Entscheidungsdatum
29.09.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W256 2181547-1/7E
W256 2181549-1/7E
W256 2181551-1/7E
W256 2235246-1/2E
Beschluss
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Caroline KIMM als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1. XXXX , geboren am XXXX , 2. XXXX , geboren am XXXX , 3. XXXX , geboren am XXXX und 4. XXXX , geboren am XXXX , alle StA. Somalia, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14. November 2017 (betreffend 1. und 2.), vom 29. November 2017 (betreffend 3.) und vom 13. August 2020 (betreffend 4.) Zlen. 1. XXXX , 2. XXXX , 3. XXXX und 4. XXXX , den Beschluss gefasst:
A) Die angefochtenen Bescheide werden gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG aufgehoben und die Angelegenheiten zur Erlassung von neuen Bescheiden an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Begründung:
I. Verfahrensgang und Sachverhalt:
Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer sind die Eltern der minderjährigen Dritt- bis Viertbeschwerdeführer.
Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer stellten am 8. April 2016 jeweils einen Antrag auf internationalem Schutz nach dem AsylG 2005.
Mit den angefochtenen Bescheiden vom 14. November 2017 wies die belangte Behörde die Anträge der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers auf internationalen Schutz ab, erteilte keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ Rückkehrentscheidungen und stellte fest, dass die Abschiebungen der Beschwerdeführer nach Somalia zulässig seien. Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass die Beschwerdeführer keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen hätten können.
Gegen diese Bescheide erhoben die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer die vorliegende Beschwerde.
Die Erstbeschwerdeführerin stellte als gesetzliche Vertretung für den am XXXX geborenen minderjährigen Drittbeschwerdeführer am 24. November 2017 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Mit dem angefochtenen Bescheid vom 29. November 2017 wies die belangte Behörde den Antrag des Drittbeschwerdeführers auf internationalen Schutz ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung des Drittbeschwerdeführers nach Somalia zulässig sei.
Gegen diesen Bescheid erhob der Drittbeschwerdeführer die vorliegende Beschwerde.
Die Erstbeschwerdeführerin stellte als gesetzliche Vertretung für die am XXXX geborene minderjährige Viertbeschwerdeführerin am 27. Februar 2020 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Zuge der Befragung vor der belangten Behörde am 8. Juni 2020 führte die ohne Beistand und Vertretung auftretende Erstbeschwerdeführerin dazu befragt, ob sie ihre Tochter vertrete, aus, dass diese keine eigenen Fluchtgründe habe und sie um Entscheidung im Familienverfahren ersuche.
Mit dem angefochtenen Bescheid vom 13. August 2020 wies die belangte Behörde den Antrag der Viertbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung der Viertbeschwerdeführerin nach Somalia zulässig sei. Begründend führte die belangte Behörde nach Wiedergabe der Länderinformationen der Staatendokumentation im Wesentlichen aus, dass keine asylrelevante Verfolgung durch die gesetzliche Vertretung dargelegt worden sei und auch ansonsten eine solche nicht erkennbar sei.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde der Viertbeschwerdeführerin. Darin wird im Wesentlichen auf eine im Falle einer Rückkehr nach Somalia drohende Verfolgung der Viertbeschwerdeführerin im Hinblick auf eine Genitalverstümmelung hingewiesen. Der Viertbeschwerdeführerin drohe als Mädchen im Falle einer Rückkehr nach Somalia eine Beschneidung. Laut den Länderberichten sei eine weibliche Genitalverstümmelung in Somalia weiterhin weit verbreitet und 90 bis 98 % der Mädchen und Frauen einer solchen ausgesetzt. Schon aufgrund dieser Länderinformationen hätte die belangte Behörde eine asylrelevante Verfolgung der Viertbeschwerdeführerin feststellen müssen.
Die belangte Behörde legte die Beschwerde samt den Verwaltungsakten dem Bundesverwaltungsgericht vor.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. rechtliche Beurteilung:
zu Spruchpunkt A)
Gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen, wenn die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen hat. Diese Vorgangsweise setzt nach § 28 Abs. 2 Ziffer 2 voraus, dass die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht nicht im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
In seinem Erkenntnis vom 26. Juni 2014, Zl. Ro 2014/03/0063, hielt der Verwaltungs-gerichtshof fest, dass eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG insbesondere dann in Betracht kommen wird, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (vgl. auch den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 25. Jänner 2017, Zl. Ra 2016/12/0109, Rz 18ff.).
Der angefochtene Bescheid der Viertbeschwerdeführerin ist aus folgenden Gründen mangelhaft:
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
Im vorliegenden Fall hat die Erstbeschwerdeführerin als gesetzliche Vertretung u.a. für ihre minderjährige Tochter, die Viertbeschwerdeführerin und damit für eine Familienangehörige im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
§ 34 Abs. 4 AsylG 2005 ordnet ausdrücklich an, dass jeder Antrag eines Familienangehörigen gesondert zu prüfen und über jeden mit gesondertem Bescheid abzusprechen ist.
Daraus folgt aber, dass für jeden Familienangehörigen allfällige eigene Fluchtgründe zu ermitteln sind. Nur wenn solche – nach einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren – nicht hervorkommen, ist dem Familienangehörigen jener Schutz zu gewähren, der bereits einem anderen Familienangehörigen gewährt wurde (siehe dazu u.a. das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 24. März 2015, Ra 2014/19/0063 m.v.w.H sowie jüngst das Erkenntnis des Verwaltungsgerichthofes vom 15. Oktober 2018, Ra 2018/14/0143).
Im vorliegenden Fall hat sich die belangte Behörde mit den eigenen Fluchtgründen der Viertbeschwerdeführerin in keiner Weise auseinandergesetzt.
Dabei ist der belangten Behörde zwar insoweit zuzustimmen, dass die anwaltlich und auch ansonsten nicht vertretene Erstbeschwerdeführerin im Rahmen ihrer Befragung vor der belangten Behörde von sich aus eigene Fluchtgründe der Viertbeschwerdeführerin verneinte.
Wie aber in der Beschwerde letztlich auch vorgebracht, kann gerade Mädchen in Somalia eine asylrelevante Verfolgung aufgrund einer Genitalverstümmelung drohen (siehe dazu die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes vom 20. Juni 2017, Ra 2017/01/0039 und vom 1. März 2018, Ra 2017/19/0545 u.v.m.), welche laut den eigens von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid herangezogenen Länderberichten hauptsächlich durch eine standhafte Weigerung der Mutter unterbunden werden kann.
Angesichts des laut den eigenen Länderfeststellungen der belangten Behörde weit verbreiteten Zuspruchs der somalischen Gesellschaft in Bezug auf eine Genitalverstümmelung wäre die belangte Behörde daher bereits von sich aus – und zwar selbst im Falle der Verneinung einer diesbezüglichen Gefahr durch die (im Übrigen nicht vertretene) Mutter – verpflichtet, Ermittlungen in diese Richtung anzustellen.
Die belangte Behörde hat sich damit aber in keiner Weise auseinandergesetzt. Jedenfalls kann weder den vorlegten Verwaltungsakten, noch dem angefochtenen Bescheid entnommen werden, dass die belangte Behörde diesbezügliche Erhebungen, wie insbesondere eine dazu gezielte Einvernahme der Eltern der Viertbeschwerdeführerin, in irgendeiner Form durchgeführt hat.
Die Verneinung eigener Fluchtgründe der minderjährigen Viertbeschwerdeführerin durch die Erstbeschwerdeführerin entbindet die belangte Behörde jedenfalls nicht, im Falle dennoch vorhandener und auch bekannter Verdachtsmomente von sich aus tätig zu werden.
Vor dem Hintergrund der obigen Rechtslage wäre die belangte Behörde daher verpflichtet gewesen, sich mit dem Antrag der Viertbeschwerdeführerin, insbesondere mit ihren eigenen Fluchtgründen, gesondert auseinanderzusetzen.
Dadurch, dass die belangte Behörde dies verkannte und insofern die Erstbeschwerdeführerin zu den Fluchtgründen der Viertbeschwerdeführerin nicht (ordnungsgemäß) befragt hat, wurde der Viertbeschwerdeführerin aber die Möglichkeit einer eingehenden und gesonderten Auseinandersetzung mit den eigenen Fluchtgründen genommen.
Da somit der maßgebliche Sachverhalt nicht feststeht, war im Hinblick auf diese besonders gravierenden Ermittlungslücken eine Zurückverweisung erforderlich und auch gerechtfertigt (vgl. dazu den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 20. Oktober 2015, Zl. Ra 2015/09/0088).
Die belangte Behörde wird daher im fortgesetzten Verfahren angehalten, sich mit den Fluchtgründen der Viertbeschwerdeführerin (eingehend) auseinanderzusetzen und dazu konkrete Ermittlungsschritte, sei es durch eine gezielte Befragung der Eltern, durch Einholung von entsprechenden Länderberichten oder durch weitere sich daraus ergebender Maßnahmen, zu setzen.
Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens und eine erstmalige Ermittlung und Beurteilung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Bundesverwaltungsgericht kann nicht im Sinne des Gesetzes liegen. Denn die belangte Behörde ist als Spezialbehörde im Rahmen der Staatendokumentation gemäß § 5 BFA-Einrichtungsgesetz für die Sammlung relevanter Tatsachen zur Situation in den betreffenden Staaten samt den Quellen zuständig. Überdies soll eine ernsthafte Prüfung des Antrages nicht erst beim Bundesverwaltungsgericht beginnen und zugleich enden.
Dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht "im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden" wäre, ist – auch angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes – nicht ersichtlich.
Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind daher im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben. Folglich war das Verfahren betreffend die Viertbeschwerdeführerin zur neuerlichen Entscheidung an die belangte Behörde zurückzuverweisen.
Gleiches gilt auch in Bezug auf die Verfahren betreffend die Erst- bis Drittbeschwerdeführer. Wie bereits oben ausgeführt wurde, handelt es sich bei der Erstbeschwerdeführerin und dem Zweitbeschwerdeführer als Eltern um Familienangehörige der Viertbeschwerdeführerin im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005. Bei dem Drittbeschwerdeführer handelt es sich wiederum um das minderjährige Kind der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers und damit um deren Familienangehörige im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005.
Da das die Viertbeschwerdeführerin betreffende Verfahren hinsichtlich der Gewährung des Status einer Asylberechtigten wieder bei der belangten Behörde anhängig ist und gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 Verfahren von Familienangehörigen "unter einem" zu führen sind, waren die die Erst- bis Drittbeschwerdeführer betreffenden Bescheide ebenso an die belangte Behörde zurückzuverweisen (siehe dazu die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes vom 30. Juni 2011, 2011/23/0098; vom 25. November 2009, 2007/01/1153; sowie vom 26. Juni 2007, 2007/20/0281, u.a.).
Eine mündliche Verhandlung konnte im vorliegenden Fall gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG unterbleiben, weil bereits aufgrund der Aktenlage feststand, dass die angefochtenen Bescheide "aufzuheben" waren. Dieser Tatbestand ist auch auf Beschlüsse zur Aufhebung und Zurückverweisung anwendbar (vgl. zur gleichartigen früheren Rechtslage Hengstschläger/Leeb, AVG [2007] § 67d Rz 22).
zu Spruchpunkt B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist unzulässig, weil keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung zukommt: Dass eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG insbesondere dann in Betracht kommt, wenn die Verwaltungsbehörde bloß ungeeignete Ermittlungen gesetzt hat, entspricht der oben zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.
Schlagworte
Behebung der Entscheidung Einvernahme Ermittlungspflicht Familienverfahren Fluchtgründe Kassation mangelnde SachverhaltsfeststellungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:W256.2181547.1.00Im RIS seit
22.12.2020Zuletzt aktualisiert am
22.12.2020