TE Vwgh Erkenntnis 2020/11/11 Ra 2019/22/0126

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Veröffentlicht am 11.11.2020
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E3R E19101000
E3R E19102000
001 Verwaltungsrecht allgemein
10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AVG §56
EURallg
NAG 2005 §11 Abs1 Z5
NAG 2005 §11 Abs3
NAG 2005 §21 Abs1
NAG 2005 §43b idF 2017/I/145
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGG §42 Abs3
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §27
VwRallg
32016R0399 Schengener Grenzkodex Art6 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrätin Mag.a Merl sowie die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des Landeshauptmannes von Wien (als belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht) gegen das am 30. Jänner 2019 mündlich verkündete und in der Folge schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien, Zl. VGW-151/060/11632/2018/E-11, betreffend Aufenthaltstitel (mitbeteiligte Partei: P D C, vertreten durch Mag. Franz Karl Juraczka, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Alser Straße 32/15), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1        Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger der Vereinigten Staaten von Amerika, beantragte am 13. April 2017 die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung „Sonderfälle unselbständiger Erwerbstätigkeit“ gemäß § 62 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG).

2        Mit Bescheid des Landeshauptmannes von Wien (belangte Behörde, Revisionswerber) vom 29. Mai 2017 wurde dieser Antrag gestützt auf § 11 Abs. 2 Z 3 NAG abgewiesen, weil der Mitbeteiligte keinen Nachweis über eine alle Risken abdeckende Krankenversicherung für Österreich erbracht habe.

3        Mit Erkenntnis vom 3. November 2017 gab das Verwaltungsgericht Wien der dagegen erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten Folge und änderte den angefochtenen Bescheid dahingehend ab, dass dem Mitbeteiligten gemäß dem am 19. Oktober 2017 in Kraft getretenen § 43b NAG idF BGBl. I Nr. 145/2017 eine „Niederlassungsbewilligung - Sonderfälle unselbständiger Erwerbstätigkeit“ mit zwölfmonatiger Gültigkeitsdauer erteilt werde. Begründend ging das Verwaltungsgericht - auf das Wesentliche zusammengefasst - davon aus, dass der Mitbeteiligte, der einen Vorvertrag betreffend die Ausübung pastoraler und seelsorgerischer Tätigkeiten vorgelegt habe, nicht in den Anwendungsbereich des AuslBG falle und bezüglich der Krankenversicherung eine Pflichtversicherung vorliege, weshalb die Voraussetzung gemäß § 11 Abs. 2 Z 3 NAG erfüllt sei.

Dem Mitbeteiligten wurde ein befristeter Aufenthaltstitel mit Gültigkeit bis zum 9. November 2018 ausgestellt.

4        Mit Erkenntnis vom 9. August 2018, Ra 2018/22/0008, hob der Verwaltungsgerichtshof das genannte Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes vom 3. November 2017 auf Grund der dagegen erhobenen außerordentlichen Amtsrevision der belangten Behörde wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes auf. Begründend hielt der Verwaltungsgerichtshof - wiederum auf das Wesentliche zusammengefasst - fest, dass ein Drittstaatsangehöriger mit der Stellung eines Erstantrages auf Erteilung (ua.) einer „Niederlassungsbewilligung - Sonderfälle unselbständiger Erwerbstätigkeit“ nach § 21a Abs. 1 erster Satz NAG Kenntnisse der deutschen Sprache nachzuweisen habe. Das Verwaltungsgericht habe keine Feststellungen zum Nachweis von Deutschkenntnissen durch den Mitbeteiligten getroffen und diese Erteilungsvoraussetzung somit nicht geprüft.

5        Mit dem im fortgesetzten Verfahren ergangenen, nunmehr angefochtenen Erkenntnis gab das Verwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung der Beschwerde des Mitbeteiligten erneut Folge und erteilte ihm in Abänderung des bekämpften Bescheides der belangten Behörde eine „Niederlassungsbewilligung - Sonderfälle unselbständiger Erwerbstätigkeit“ gemäß § 43b NAG mit zwölfmonatiger Gültigkeitsdauer. Die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG wurde für unzulässig erklärt.

6        Nach Darstellung des Verfahrensganges stellte das Verwaltungsgericht - soweit für das gegenständliche Revisionsverfahren von Relevanz - Folgendes fest: Der Mitbeteiligte habe - nach persönlicher Antragseinbringung am 13. April 2017 bei der zuständigen Magistratsabteilung - am 18. April 2017 das Bundesgebiet bzw. den Schengenraum verlassen und sei nach Erhalt seines Aufenthaltstitels „Ende Dezember 2017“ nach Österreich zurückgekehrt. Das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes Ra 2018/22/0008 sei am 4. September 2018 „versendet“ worden. Der Mitbeteiligte habe das Bundesgebiet „im Oktober 2018“ verlassen und sei „Ende November 2018“ wieder nach Österreich zurückgekehrt. Weiters wurden Feststellungen zur beruflichen und finanziellen Situation, zur Wohnsituation und zu den Deutschkenntnissen getroffen.

7        In seinen rechtlichen Erwägungen hielt das Verwaltungsgericht - soweit für das vorliegende Revisionsverfahren relevant - Folgendes fest:

Auf Grund der ex tunc-Wirkung des (die im ersten Verfahrensgang erlassene Entscheidung des Verwaltungsgerichtes vom 3. November 2017 aufhebenden) Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes Ra 2018/22/0008 sei der Mitbeteiligte so gestellt, als hätte er nie einen Aufenthaltstitel erhalten. Bereits deswegen habe er durch den in Österreich verbrachten Aufenthalt von Ende Dezember 2017 bis zur Erlassung des Erkenntnisses Ra 2018/22/0008 im September 2018 den Zeitraum, in dem er sich visumfrei aufhalten durfte, überschritten.

Da der Mitbeteiligte einen Inlandsantrag gestellt habe, komme nicht § 21 Abs. 1 NAG, sondern § 11 Abs. 1 Z 5 NAG zur Anwendung. Es sei daher gemäß § 11 Abs. 3 NAG eine Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK vorzunehmen. Dem Mitbeteiligten könne „kein Vorwurf daraus gemacht werden, dass er im Vertrauen auf den ihm erteilten Aufenthaltstitel die visumfreie Zeit überschritten“ habe. Allerdings sei der Mitbeteiligte auch nach Erlassung des aufhebenden Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes (wenngleich nicht durchgehend) in Österreich verblieben und habe damit fortgesetzt die visumfreie Zeit überschritten. In seiner Interessenabwägung verwies das Verwaltungsgericht - unter Bezugnahme auf das hg. Erkenntnis vom 24. Februar 2011, 2010/21/0460, und somit unter Einbeziehung des konkreten Verfahrensablaufes - darauf, dass der Mitbeteiligte den im NAG vorgezeichneten Weg zur Erlangung eines Aufenthaltstitels eingehalten habe, dass er bereits zum Zeitpunkt der Aufhebung seines Aufenthaltstitels durch das Erkenntnis Ra 2018/22/0008 über die geforderten Deutschkenntnisse verfügt habe und somit die berechtigte Erwartung hegen habe dürfen, ihm werde der beantragte Aufenthaltstitel „ehebaldigst“ erteilt. Der im Verbleib im Inland nach Aufhebung seines Aufenthaltstitels liegende Verstoß gegen die öffentliche Ordnung sei als wesentlich gemindert anzusehen, sodass die Abwägung insgesamt zugunsten des Mitbeteiligten ausfallen müsse.

8        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision der belangten Behörde.

9        Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der die Zurückweisung, in eventu die Abweisung der Revision beantragt wird.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

10       Der Revisionswerber wendet sich in seiner Zulassungsbegründung gegen die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Abwägung nach § 11 Abs. 3 NAG. Nach Ansicht des Revisionswerbers wäre es nicht geboten gewesen, dem Mitbeteiligten einen aus Art. 8 EMRK resultierenden Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels einzuräumen. Der Mitbeteiligte habe bis dato - aufgrund der ex tunc wirkenden Aufhebung durch den Verwaltungsgerichtshof - noch nie über einen Aufenthaltstitel für Österreich verfügt und sich daher seit Dezember 2017 - bis auf die sichtvermerkfreie Zeit - überwiegend unrechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten. Selbst nach Aufhebung der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes vom 3. November 2017 sei der Mitbeteiligte wieder in das Bundesgebiet eingereist. Anders als in der dem hg. Erkenntnis 2010/21/0460 zugrunde liegenden Konstellation seien vorliegend keine familiären Anknüpfungspunkte ersichtlich.

Die Revision erweist sich im Hinblick darauf als zulässig.

11       Das Verwaltungsgericht hat die Notwendigkeit der Vornahme einer Interessenabwägung nach § 11 Abs. 3 NAG mit dem Vorliegen des Erteilungshindernisses nach § 11 Abs. 1 Z 5 NAG begründet. Im vorliegenden Fall ist daher zunächst zu klären, ob bzw. in welcher Weise eine Überschreitung der Dauer des erlaubten visumfreien oder visumpflichtigen Aufenthalts vorliegt.

12       Der vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegte Sachverhalt lässt sich - soweit für die dargestellte Frage relevant - wie folgt zusammenfassen: Der Mitbeteiligte hat zunächst die Entscheidung über seinen - zulässiger Weise im Inland gestellten - Erstantrag nach fristgerechter Ausreise im Ausland abgewartet. Seitens des Verwaltungsgerichtes wurde ihm der beantragte Aufenthaltstitel erteilt und er ist danach rechtmäßig in das Bundesgebiet eingereist. In der Folge wurde die Entscheidung des Verwaltungsgerichtes betreffend die Titelerteilung vom Verwaltungsgerichtshof (mit dem am 4. September 2018 zugestellten Erkenntnis Ra 2018/22/0008) aufgehoben. Der Mitbeteiligte ist danach im Oktober 2018 ausgereist und Ende November 2018 wieder nach Österreich zurückgekehrt, bevor ihm am 30. Jänner 2019 erneut ein Aufenthaltstitel erteilt wurde.

13       Das Verwaltungsgericht führt zunächst aus, dass der Mitbeteiligte bereits infolge der (ex tunc wirkenden) Aufhebung seines Aufenthaltstitels mit dem hg. Erkenntnis Ra 2018/22/0008 durch den Inlandsaufenthalt seit Ende Dezember 2017 den erlaubten visumfreien Zeitraum überschritten habe. Dazu ist Folgendes festzuhalten:

14       Gemäß § 11 Abs. 1 Z 5 NAG dürfen einem Fremden Aufenthaltstitel nicht erteilt werden, wenn eine Überschreitung der Dauer des erlaubten visumfreien oder visumpflichtigen Aufenthalts im Zusammenhang mit § 21 Abs. 6 NAG vorliegt. § 21 Abs. 6 NAG wiederum bestimmt, dass eine Inlandsantragstellung (ua.) während eines rechtmäßigen Aufenthalts kein über den erlaubten visumfreien oder visumpflichten Aufenthalt hinausgehendes Bleiberecht schafft. Die Erläuterungen (RV 952 BlgNR 22. GP 121) halten zum Zweck des § 11 Abs. 1 Z 5 NAG Folgendes fest:

„In Z 5 sollen jene Fälle erfasst werden, die zwar zur Inlandsantragstellung berechtigt sind, aber dann rechtswidrig länger im Bundesgebiet bleiben, um das Ergebnis des Niederlassungsverfahrens abzuwarten. Diese Fremden sollen nach der rechtmäßigen Inlandsantragstellung ausreisen und dann im Ausland ihr Verfahren abwarten. Es soll so - in Zusammenschau mit § 21 Abs. 4 - verhindert werden, dass Fremde ihren Aufenthalt im Bundesgebiet durch das Stellen eines Antrags nach diesem Bundesgesetz über den Zeitraum, der von der Sichtvermerkspflicht ausgenommen ist, hinaus legalisieren. Das Risiko einer nicht fristgerechten Entscheidung der Behörde soll, insbesondere bei später Antragstellung, beim Fremden liegen.“

15       Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt ausgesprochen, dass der Versagungsgrund des § 11 Abs. 1 Z 5 NAG einerseits einen sichtvermerkfreien Aufenthalt des Antragstellers und andererseits die Überschreitung der Dauer des so erlaubten Aufenthalts voraussetzt. Der Zweck der Bestimmung des § 11 Abs. 1 Z 5 NAG liegt darin, zu verhindern, dass Fremde ihren Aufenthalt im Bundesgebiet durch das Stellen eines Antrags nach dem NAG über den sichtvermerkfreien Zeitraum hinaus ohne Vorliegen eines Aufenthaltstitels ausdehnen (vgl. VwGH 10.12.2019, Ro 2018/22/0015, Rn. 9, mwN).

16       Die Intention des Erteilungshindernisses nach § 11 Abs. 1 Z 5 NAG liegt nach den zitierten Erläuterungen in einer Verhinderung der Legalisierung eines Inlandsaufenthaltes über die erlaubte visumfreie Zeit hinaus durch das Stellen eines Antrags. Der Verwaltungsgerichtshof hat im zitierten Erkenntnis Ro 2018/22/0015 von der Ausdehnung des Aufenthaltes „ohne Vorliegen eines Aufenthaltstitels“ gesprochen. Gegenständlich konnte bzw. musste der Mitbeteiligte jedoch ab Erteilung des Aufenthaltstitels durch das Verwaltungsgericht seinen Aufenthalt über den visumfreien Zeitraum hinaus nicht legalisieren, weil er sich ab diesem Zeitpunkt auf einen gültigen Aufenthaltstitel berufen konnte, selbst wenn dieser nachträglich weggefallen ist. Im Zeitraum zwischen der Erteilung des Aufenthaltstitels und der Erlassung des aufhebenden Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes resultierte die Legalisierung des Aufenthaltes des Mitbeteiligten nicht - was durch den Versagungsgrund des § 11 Abs. 1 Z 5 NAG gerade verhindert werden soll - aus der ihm zuzurechnenden Antragstellung, sondern aus der rechtskräftigen Erteilung eines Aufenthaltstitels. Die ex tunc-Wirkung der Aufhebung dieses Aufenthaltstitels durch den Verwaltungsgerichtshof führt nicht dazu, dass dem Mitbeteiligten nachträglich der Versuch einer Legalisierung seines Aufenthaltes durch die Stellung eines Antrages vorzuwerfen wäre. Die Zeitspanne zwischen der Erteilung des Aufenthaltstitels und der Erlassung des (wenn auch ex tunc wirkenden) aufhebenden Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes ist daher für die Beurteilung der Frage, ob eine Überschreitung des erlaubten visumfreien Aufenthaltes im Sinn des § 11 Abs. 1 Z 5 NAG vorliegt, nicht in Anschlag zu bringen.

17       Diese Sichtweise steht auch mit den Ausführungen im hg. Erkenntnis vom 10. Dezember 2019, Ra 2018/22/0288, in Einklang. Darin hat der Verwaltungsgerichtshof - wenn auch im Zusammenhang mit der Verpflichtung des § 21 Abs. 1 letzter Satz NAG, die Entscheidung über einen Erstantrag im Ausland abzuwarten - zu einer dem Grunde nach vergleichbaren Sachverhaltskonstellation (der im ersten Verfahrensgang erteilte Aufenthaltstitel wurde vom Verwaltungsgerichtshof behoben) Folgendes festgehalten:

„ [...] Zwar kann einem Fremden - ungeachtet der ex tunc-Wirkung des aufhebenden Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes - nicht vorgehalten werden, dass er sich bis zur Aufhebung der den Aufenthaltstitel erteilenden Entscheidung im Inland aufgehalten hat, weil er bis zu diesem Zeitpunkt auf den Bestand des rechtskräftig erteilten Aufenthaltstitels vertrauen durfte. Nach Erlassung des aufhebenden Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes wird infolge des dann wiederum unerledigten Antrages die Verpflichtung zum Abwarten der Entscheidung im Ausland - so die Inlandsantragstellung nicht ausnahmsweise zulässig bzw. der Inlandsaufenthalt aus anderen Gründen rechtmäßig ist - wieder schlagend.“

18       Genauso wenig, wie vor der Aufhebung eines Aufenthaltstitels durch den Verwaltungsgerichtshof eine Verpflichtung besteht, die Entscheidung über einen (bis zur rückwirkenden Aufhebung als erledigt geltenden) Antrag im Ausland abzuwarten, kann aber während dieser Zeitspanne eine Überschreitung des erlaubten visumfreien Aufenthaltes und somit ein das Vorliegen des Erteilungshindernisses nach § 11 Abs. 1 Z 5 NAG begründender Verstoß angenommen werden. § 11 Abs. 1 Z 5 NAG ist daher - entgegen den Ausführungen des Revisionswerbers und der Schlussfolgerungen des Verwaltungsgerichtes - für den Zeitraum ab Erteilung des Aufenthaltstitels bis zur Kenntnis des Mitbeteiligten über dessen Aufhebung - somit bis zur Erlassung des aufhebenden Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes - nicht einschlägig. Erst ab dem Zeitpunkt der Zustellung des Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes, ab dem der Mitbeteiligte wissen musste, dass der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels wieder als unerledigt anzusehen ist und er sich ohne Vorliegen eines Aufenthaltstitels in Österreich aufhält, wird § 11 Abs. 1 Z 5 NAG wieder schlagend.

19       Ausgehend davon ist zu klären, ob hinsichtlich des somit in die Beurteilung einzubeziehenden Zeitraums eine Überschreitung des erlaubten visumfreien Aufenthaltes vorliegt.

20       Diesbezüglich ist zunächst Folgendes vorauszuschicken:

Gemäß Art. 1 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 des Rates vom 15. März 2001 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind, sind die Staatsangehörigen der in der Liste in Anhang II aufgeführten Drittländer (zu denen die Vereinigten Staaten von Amerika zählen) von der Visumpflicht für einen Aufenthalt, der 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen nicht überschreitet, befreit (die gleiche Formulierung findet sich auch in der aktuell geltenden Fassung des Art. 4 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2018/1806). Art. 6 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) enthält eine Auflistung von Einreisevoraussetzungen für Drittstaatsangehörige für einen geplanten Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten von bis zu 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen, wobei der Zeitraum von 180 Tagen, der jedem Tag des Aufenthalts vorangeht, berücksichtigt wird (die gleiche Formulierung fand sich ab dem Inkrafttreten der Verordnung (EU) Nr. 610/2013 mit 19. Juli 2013 auch in der Vorgängerbestimmung des Art. 5 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006). Nach Art. 6 Abs. 2 der Verordnung (EU) 2016/399 wird für die Durchführung von Absatz 1 der Tag der Einreise als der erste Tag des Aufenthalts im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der Tag der Ausreise als der letzte Tag des Aufenthalts im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten angesehen (siehe zu Art. 6 der Verordnung (EU) 2016/399 auch EuGH 5.2.2020, Rs. C-341/18, J. u.a., Rn. 58 f).

Diese Vorschriften für die Berechnung der zulässigen Dauer von Kurzaufenthalten in der Europäischen Union wurden durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 (zur Änderung ua. der Verordnungen (EG) Nr. 562/2006 sowie (EG) Nr. 539/2001) geschaffen. In Erwägungsgrund 9 dieser Verordnung lautet es, dass klare, einfache und einheitliche Regelungen in allen Rechtsakten, in denen diese Frage behandelt wird, für Reisende wie Grenz- und Visumbehörden von Vorteil wären. Es ist daher davon auszugehen, dass das (nunmehr) in Art. 6 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2016/399 zum Ausdruck kommende bewegliche System der Berechnung der zulässigen Aufenthaltsdauer („Zeitraum von 180 Tagen, der jedem Tag des Aufenthalts vorangeht“) auch für die Befreiung von der Visumpflicht und damit den erlaubten visumfreien Aufenthalt maßgeblich ist. Für die Frage, ob ein Drittstaatsangehöriger den visumfreien Aufenthalt überschritten hat, ist daher in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem der Mitbeteiligte zum Zeitpunkt der Erlassung des Erkenntnisses und somit der Erteilung des Aufenthaltstitels noch im Bundesgebiet aufhältig war, ausgehend von diesem Entscheidungszeitpunkt der zurückliegende Zeitraum von 180 Tagen zu betrachten, in dem sich der Fremde bis zu 90 Tage rechtmäßig aufhalten durfte.

21       Zu dieser „Rückwärtsrechnung“ ist fallbezogen Folgendes anzumerken:

Das angefochtene Erkenntnis wurde mit mündlicher Verkündung am 30. Jänner 2019 erlassen. Hinsichtlich des davor liegenden Zeitraums von 180 Tagen ist dem Verwaltungsgericht zwar anzulasten, dass die Feststellungen insofern mangelhaft ausgefallen sind, als von einer Ausreise des Mitbeteiligten aus dem Bundesgebiet „im Oktober 2018“ sowie von einer Rückkehr „Ende November 2018“ die Rede ist (siehe zum Erfordernis entsprechender Feststellungen VwGH 28.5.2019, Ro 2016/22/0016, Pkt. 6.3.). Allerdings lässt sich der im angefochtenen Erkenntnis wiedergegebenen Aussage des Mitbeteiligten in der mündlichen Verhandlung entnehmen, dass dieser Mitte (13. oder 14.) Oktober bis Ende (27. oder 28.) November in den USA gewesen ist. Ausgehend von diesen - vom Revisionswerber nicht bestrittenen und vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegten - Angaben befand sich der Mitbeteiligte im Zeitraum von 180 Tagen vor der Erteilung des Aufenthaltstitels jedenfalls mehr als 90 Tage ohne Vorliegen eines Aufenthaltstitels im Bundesgebiet. Unter Zugrundelegung dieser Daten ist das Verwaltungsgericht somit im Ergebnis zutreffend von einem Überschreiten des erlaubten visumfreien Aufenthaltes und damit vom Vorliegen des Versagungsgrundes des § 11 Abs. 1 Z 5 NAG ausgegangen.

22       Daher ist zu prüfen, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen der Abwägung nach § 11 Abs. 3 NAG zu Recht von einem Überwiegen der persönlichen Interessen des Mitbeteiligten ausgegangen ist. Dem Verwaltungsgericht kann zwar dem Grunde nach nicht entgegengetreten werden, wenn es den konkreten Verfahrensablauf in die Interessenabwägung mit einbezogen und ihm eine wesentliche Bedeutung beigemessen hat. Das Verwaltungsgericht ist auch zutreffend davon ausgegangen, dass der Verstoß gegen die öffentliche Ordnung in einer Konstellation wie der vorliegenden als in seinem Gewicht gemindert angesehen werden konnte, weil der Mitbeteiligte jedenfalls zunächst die Vorgaben des NAG eingehalten hat, in der Folge auf den Bestand des ihm rechtskräftig erteilten Aufenthaltstitels vertrauen durfte und nach Erlassung des aufhebenden Erkenntnisses zumindest vorübergehend ausgereist ist (vgl. zur geringeren Beeinträchtigung öffentlicher Interessen in einer vergleichbaren Konstellation VwGH 10.12.2019, Ra 2018/22/0288, Rn. 20). Dem Mitbeteiligten hätte aber bewusst sein müssen, dass der an die erneute Einreise im November 2018 anschließende Verbleib in Österreich über den erlaubten Zeitraum von 90 Tagen innerhalb von 180 Tagen hinaus rechtswidrig war. Da im vorliegenden Fall seit der ersten Titelerteilung bereits mehr als ein Jahr vergangen war und das Verwaltungsgericht (auch in einem fortgesetzten Verfahren) das Vorliegen sämtlicher Erteilungsvoraussetzungen für den beantragten Aufenthaltstitel zum Entscheidungszeitpunkt prüfen muss (vgl. etwa VwGH 21.2.2017, Ra 2016/22/0080), ist auch nicht ersichtlich, weshalb der Mitbeteiligte eine berechtigte Erwartungshaltung hinsichtlich der Erteilung eines Aufenthaltstitels im fortgesetzten Verfahren haben durfte. Zudem hat der Verwaltungsgerichtshof zum Ausdruck gebracht, dass die Zulässigkeit der Berücksichtigung des konkreten Verfahrensablaufes nichts daran ändert, dass auch alle weiteren in § 11 Abs. 3 NAG genannten Parameter in die Beurteilung einfließen (vgl. erneut Ra 2018/22/0288, Rn. 20). Ausgehend davon unterscheidet sich der vorliegende Fall auch von der dem Erkenntnis 2010/21/0460 zugrunde gelegenen Konstellation, weil dort (anders als hier) familiäre Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet bestanden. Zudem bestand der Aufenthalt des Mitbeteiligten erst seit etwas mehr als einem Jahr.

23       Vor diesem Hintergrund ist das Verwaltungsgericht im Rahmen der Abwägung nach § 11 Abs. 3 NAG unzutreffender Weise von einem Überwiegen der persönlichen Interessen des Mitbeteiligten ausgegangen.

24       Ausgehend davon war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 11. November 2020

Schlagworte

Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Besondere Rechtsgebiete Gemeinschaftsrecht Verordnung EURallg5 Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019220126.L00

Im RIS seit

04.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

04.01.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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