TE Vwgh Erkenntnis 2020/11/19 Ra 2020/21/0264

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Veröffentlicht am 19.11.2020
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AVG §58 Abs2
AVG §60
BFA-VG 2014 §22a Abs3
FrPolG 2005 §76
FrPolG 2005 §76 Abs1
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2
FrPolG 2005 §76 Abs3
FrPolG 2005 §80 Abs1
VwGG §42 Abs2 Z1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Friedwagner, über die Revision des A T E, zuletzt in L, vertreten durch Dr. Gerhard Ebenbichler, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Parkring 2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 20. Mai 2020, W117 2231022-1/7E, betreffend Schubhaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

1        Der 1986 geborene Revisionswerber, ein nigerianischer Staatsangehöriger, kam Ende November 2012 mit einem Visum nach Österreich. Er verfügte durchgehend über Aufenthaltstitel, und zwar zunächst vom 29. November 2012 bis 29. November 2016 als Studierender und nach seiner Heirat mit einer österreichischen Staatsbürgerin ab 30. November 2016 (befristet bis 30. November 2020) als Familienangehöriger. Diese Ehe wurde mittlerweile geschieden.

2        Der Revisionswerber wurde straffällig und deshalb mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 9. August 2018 wegen des als Beitragstäter begangenen Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 12 dritter Fall StGB, § 28a Abs. 1 zweiter und dritter Fall sowie Abs. 4 Z 3 SMG und wegen des Verbrechens der Vorbereitung von Suchtgifthandel nach § 28 Abs.erster, zweiter und dritter Fall sowie Abs. 2 SMG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zweieinhalb Jahren rechtskräftig verurteilt, die er unter Anrechnung der Untersuchungshaft vom 5. März 2018 bis zu seiner bedingten Entlassung am 5. Mai 2020 verbüßte.

3        Im Hinblick auf diese Straftaten erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 4. Oktober 2019 gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung und ein mit sechs Jahren befristetes Einreiseverbot. Des Weiteren stellte das BFA noch fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Nigeria zulässig sei. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom 4. Dezember 2019 als unbegründet ab. Die in der Folge erhobene Revision wies der Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 4. März 2020, Ra 2020/21/0035, mangels Vorliegens der Voraussetzungen nach Art. 133 Abs. 4 B-VG zurück.

4        Mit Bescheid vom 29. April 2020 ordnete das BFA gegen den Revisionswerber gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft zur Sicherung der Abschiebung an, die im Anschluss an die Entlassung aus der Strafhaft ab 5. Mai 2020 vollzogen wurde.

5        Die gegen diesen Bescheid und die darauf gegründete Anhaltung erhobene Beschwerde wies das BVwG mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 20. Mai 2020 gemäß § 22a Abs. 1 Z 3 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z 2 und Abs. 3 Z 1 und 9 FPG ab. Gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z 2 und Abs. 3 Z 1 und 9 FPG stellte das BVwG des Weiteren fest, dass die Voraussetzungen für die Fortsetzung der Schubhaft vorlägen. Demzufolge verpflichtete es den Revisionswerber zum Aufwandersatz an den Bund und wies sein Kostenersatzbegehren ab. Schließlich sprach das BVwG noch gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen hat:

7        Die Revision erweist sich - wie die weiteren Ausführungen zeigen - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG als zulässig und auch als berechtigt.

8        Das BVwG gab im Zuge der Darstellung des Verfahrensgangs (unter anderem) den Inhalt der Beschwerde wörtlich wieder. Unter der Überschrift „Feststellungen“ heißt es dann im angefochtenen Erkenntnis wie folgt (Fettdruck im Original):

„Sämtliche in der Beschwerde unter der Rubrik ‚Sachverhalt (Kurzdarstellung)‘ angeführten Sachverhaltsparameter werden zum Sachverhalt erhoben.“

Da nicht dargelegt wurde, welche Teile in der Beschwerde in dem angeführten Begründungsteil keine „Sachverhaltsparameter“ sind und daher offenbar nicht als festgestellt gelten sollen, führt die gewählte Verweistechnik dazu, dass der Umfang der Feststellungen unbestimmt bleibt. Diese mangelnde Klarheit setzt sich dann in den Ausführungen im Rahmen der Beweiswürdigung fort, wo postuliert wurde, „sämtliche Vorbringensteile des Beschwerdeführers im gegenständlichen Verfahren wurden übernommen, soweit sie nicht im Gegensatz zur vom Verwaltungsgerichtshof [gemeint: im Beschluss vom 4. März 2020, Ra 2020/21/0035] bestätigten Einschätzung des Bundesverwaltungsgerichtshofes [so im Original; gemeint: im Erkenntnis vom 4. Dezember 2019] stehen“. Diesbezüglich führte das BVwG dann „insbesondere“ die - in der Begründung des erwähnten Beschlusses, die im angefochtenen Erkenntnis (auszugsweise) wörtlich wiedergegeben wurde, vorgenommene - „Betonung der ‚nachdrücklichen Manifestierung der Gefährlichkeit‘ durch den Verwaltungsgerichtshof“ ins Treffen.

9        Dieser Begründungsduktus lässt - abgesehen von seiner schweren Nachvollziehbarkeit - jedenfalls erkennen, dass das BVwG seiner Entscheidung nicht das gesamte Vorbringen des Revisionswerbers zugrunde legte, sodass - entgegen der im angefochtenen Erkenntnis geäußerten Meinung - nicht schon deshalb von einem „geklärten Sachverhalt“ im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG hätte ausgegangen und von der in der Beschwerde beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden dürfen. Die schon deshalb bewirkte Verletzung der Verhandlungspflicht wird (unter anderem) auch in der gemäß § 28 Abs. 3 VwGG gesondert vorgetragenen Begründung der Zulässigkeit der Revision zutreffend geltend gemacht.

10       Gemäß der im vorliegenden Fall maßgeblichen zweiten Alternative der Z 2 des § 76 Abs. 2 FPG darf Schubhaft nur angeordnet werden, wenn dies zur Sicherung der Abschiebung notwendig ist, sofern Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist.

11       Das Vorliegen von Fluchtgefahr begründete das BVwG zunächst im Rahmen der Beweiswürdigung wie folgt:

„Hält man also fest, dass

?    vom Beschwerdeführer (auch nach dem VwGH) eine massive Gefährlichkeit ausgeht;

?    [er] zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes aus eigenem nicht in der Lage ist und deswegen die Begehung weiterer strafbarer Handlungen und damit verbunden ein Untertauchen wahrscheinlich ist;

?    der Beschwerdeführer qualifiziert ausreiseunwillig ist, weil [er]

o    die Rückkehrentscheidung/das Einreiseverbot weiter negiert, indem er sich um weitere Integration bemüht;

o    seinen Reisepass nicht vorlegt,

muss zwingend der Schluss gezogen werden, dass er sich nicht freiwillig einer Abschiebung stellen wird. Es war und ist erhebliche Fluchtgefahr anzunehmen.“

Darauf bezog sich dann das BVwG bei der rechtlichen Beurteilung und folgerte daraus:

„Es besteht daher die große Wahrscheinlichkeit, dass sich der Beschwerdeführer vor dem Hintergrund seiner ‚Gefährlichkeit‘ (§ 76 Abs. 3 Z 9 FPG) der alsbald drohenden Abschiebung zu entziehen trachten wird (§ 76 Abs. 3 Z 1 FPG).

12       Gegen die zuletzt wiedergegebene, auf den vorstehenden Annahmen beruhende, zusammenfassende Einschätzung des BVwG wendet sich die Revision im Ergebnis zu Recht, und zwar aus nachstehenden Gründen:

13       Bei der Bezugnahme auf den die Revision zurückweisenden Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 4. März 2020 verkannte das BVwG, dass damit nur begründet wurde, weshalb die vom BVwG bei Erlassung des Einreiseverbotes angestellte Gefährdungsprognose im Sinne des § 53 Abs. 3 FPG für berechtigt erachtet wurde. Damit wurde nicht zum Ausdruck gebracht, der Revisionswerber werde - wie das BVwG im angefochtenen Erkenntnis nun offenbar unterstellte - nach seiner Entlassung aus der Strafhaft in der Zeit bis zum Verlassen des Bundesgebietes sofort wieder straffällig werden. Eine solche Annahme wäre somit vom BVwG eigenständig zu begründen gewesen, zumal sie auch im Widerspruch zum sachverhaltsmäßigen Vorbringen in der Beschwerde (Bereuen der Straftat, tadellose Führung im Strafvollzug, Freigänge und Ausgänge ohne Vorfälle, Bestätigung des Sozialen Dienstes über regelkonformes und sehr positives prosoziales Verhalten gegenüber Insassen und Bediensteten) steht. Diesbezüglich durfte das BVwG somit auch nicht von einem geklärten Sachverhalt ausgehen.

14       Im Übrigen wurde auch die maßgebliche Prämisse für die angenommene neuerliche Delinquenz des Revisionswerbers, er sei zur Bestreitung seines Lebensunterhalts nicht in der Lage, nicht nachvollziehbar begründet. Die diesbezügliche Behauptung des BVwG im Rahmen der Beweiswürdigung, der Revisionswerber habe es unterlassen, in der Beschwerde „auch nur ansatzweise vorzubringen, wer für seinen Lebensunterhalt aufkommt“, ist nämlich aktenwidrig. Vielmehr brachte der Revisionswerber in der Beschwerde vor, er verfüge über ausreichende Barmittel (insgesamt 4.250 €), um seinen Unterhalt bis „zum Tag seiner Abschiebung bzw. Ausreise nach Nigeria“ zu finanzieren.

15       In diesem Zusammenhang wird in der Revision außerdem noch zu Recht darauf verwiesen, dass die Verhinderung von Straftaten keinen zulässigen Schubhaftzweck darstellt (vgl. zur Annahme, aufgrund der Mittellosigkeit des Fremden bestehe die Gefahr, er werde seinen Lebensunterhalt durch die Begehung von Delikten gegen fremdes Vermögen bestreiten, VwGH 20.10.2011, 2008/21/0191, mit dem Hinweis auf VwGH 17.3.2009, 2007/21/0542). Das BVwG stellte zwar - anders als noch das BFA im Schubhaftbescheid - nicht direkt darauf ab, sondern versuchte aus der Gefahr der Begehung von (nicht näher spezifizierten) Straftaten auf ein mögliches Untertauchen, also auf eine Umgehung oder Behinderung der Rückkehr oder Abschiebung im Sinne der Z 1 des § 76 Abs. 3 FPG, zu schließen. Diese bloße Annahme wurde aber ebenfalls nicht nachvollziehbar begründet (vgl. demgegenüber etwa zu einem erleichterten Untertauchen bei Verankerung im Suchtgiftmilieu VwGH 2.10.2012, 2010/21/0094). Nicht nachvollziehbar, zumindest in der vorliegenden verkürzten Form, ist im Übrigen auch die Herstellung eines Bezuges zwischen der angenommenen „Gefährlichkeit“ des Revisionswerbers und dem Fluchtgefahrstatbestand der Z 9 des § 76 Abs. 3 FPG (siehe dazu VwGH 11.5.2017, Ro 2016/21/0021, Rn. 31).

16       Aber auch die Annahme einer qualifizierten Ausreiseunwilligkeit des Revisionswerbers wurde vom BVwG nicht schlüssig begründet. Dass der Revisionswerber die aufenthaltsbeendenden Maßnahmen „weiter negiert“, wurde nämlich aus dem Vorbringen des Revisionswerbers in der zu Ra 2020/21/0035 erhobenen Revision abgeleitet, weil er dort die „Bemühung, sich in Österreich beruflich, sprachlich und sozial zu integrieren“ ins Treffen geführt hatte. Dabei ließ das BVwG aber außer Acht, dass dieses Vorbringen nur der Bekämpfung der vom BVwG im Erkenntnis vom 4. Dezember 2019 in Bezug auf die Rückkehrentscheidung und das Einreiseverbot vorgenommenen Interessenabwägung diente und deshalb keinen Rückschluss auf ein die Verpflichtung zur Ausreise behinderndes Verhalten nach Abschluss des Revisionsverfahrens erlaubte. Soweit das BVwG meinte, auch in der Schubhaftbeschwerde sei ein solches Vorbringen erstattet worden, wurde verkannt, dass Ausführungen zur Integration des Revisionswerbers nur das Vorliegen des vom BFA angenommenen Fluchtgrundes nach der Z 9des § 76 Abs. 3 FPG entkräften sollten. Auch daraus war somit für die Frage einer qualifizierten Ausreiseunwilligkeit nichts zu gewinnen. Im Übrigen stand eine solche Annahme im Widerspruch zum gegenteiligen Vorbringen in der Beschwerde, wonach der Revisionswerber bereit sei, freiwillig nach Nigeria auszureisen, sodass auch insoweit kein geklärter Sachverhalt vorlag (siehe dazu auch noch Rn. 23). Letzteres macht die Revision zutreffend geltend.

17       Das BVwG verwies in diesem Zusammenhang zwar noch darauf, dass der Revisionswerber seinen Reisepass nicht vorgelegt habe, es blieb jedoch eine Begründung dafür schuldig, weshalb dem inhaftierten Revisionswerber diesbezüglich ein solcher Vorwurf zu machen sei, dass deshalb berechtigter Weise auf eine beabsichtigte Behinderung der Außerlandesbringung geschlossen werden könnte. Im Übrigen wurde auch die Annahme des BVwG, „aufgrund der Nichtvorlage des Reisepasses“ habe eine Charterabschiebung am 28. Mai 2020 nicht wie geplant durchgeführt werden können, nicht näher begründet.

18       Zu Recht wird in der Revision noch bemängelt, das BVwG habe die Nichtanwendung gelinderer Mittel ebenfalls nicht (ausreichend) begründet. Der Verwaltungsgerichtshof hat zum Begründungserfordernis der Nichtanwendung gelinderer Mittel im Erkenntnis VwGH 2.8.2013, 2013/21/0008, Punkt 5.3.4. der Entscheidungsgründe, schon klargestellt, je mehr das Erfordernis, die Effektivität der Abschiebung zu sichern, auf der Hand liege, umso weniger bedürfe es einer Begründung für die Nichtanwendung gelinderer Mittel. Das diesbezügliche Begründungserfordernis werde dagegen größer sein, wenn die Anordnung gelinderer Mittel naheliege. Das sei in der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes insbesondere beim Vorliegen von gegen ein Untertauchen sprechenden Umständen, wie familiäre Bindungen oder Krankheit, angenommen worden und werde regelmäßig auch bei Bestehen eines festen Wohnsitzes oder ausreichender beruflicher Bindungen zu unterstellen sein. Mit bestimmten gelinderen Mitteln werde man sich insbesondere dann auseinanderzusetzen haben, wenn deren Anordnung vom Fremden konkret ins Treffen geführt werde.

19       Das war hier der Fall, sodass der bloße Hinweis des BVwG auf das Bestehen von Fluchtgefahr - siehe im Übrigen zu deren Relativierung schon die bisherigen Ausführungen - im vorliegenden Fall nicht genügte. Der Revisionswerber hatte - in dem vom BVwG übernommenen Teil der Beschwerde - nämlich vorgebracht, er könne entweder in seiner Mietwohnung oder bei einem Freund, aber auch bei seiner Lebensgefährtin, einer österreichischen Staatsbürgerin, und ihrer Tochter im Kleinkindalter, Unterkunft nehmen und er verfüge über ausreichende Barmittel (siehe dazu schon oben Rn. 14). Überdies legte das BVwG auch noch das Vorbringen des Revisionswerbers zugrunde, nach der Haftentlassung sei die Gründung eines gemeinsamen Haushalts mit der Lebensgefährtin und ihrem Kind geplant gewesen. Davon ausgehend wären aber - wie schon in der Beschwerde releviert wurde und auch in der Revision geltend gemacht wird - als gelindere Mittel die Anordnung, in vom BFA bestimmten Räumen Unterkunft zu nehmen (§ 77 Abs. 3 Z 1 FPG) in Verbindung mit dem Auftrag, sich in periodischen Abständen bei der Dienststelle einer Landespolizeidirektion zu melden (§ 77 Abs. 3 Z 2 FPG), aber auch die Hinterlegung einer angemessenen finanziellen Sicherheit (§ 77 Abs. 3 Z 3 FPG) in Betracht gekommen, sodass diese Möglichkeiten vom BVwG einer näheren Prüfung hätten unterzogen werden müssen.

20       Schließlich ist aber auch noch zu bemängeln, dass sich das BVwG nicht mit dem Beschwerdeeinwand auseinandersetzte, nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (Hinweis auf VwGH 15.10.2015, Ro 2015/21/0026) ergebe sich aus § 80 Abs. 1 FPG, wonach auf eine möglichst kurze Schubhaftdauer hinzuwirken sei, die Verpflichtung, schon während der Anhaltung in Gerichtshaft Schritte zur Vorbereitung der Abschiebung zu setzen. In dem genannten Erkenntnis legte der Verwaltungsgerichtshof unter Bezugnahme auf seine Vorjudikatur dar, aus § 80 Abs. 1 FPG sei abzuleiten, dass die Behörde (das BFA) schon von vornherein angehalten sei, im Fall der beabsichtigten Abschiebung eines Fremden ihre Vorgangsweise nach Möglichkeit so einzurichten, dass Schubhaft überhaupt unterbleiben könne. Unterlasse sie das, so sei die Schubhaft unverhältnismäßig. Demzufolge erweise sich die Verhängung von Schubhaft zum Zweck der Sicherung der Abschiebung im Anschluss an eine Strafhaft regelmäßig als unverhältnismäßig, wenn die Fremdenpolizeibehörde (das BFA) auch zum absehbaren Ende einer Strafhaft hin mit der (versuchten) Beschaffung eines Heimreisezertifikates untätig bleibe. Das müsse auch auf den Fortsetzungsausspruch durchschlagen. Eine sich aus (auch im vorliegenden Fall nicht naheliegenden) bestimmten Umständen des Einzelfalles ergebende andere Sicht wäre jedenfalls nachvollziehbar zu begründen gewesen. Das hat das BVwG unterlassen.

21       In der Schubhaftbeschwerde wurde auch noch bemängelt, das BFA habe vor der Erlassung des Schubhaftbescheides keine Ermittlungen zur Kooperationsbereitschaft und zur Ausreisewilligkeit des Revisionswerbers sowie zu seiner sozialen Verankerung vorgenommen. Das Ermittlungsverfahren sei daher grob mangelhaft gewesen. Auch mit diesem Einwand befasste sich das BVwG nicht im angefochtenen Erkenntnis.

22       Das BFA hatte dem Revisionswerber mit Schreiben vom 24. Mai 2019 Parteiengehör zur beabsichtigten Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eines Einreiseverbotes eingeräumt und ihm zur Beurteilung der persönlichen Verhältnisse zwanzig Fragen gestellt. Im Anschluss daran war der Hinweis enthalten, die Behörde beabsichtige bei Nichtbefolgung der Ausreiseverpflichtung nach Vorliegen einer durchsetzbaren aufenthaltsbeendenden Maßnahme nach der Haftentlassung des Revisionswerbers Schubhaft zu verhängen, um die Abschiebung nach Nigeria sicherzustellen. Dazu hielt das BFA dann im Schubhaftbescheid vom 29. April 2020 fest, darauf sei der Revisionswerber in seiner (von ihm selbst handschriftlich verfassten) Stellungnahme nicht eingegangen.

23       Abgesehen davon, dass bezweifelt werden muss, dass dieser kursorische Vorhalt fast ein Jahr vor Erlassung des Schubhaftbescheides, der gemäß § 76 Abs. 4 erster Satz FPG wegen der „nicht bloß kurzfristigen“ Anhaltung des Revisionswerbers in Strafhaft zu Recht nicht als Mandatsbescheid erging, einen ordnungsgemäßen Ermittlungsschritt darstellte, ließ das BFA außer Acht, dass der Revisionswerber in der hierauf ergangenen Stellungnahme bei der Beantwortung der Frage 19 („Würden Sie freiwillig in Ihr Heimatland zurückkehren?“) ausdrücklich angab, falls notwendig, würde er gerne freiwillig nach Nigeria zurückkehren. Angesichts dessen hätte aber im Schubhaftbescheid nicht ohne weitere Ermittlungen - naheliegend durch Vernehmung des Revisionswerbers - vom Gegenteil ausgegangen werden dürfen. Dieser Verfahrensmangel wäre vom BVwG im Hinblick auf den in diese Richtung gehenden Einwand in der Beschwerde aufzugreifen und auch deshalb eine Verhandlung durchzuführen gewesen.

24       Das angefochtene Erkenntnis war somit wegen der aufgezeigten, (teilweise) auf einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung beruhenden Ermittlungs- und Begründungsmängel gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

25       Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Das Mehrbegehren auf gesonderten, über den dort genannten Pauschalbetrag für Schriftsatzaufwand hinausgehenden Zuspruch von Umsatzsteuer hat in der genannten Verordnung keine Deckung und war daher abzuweisen (vgl. zuletzt etwa VwGH 27.8.2020, Ra 2020/21/0047, Rn. 13)

Wien, am 19. November 2020

Schlagworte

Begründung von Ermessensentscheidungen Besondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020210264.L00

Im RIS seit

11.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

11.01.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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