich – gemeinsam mit dem BF1 – selbstständig machen und eine Firma gründen wolle. Dies sei wegen des schwebenden Verfahrens nicht möglich, weshalb um eine schnelle und positive Antwort gebeten werde.

Am 05.03.2020 legte die BF2 ein Zeugnis zur Integrationsprüfung A2 vom 28.01.2020 vor.

2.15. Mit Schreiben vom 17.06.2020 wurde die zeugenschaftliche Einvernahme des Arbeitgebers des BF1 zum Beweis eines schützenswerten Familienlebens in Österreich beantragt.

2.16. Das erkennende Gericht führte am 25.06.2020 in Beisein eines Dolmetschers der Tschetschenischen Sprache eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der der BF1 und die BF2 ergänzend zu ihrer Integration in Österreich, zu ihrer Eheschließung in Tschetschenien, der beruflichen Tätigkeit des BF1 in der Heimat, ihren Aufenthaltsorten nach ihrer Hochzeit sowie zu den aktuellen Aufenthaltsorten bzw. dem Verhältnis zu ihren Verwandten in der Russischen Föderation/Tschetschenien befragt wurden. Zudem wurde XXXX als Zeuge zur Integration (Arbeit) des BF1 bzw. der Firmengründung in Österreich befragt.

In der Verhandlung wurden folgende Unterlagen vorgelegt:

-        Schulnachricht des BF3 für das Schuljahr 2019/20 (zweite Stufe einer Volksschule) sowie Bewertungsbogen der Schule;

-        Gesellschaftervertrag datiert mit 16.01.2020 betreffend die Errichtung einer offenen Gesellschaft „ XXXX “ als Gesellschafter werden XXXX und der BF1 genannt;

-        Firmenbuchauszug betreffend die „ XXXX “;

-        KFZ-Kaufvertrag vom 13.02.2020 (Verkäufer „ XXXX “, Käufer „ XXXX “);

-        Auszug aus dem Mutter-Kind-Pass der BF2 betreffend ihre Schwangerschaft (errechneter Geburtstermin: 25.06.2020);

-        Empfehlungsschreiben einer Arbeitskollegin sowie des Arbeitgebers des BF1;

-        Empfehlungsschreiben von Nachbarn der BF;

-        Behindertenpass des BF1 (ausgestellt am 15.11.2019, gültig ab 23.10.2019, gültig bis 30.11.2021);

-        Psychotherapeutischer Befundbericht betreffend den BF1 vom 16.05.2014.

2.17. Am 26.06.2020 brachte die belangte Behörde eine Stellungnahme ein. Darin wird im Wesentlichen auf den angefochtenen Bescheid verwiesen und ausgeführt, dass sich auch in der Verhandlung manifestiert habe, dass das gesamte Fluchtvorbringen nicht der Tatsache entsprechen könne. Letztlich seien der gesamten Familie russische Reisepässe ausgestellt worden. Auch eine Ehe könne niemals in Abwesenheit von staatlichen Behörden geschlossen werden. Der BF1 und die BF2 hätten sich auch zu den Erkrankungen/Beeinträchtigungen des BF1 massiv widersprochen und sei davon auszugehen, dass die gegenüber den Medizinern geäußerten Fakten ein Scheinvorbringen seien. Hinsichtlich der vom Zeugen behaupteten Vergesslichkeit seien in den medizinischen Berichten keine Symptome erwähnt worden. Sollte der BF1 tatsächlich vergesslich sein, dann könne sich sein Arbeitgeber wohl kaum auf ihn verlassen. Sämtliche Medikamente und Behandlungen die der BF1 benötige seien in der Russischen Föderation verfügbar. Der BF1 sei auch dazu fähig Schwerarbeit zu leisten (Winterdienst, Hausbetreuung, diverse Gartenarbeiten). Er verfüge auch über einen Führerschein und einschlägige fünfjährige Fachkenntnis und stehe es ihm somit offen, diese Tätigkeit zusammen mit Angehörigen (bspw. dem arbeitslosen Bruder) in jedem Teil der Russischen Föderation zu betreiben. Der Familie (mit mehreren Kindern) würden außergewöhnliche staatliche Begünstigungen zur Verfügung stehen. Die BF hätten auch Angehörige in der Russischen Föderation und könnten von diesem mit einer Unterkunft und diversen Leistungen unterstützt werden. Es stehe dem BF1 auch frei mit seinem in Österreich erworbenen Kapital eine Firma in Russland zu gründen, um so den Unterhalt seiner Familie zu sichern. Die Kultur des Herkunftsstaates sei der Familie nicht fremd. Die BF2 trage traditionelle Kleidung und würden alle BF die Sprache des Herkunftsstaates sprechen. Von besonderen Anpassungsproblemen der Kinder sei daher nicht auszugehen. Zahlreiche Angehörige würden sich ungehindert in Tschetschenien bzw. der Russischen Föderation aufhalten, weshalb auch davon auszugehen sei, dass dies auch für die BF möglich ist. Die BF würden bei einer Rückkehr nach Tschetschenien auch keinen Drohungen unterliegen, sie könnten sich bei derartigen Befürchtungen aber in jedem beliebigen Teil der Russischen Föderation niederlassen und sich dort den Lebensunterhalt verdienen. Zu COVID-19 wurde ausgeführt, dass die Situation in Russland gerechnet auf die Bevölkerungszahl momentan wesentlich günstiger bzw. sicherer als in Österreich sei. Die BF seien allesamt nicht im gefährdeten Alter und würden nicht zur Risikogruppe zählen. Zusammengefasst würden sämtliche Gründe für die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten nicht mehr vorliegen und seien keine Gefahren bei einer Rückführung zu befürchten. Auch den gesetzten Integrationsschritten komme keine Nachhaltigkeit zu und sei vom Überwiegen der Interessen einer Abschiebung auszugehen.

2.18. Am 02.07.2020 langten folgende Unterlagen ein:

-        Mitteilung, wonach der BF1 davon ausgehe, dass die Reisepässe der BF2 bzw. der Kinder verloren gegangen seien und der BF1 nur seinen Reisepass vorlegen könne;

-        Schreiben vom 27.06.2020, wonach das Betreiben des Gewerbes „ XXXX “ durch die zuständige BH untersagt worden sei und alle Aufträge über die Firma „ XXXX “ abgewickelt werden würden, bis der positive Bescheid der BH im Jänner 2021 erfolge;

-        Diverse Rechnungen und Angebote betreffend die Firma „ XXXX “;

-        Lohn-/Gehaltsabrechnungen des BF1 von März bis Juni 2020;

-        Bestätigung des Dienstgebers, wonach der BF1 ab 01.06.2020 für 25 Stunden/Woche vollversichert angemeldet sei (Nettolohn/Monat 753,31 EUR).

2.19. Am 08.07.2020 wurde eine Geburtsurkunde vorgelegt, wonach am XXXX eine weitere Tochter des BF1 und der BF2 im Bundesgebiet geboren wurde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung wie folgt erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die BF sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe und bekennen sich zum muslimischen Glauben. Die Identität sämtlicher BF steht fest.

Der BF1, die BF2 und der minderjährige BF3 reisten im September 2012 illegal ins Bundesgebiet ein und stellten am 22.09.2012 Anträge auf internationalen Schutz. Die BF4 wurde im Mai 2014 in Österreich geboren und wurde für diese ebenfalls ein Antrag auf internationalen Schutz eingebracht.

Die Anträge sämtlicher BF hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten wurden rechtkräftig negativ entschieden. Ihnen wurde aber gemäß § 8 Abs. 1 AsylG jeweils der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation rechtskräftig zuerkannt und den BF jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.

Die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde im Falle des BF1 von der erkennenden Richterin des Bundesverwaltungsgerichtes damit begründet, dass der BF1 an zahlreichen, teilweise schweren Krankheiten (ua. an einer Varusfehlstellung im Bereich des linken Oberarmes, an latenter Tuberkulose sowie an psychischen Problemen: komplexer Posttraumatischer Belastungsstörung, einer Zwangsstörung und an Klaustrophobie) leide. Zudem habe der BF1 in seiner psychotherapeutischen Behandlung Selbstmordgedanken geäußert. In der Russischen Föderation/Tschetschenien sei die generelle medizinische Versorgung zwar gewährleistet, der BF1 benötige wegen seiner zahlreichen und teilweise schweren Erkrankungen aber eine umfassende medizinische Behandlung, welche im Herkunftsstaat, auch in Zusammenschau mit den begrenzten finanziellen Mitteln der Familie jedoch nicht ausreichend gewährleistet bzw. gesichert sei. Die Annahme einer beruflichen Tätigkeit im Herkunftsstaat wäre dem BF1 aufgrund der dargelegten gesundheitlichen Beeinträchtigungen und der BF2, welche die beiden minderjährigen Kinder betreuen müsse, kaum bis gar nicht möglich, zumal die Arbeitsmarktsituation in der Russischen Föderation respektive Tschetschenien bereits für gesunde Menschen bzw. für Menschen, welche keine derartigen Betreuungspflichten hätten, äußerst schwierig sei. Bei Beachtung der konkreten Einzelsituation in ihrer Gesamtheit vor dem Hintergrund der allgemeinen Verhältnisse im Herkunftsstaat könne daher nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass sich der physische und psychische Gesundheitszustand des BF1 bei einer Rückkehr zum jetzigen Entscheidungszeitpunkt nicht massiv verschlechtere und keine ausreichende medizinische Versorgung und spezielle, auf die Bedürfnisse des BF1 zugeschnittene Behandlungsmöglichkeiten gegeben seien. Es könne daher – auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass weitere Angehörige im Herkunftsstaat leben – nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass die BF bei einer Verbringung in ihren Herkunftsstaat in eine als unmenschlich zu bezeichnende Lage geraten könnten. Eine Rückkehr in den Herkunftsstaat sei daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zu verantworten, da es sehr wahrscheinlich bzw. in Zusammenschau der Fakten nicht ausgeschlossen erscheine, dass die BF im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation respektive Tschetschenien in eine derart prekäre Lage geraten würden, die eine unmenschliche bzw. eine erniedrigende Behandlung iSd Art. 3 EMRK darstellen würde.

Die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten an die BF2 und die minderjährigen BF3 und BF4 erfolgte abgleitet vom Status des BF1 nach den Bestimmungen des Familienverfahrens.

Die befristete Aufenthaltsberechtigung der BF als subsidiär Schutzberechtigte wurde am 01.09.2015 gemäß § 8 Abs. 4 AsylG – mit nicht näher begründeten Bescheiden – bis zum 02.09.2017 verlängert. Am 11.08.2017 beantragten die BF abermals die Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigungen als subsidiär Schutzberechtigte.

1.2. Nicht festgestellt werden kann, dass die BF im Fall ihrer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Tschetschenien respektive in die Russische Föderation in ihrem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wären. Die BF liefen dort nicht (mehr) Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Sämtliche BF beherrschen die Tschetschenische Sprache auf muttersprachlichem Niveau, zudem sprechen der BF1 und die BF2 auch Russisch. Der minderjährige BF3 und die minderjährige BF4 im Alter von neun und sechs Jahren kehren in Obhut ihrer Eltern in den Herkunftsstaat zurück. Die BF haben zahlreiche Angehörige im Herkunftsstaat, welche ihnen bei einer Wiedereingliederung und Bestreitung ihres Lebensunterhaltes (anteilsmäßig) unterstützend zur Seite stehen könnten. Die BF pflegen regelmäßigen Kontakt zu ihren Familienangehörigen im Herkunftsstaat.

Die persönliche Situation des BF1 hat sich verglichen mit dem Zeitpunkt der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten mit Erkenntnis vom 02.09.2014 bzw. der Verlängerung mit Bescheid vom 01.09.2015 insofern maßgeblich geändert, als dieser wegen seines gebesserten gesundheitlichen bzw. psychischen Zustandes nunmehr dazu in der Lage ist einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen und er den Lebensunterhalt für sich und seine Familie, allenfalls mit der nun auch möglichen finanziellen Unterstützung durch seine Angehörigen im Heimatland bestreiten können wird. Auch die medizinische Versorgungslage sowie die Arbeitsmarktsituation in Tschetschenien respektive der Russischen Föderation hat sich wesentlich und nachhaltig verbessert.

Der BF1 leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen und ist grundsätzlich arbeitsfähig. Die BF2, der BF3 und die BF4 sind gesund.

Am XXXX wurde eine weitere Tochter des BF1 und der BF2 im Bundesgebiet geboren. Auch für diese wurde ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Das diesbezügliche Verfahren ist derzeit beim BFA anhängig.

Der BF1 wurde am 13.01.2016 wegen dem Vergehen des Diebstahls durch Einbruch gemäß §§ 127, 129 Abs. 1 Z 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, wobei die Strafe unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

1.3. Der BF1, die BF2 und der BF3 waren nach ihrer illegalen Einreise ins Bundesgebiet im September 2012 zunächst vorläufig aufenthaltsberechtigt, sodann seit 02.09.2014 als subsidiär Schutzberechtigte aufenthaltsberechtigt, wobei die belangte Behörde im September 2017 das gegenständliche Aberkennungsverfahren einleitete. Die im Mai 2014 in Österreich geboren minderjährige BF4 war ebenso zunächst vorläufig aufenthaltsberechtigt, ist seit 17.09.2014 als subsidiär Schutzberechtigte aufenthaltsberechtigt, bevor das BFA im September 2017 das gegenständliche Aberkennungsverfahren einleitete.

Der nunmehr seit acht Jahren im Bundesgebiet aufhältige BF1 hat in Österreich ein Deutsch-Zertifikat „ÖSD A2“ erworben und kann sich in Deutsch verständigen. Er ist seit etwa fünf Jahren (in der warmen Jahreszeit) unregelmäßig in einer Gärtnerei/Firma für Gartengestaltung beschäftigt. Das Ausmaß der Arbeitszeit/Bezahlung pro Monat ist unterschiedlich und von der Auftragslage der Firma abhängig (zuletzt waren es etwa 25h/Woche für ein Gehalt von etwa 750 EUR brutto/Monat). In den Wintermonaten hat der BF1 unregelmäßig Tätigkeiten im Bereich des Winterdienstes bzw. im Hausservice durchgeführt. Trotz des Einkommens des BF1 beziehen die BF seit ihrer Einreise ins Bundesgebiet durchgehend Sozialleistungen bzw. Leistungen aus der Grundversorgung und sind nicht selbsterhaltungsfähig.

Der BF1 hat sich seinen russischen Führerschein in einen österreichischen Führerschein umschreiben lassen und ist mobil. Im Jänner 2020 hat der BF1 gemeinsam mit seinem Arbeitgeber eine Gesellschaft (Offene Gesellschaft) für die Ausübung von Tätigkeiten in der Gartengestaltung gegründet. Die Ausstellung einer Gewerbeberechtigung wurde jedoch von der zuständigen Bezirksverwaltungsbehörde (wegen der strafrechtlichen Verurteilung des BF1) verwehrt. Der BF1 pflegt zu seinem Arbeitgeber einen freundschaftlichen Kontakt, dabei handelt es sich aber nicht um eine tiefgreifende soziale Beziehung.

Die BF2 hält sich ebenfalls seit acht Jahren im Bundesgebiet auf. Sie hat Deutschkurse besucht und Integrationsprüfungen bis zum Niveau A2 positiv absolviert. Die BF2 konnte zwar eine Einstellungszusage vorlegen, sie ist in Österreich tatsächlich aber keiner entgeltlichen Beschäftigung nachgegangen, hat keine sonstigen Ausbildungen oder Kurse absolviert und war auch nicht freiwillig oder ehrenamtlich tätig. Sie kümmert sich hauptsächlich um die minderjährigen Kinder. Die BF2 konnte sich in Österreich keinen umfassenden Freundschafts- oder Bekanntenkreis aufbauen, sondern pflegt sie lediglich Kontakt zu Nachbarn bzw. zu Eltern von Schul-/Kindergartenkameraden der Kinder.

Die BF wohnen alle gemeinsam in einer Mietwohnung, in ihrer Freizeit machen sie gemeinsame Ausflüge (etwa in den Park oder den Tiergarten).

Der BF3 war bei der Einreise nach Österreich etwas über ein Jahr alt. Er hat in Österreich zuletzt die zweite Klasse der Volksschule mit durchwegs guten Noten abgeschlossen, mit Herbst geht er in die dritte Klasse einer Volksschule.

Die BF4 wurde in Österreich geboren, ist hier in den Kindergarten gegangen und besucht nunmehr (mit Herbst) die erste Klasse der Volksschule.

Die BF2 unterhält sich mit ihren minderjährigen Kindern auf Tschetschenisch. Weil der BF3 bzw. die BF4 den Kindergarten besuchen bzw. in die Schule gehen, ist davon auszugehen, dass der BF3 und die BF4 auch die Deutsche Sprache verstehen bzw. sich auf Deutsch verständigen können.

Der BF1 gab an, dass eine „entfernte Verwandte“ in Österreich lebt. Ein gemeinsamer Haushalt bzw. ein Abhängigkeitsverhältnis zu der Genannten besteht nicht.

1.4. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation/Tschetschenien:

Politische Lage

Letzte Änderung: 27.03.2020

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 2.2020c, vgl. CIA 28.2.2020). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 2.2020a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 2.2020a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der [derzeitigen] Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt (GIZ 2.2020a). Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt. Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 2.2020a, vgl. AA 2.3.2020c).

Im Jänner 2020 kündigte Präsident Putin bei seiner Neujahrsrede Verfassungsänderungen an. Daraufhin trat die Regierung unter Ministerpräsident Medwedew zurück (Spiegel Online 15.1.2020). Kurz darauf wurde Putins Kandidat Michail Mischustin, der zehn Jahre lang Leiter der russischen Steuerbehörde war, von der Duma zum neuen Ministerpräsident gewählt (Spiegel Online 16.1.2020). Dmitrij Medwedew wird Vizevorsitzender im Sicherheitsrat. Die angestrebte Verfassungsänderung ist ein umfangreicher Maßnahmenkatalog, bei dem es sich laut Putin um von der Gesellschaft geforderte Veränderungen handelt (Spiegel Online 15.1.2020). Das Volk wird über die Verfassungsänderungen abstimmen, um diese zu legitimieren (NZZ 19.3.2020), jedoch wird die Abstimmung aufgrund der Corona-Pandemie vom geplanten Termin im April nach hinten verschoben (ORF.at 25.3.2020). Vorgesehen ist nicht nur eine Ausweitung der Machtbefugnisse des Präsidenten. Putin soll nach einem Votum der Abgeordneten auch die Möglichkeit haben, sich noch einmal für maximal zwei Amtszeiten zu bewerben – er könnte also bei Wiederwahl bis 2036 im Amt bleiben. Nach bisheriger Verfassung könnte er 2024 nicht mehr antreten. Kritiker und Oppositionelle werfen Putin einen Staatsstreich vor. Das Verfassungsgericht hat den Änderungen bereits zugestimmt (NZZ 19.3.2020).

Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 2.2020a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016, vgl. Global Security 21.9.2016). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht infrage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018).

Russland ist eine Föderation, die (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) aus 85 Föderationssubjekten mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 2.2020a, vgl. AA 2.3.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 2.2020a).

Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 2.2020a).

Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (2.3.2020c): Russische Föderation – Politisches Portrait, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/politisches-portrait/201710, Zugriff 10.3.2020

-        CIA – Central Intelligence Agency (28.2.2020): The World Factbook, Central Asia: Russia, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 10.3.2020

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 10.3.2020

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 10.3.2020

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 10.3.2020

-        Global Security (21.9.2016): Duma Election - 18 September 2016, https://www.globalsecurity.org/military/world/russia/politics-2016.htm, Zugriff 10.3.2020

-        Kleine Zeitung (28.7.2019): Mehr als 1.300 Festnahmen bei Kundgebung in Moskau, https://www.kleinezeitung.at/politik/5666169/Russland_Mehr-als-1300-Festnahmen-bei-Kundgebung-in-Moskau, Zugriff 10.3.2020

-        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (19.3.2020): Putin hält trotz Coronavirus-Krise an der Verfassungsabstimmung fest, https://www.nzz.ch/international/coronavirus-in-russland-krise-ueberschattet-verfassungsabstimmung-ld.1547213, Zugriff 26.3.2020

-        ORF.at (25.3.2020): Putin verschiebt Abstimmung über Verfassungsänderung, https://orf.at/stories/3159340/, Zugriff 26.3.2020

-        ORF – Observer Research Foundation (18.9.2019): Managing democracy in Russia: Elections 2019, https://www.orfonline.org/expert-speak/managing-democracy-in-russia-elections-2019-55603/, Zugriff 10.3.2020

-        OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for D

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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