Entscheidungsdatum
06.08.2020Norm
Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen §1Spruch
G304 2226809-1/8E
G304 2229862-1/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Beatrix LEHNER als Vorsitzende, sowie den Richter Ing. Mag. Franz SANDRIESSER und die fachkundige Laienrichterin Maria HIERZER als Beisitzer über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Steiermark, vom 02.12.2019, Sozialversicherungsnummer: XXXX , betreffend die Feststellung, dass die Voraussetzungen für die Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung auf Grund einer Behinderung“ nicht vorliegen, zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird gemäß §§ 1 Abs. 2, 40, 41 Abs. 1, 42 und 45 des Bundesbehindertengesetzes (BBG), BGBl. Nr. 283/1990, sowie § 1 Abs. 2 Z 3 der Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen, BGBl. II Nr. 495/2013, in der jeweils geltenden Fassung, stattgegeben.
Die Voraussetzungen für die Eintragung des Zusatzes „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung auf Grund einer Behinderung“ in den Behindertenpass liegen vor.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) brachte am 28.10.2019 beim Sozialministeriumservice, Landesstelle Steiermark (im Folgenden: belangte Behörde), einen Antrag auf Ausstellung eines Ausweises gemäß § 29b Straßenverkehrsordnung 1960 (Parkausweis) samt Beilagen ein, der gemäß Hinweis auf dem Antragsformular auch als Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass galt.
2. Im Rahmen des seitens der belangten Behörde durchgeführten Ermittlungsverfahrens wurde ein medizinisches Sachverständigengutachten von Dr. XXXX , Ärztin für Allgemeinmedizin, vom 12.10.2019 eingeholt.
In diesem Gutachten wurde nach am 01.10.2019 durchgeführter Begutachtung des BF betreffend die beantragte Zusatzeintragung Folgendes ausgeführt:
„Das Gehen ist trotz mäßig- bis mittelgradiger Funktionseinschränkung diverser Gelenke der unteren Extremitäten ausreichend weit möglich. Hilfsmitteln zum Gehen werden derzeit keine benötigt. Die Funktionseinschränkungen sind daher nicht als erheblich einzuschätzen und somit wird die ÖV für zumutbar erklärt.“
3. Mit Schreiben der belangten Behörde vom 04.11.2019 wurde dem BF das zuvor eingeholte Sachverständigengutachten von Oktober 2019 zur Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme vorgehalten.
4. Der BF brachte am 30.11.2019 bei der belangten Behörde einen mit „2. Antrag nach Verschlechterung“ betitelten Antrag auf Ausstellung eines Ausweises gemäß § 29b Straßenverkehrsordnung 1960 (Parkausweis) samt Beilagen ein, der gemäß Hinweis auf dem Antragsformular auch als Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass galt.
5. Mit Bescheid der belangten Behörde vom 02.12.2019 wurde der Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ gem. §§ 42 und 45 des Bundesbehindertengesetzes (BBG), BGBl. 283/1990, idgF, abgewiesen.
Begründend wurde ausgeführt, dass das eingeholte ärztliche Sachverständigengutachten als schlüssig erkannt und in freier Beweiswürdigung der Entscheidung zu Grunde gelegt worden sei. Die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel sei dann unzumutbar, wenn eine kurze Wegstrecke (300 bis 400 Meter) nicht aus eigener Kraft und ohne fremde Hilfe, auch unter der Verwendung der zweckmäßigsten Behelfe, ohne Unterbrechung zurückgelegt werden könne oder wenn die Verwendung des erforderlichen Behelfs die Benützung des öffentliches Transportmittels in hohem Maß erschwere. Die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel sei auch dann nicht zumutbar, wenn sich die dauerhafte Gesundheitsschädigung auf die Möglichkeit des Ein- und Aussteigens und die sichere Beförderung in einem öffentlichen Verkehrsmittel unter Berücksichtigung der beim üblichen Betrieb dieses Verkehrsmittels angegebenen Bedingungen auswirke.
Da das ärztliche Begutachtungsverfahren ergeben habe, dass die Voraussetzungen für die Zusatzeintragung nicht vorliegen, sei der Antrag des BF abzuweisen.
Am Schluss des Bescheides steht folgende „Anmerkung“:
„Da die Voraussetzungen für die Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ nicht vorliegen, kann ein Ausweis gemäß § 29b – StVO (Parkausweis) nicht ausgestellt werden.“
6. Gegen diesen Bescheid wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben. Der Beschwerde beigelegt war ein Arztbrief vom 28.11.2019. In diesem wurde festgehalten, zur Verschraubung des linken Kahnbeines sei eine stationäre Aufnahme des BF im Krankenhaus am 20.01.2020 vorgesehen, und Folgendes angemerkt:
„Vor der Implantation eines künstlichen Hüftgelenkes muss das linke Kahnbein saniert werden, da das Krückengehen sonst nicht möglich ist. Aufgrund der derzeitigen Hüftsymptomatik ist die Benützung eines öffentlichen Verkehrsmittecht aus orthopädischer Sicht derzeit nicht möglich.“
7. Am 19.12.2019 langte die Beschwerde betreffend Zl. G304 2226809-1 samt dazugehörigem Verwaltungsakt beim Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden: BVwG) ein.
8. Mit Schreiben des BVwG vom 04.02.2020, Zl. G304 2226809-1/2Z, wurde Dr. XXXX , Arzt für Allgemeinmedizin, ersucht, ein Sachverständigengutachten auf der Grundlage der Einschätzungsverordnung zu erstellen und dieses „binnen sechs Wochen ab Begutachtung dieser Anordnung“ dem BVwG zu übermitteln.
Mit weiterem Schreiben des BVwG vom 04.02.2020, Zl. G304 2226809-1/2Z, wurde der BF aufgefordert, sich am 02.03.2020, um 15:00 Uhr bei Dr. XXXX zur ärztlichen Begutachtung einzufinden.
9. In dem eingeholten Gutachten von Dr. XXXX vom 02.03.2020 wurde nach am 02.03.2020 durchgeführter Begutachtung des BF betreffend die beantragte Zusatzeintragung folgende Stellungnahme abgegeben:
„Aufgrund der heutigen Untersuchung bestehen deutliche orthopädische Funktionseinschränkungen im Bereich der unteren Extremität mit Bewegungs- und Belastungsminderung als auch im Bereich der Wirbelsäule mit Bewegungs- und Belastungsminderung. Stockhilfe bzw. Krückenhilfe ist für die Mobilität außerhalb des Hauses notwendig. Eine relevante Wegstrecke ist mit Unterbrechung sicherlich umsetzbar, wobei dies nur mit Hilfsmittel möglich erscheint. Das zügige Überwinden von Niveauunterschieden ist nicht vorstellbar, sodass das zügige Einsteigen in ein öffentliches Verkehrsmittel nicht möglich erscheint. Auch ist der sichere Transport in öffentlichem Verkehrsmittel stehender Weise nicht gewährleistet, sitzenderweise jedoch vorstellbar.“
10. Mit Verfügung des BVwG vom 06.03.2020, Zl. G304 2226809-1/4Z, dem BF zugestellt am 17.03.2020, wurde dem BF das eingeholte Sachverständigengutachten vom 02.03.2020 übermittelt und ihm zur Wahrung des Parteiengehörs die Gelegenheit eingeräumt, binnen zwei Wochen ab Zustellung dieser Verfügung schriftlich Stellung dazu zu nehmen.
11. Am 24.03.2020 wurde dem BVwG zur bereits zu Zl. G304 2226809-1 vorgelegten Beschwerde zu Zl. G304 2229862-1 ein „Schriftsatz zum Beschwerdeverfahren“ vorgelegt.
Am 25.03.2020 langte beim BVwG die mit 21.03.2020 datierte schriftliche Stellungnahme des BF ein, in welcher auf für den BF problematische Infrastrukturgegebenheiten bei ihm zuhause und bestimmte Punkte im ihm vorgehaltenen allgemeinmedizinischen Sachverständigengutachten Bezug genommen wurde. Zum Schluss der Stellungnahme wurde jedenfalls angeführt:
„Ich möchte diese Stellungnahme keineswegs als Kritik oder Korrektur am Gutachten verstanden wissen, Hr. Dr. XXXX war sehr entgegenkommend, aufklärend und korrekt.“
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der BF ist im Besitz eines Behindertenpasses.
Die Voraussetzungen für die Zusatzeintragung „Die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung auf Grund einer Behinderung ist nicht zumutbar“ liegen vor.
2. Beweiswürdigung:
2.1. Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem Inhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes und des vorliegenden Gerichtsaktes des BVwG.
2.2. Basierend auf der ständigen Rechtsprechung des VwGH bedarf es in einem Verfahren über einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung" in einen Behindertenpass regelmäßig eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, das die Auswirkungen der Gesundheitsschädigung auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel beurteilt, sofern diese Frage nicht in einem unmittelbar zuvor durchgeführten Verfahren gemäß § 14 Abs. 2 Behinderteneinstellungsgesetz im Rahmen der ärztlichen Begutachtung ausreichend behandelt wurde oder die Unzumutbarkeit aufgrund der Art der Gesundheitsschädigung auf der Hand liegt (VwGH vom 20.03.2001, GZ 2000/11/0321).
Nach der ständigen Judikatur des VwGH muss ein Sachverständigengutachten einen Befund und das eigentliche Gutachten im engeren Sinn enthalten. Der Befund ist die vom Sachverständigen - wenn auch unter Zuhilfenahme wissenschaftlicher Feststellungsmethoden - vorgenommene Tatsachenfeststellung. Die Schlussfolgerungen des Sachverständigen aus dem Befund, zu deren Gewinnung er seine besonderen Fachkenntnisse und Erfahrungen benötigt, bilden das Gutachten im engeren Sinn. Eine sachverständige Äußerung, die sich in der Abgabe eines Urteiles (eines Gutachtens im engeren Sinn) erschöpft, aber weder die Tatsachen, auf die sich dieses Urteil gründet, noch die Art, wie diese Tatsachen ermittelt wurden, erkennen lässt, ist mit einem wesentlichen Mangel behaftet und als Beweismittel unbrauchbar; die Behörde, die eine so geartete Äußerung ihrer Entscheidung zugrunde legt, wird ihrer Pflicht zur Erhebung und Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes (§ 37 AVG) nicht gerecht (VwGH vom 17.02.2004, GZ 2002/06/0151).
Hat eine Partei grundlegende Bedenken gegen ein ärztliches Gutachten, dann ist es nach Ansicht des VwGH an ihr gelegen, auf gleichem fachlichen Niveau diesem entgegenzutreten oder unter Anbietung von tauglichen Beweismitteln darzutun, dass die Aussagen des ärztlichen Sachverständigen mit dem Stand der medizinischen Forschung und Erkenntnis nicht vereinbar sind (VwGH vom 20.10.1978, 1353/78).
Eine Partei kann ein Sachverständigengutachten nur dann erfolgreich bekämpfen, wenn sie unter präziser Darstellung der gegen die Gutachten gerichteten sachlichen Einwände ausdrücklich erklärt, dass sie die Einholung eines weiteren Gutachtens bestimmter Fachrichtung zur vollständigen Ermittlung des Sachverhaltes für erforderlich halte und daher einen Antrag auf Beiziehung eines weiteren Sachverständigen stellt (VwGH vom 23.11.1978, GZ 0705/77).
Der Verwaltungsgerichtshof führte aber in diesem Zusammenhang auch aus, dass keine Verletzung des Parteiengehörs vorliegt, wenn einem Antrag auf Einholung eines zusätzlichen Gutachtens nicht stattgegeben wird (VwGH vom 25.06.1987, 87/06/0017).
Unter dem Blickwinkel der Judikatur der Höchstgerichte, insbesondere der zitierten Entscheidungen, ist das von Amts wegen eingeholte Gutachten des Amtssachverständigen Dr. XXXX , Arzt für Allgemeinmedizin, vom 02.03.2020 schlüssig und nachvollziehbar.
Es wurde auf die Art der Leiden des BF und deren Ausmaß ausführlich eingegangen.
Der Sachverständige gab im Sachverständigengutachten vom 02.03.2020 nach der an demselben Tag durchgeführten Begutachtung des BF folgende Stellungnahme ab:
„Aufgrund der heutigen Untersuchung bestehen deutliche orthopädische Funktionseinschränkungen im Bereich der unteren Extremität mit Bewegungs- und Belastungsminderung als auch im Bereich der Wirbelsäule mit Bewegungs- und Belastungsminderung. Stockhilfe bzw. Krückenhilfe ist für die Mobilität außerhalb des Hauses notwendig. Eine relevante Wegstrecke ist mit Unterbrechung sicherlich umsetzbar, wobei dies nur mit Hilfsmittel möglich erscheint. Das zügige Überwinden von Niveauunterschieden ist nicht vorstellbar, sodass das zügige Einsteigen in ein öffentliches Verkehrsmittel nicht möglich erscheint. Auch ist der sichere Transport in öffentlichem Verkehrsmittel stehender Weise nicht gewährleistet, sitzenderweise jedoch vorstellbar.“
Laut diesem Gutachten ist dem BF die Zurücklegung einer relevanten Wegstrecke nur mit Unterbrechung, somit nicht ununterbrochen, ein zügiges Überwinden von Niveauunterschieden bzw. ein zügiges Einsteigen in öffentliche Verkehrsmittel nicht möglich, und ein sicherer Transport in öffentlichen Verkehrsmitteln nur im Sitzen vorstellbar und im Stehen nicht gewährleistet.
Der BF hat gegen dieses Sachverständigengutachten im Rahmen des Parteiengehörs keine Einwendung erhoben.
Da der BF dem seitens des BVwG eingeholten, ihm zur Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme vorgehaltenen Sachverständigengutachten vom 02.03.2020 nicht substantiiert entgegengetreten ist, wird dieses in freier Beweiswürdigung der Entscheidung zu Grunde gelegt.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Zuständigkeit und anzuwendendes Recht:
Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz – BVwGG) entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.
Gemäß § 45 Abs. 3 BBG hat in Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen.
Bei Senatsentscheidungen in Verfahren gemäß § 45 Abs. 3 BBG hat eine Vertreterin oder ein Vertreter der Interessenvertretung der Menschen mit Behinderung als fachkundige Laienrichterin oder fachkundiger Laienrichter mitzuwirken. Die im § 10 Abs. 1 Z 6 des Bundesbehindertengesetzes genannte Vereinigung entsendet die Vertreterin oder den Vertreter der Interessenvertretung der Menschen mit Behinderung. Hinsichtlich der Aufteilung des Nominierungsrechtes auf gleichartige Vereinigungen ist § 10 Abs. 2 des Bundesbehindertengesetzes anzuwenden. Für die Vertreterin oder den Vertreter ist jeweils auch die erforderliche Anzahl von Ersatzmitgliedern zu entsenden.
Gegenständlich liegt somit Senatszuständigkeit vor.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichts-verfahrensgesetz - VwGVG) geregelt (§ 1 leg.cit.).
Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Gemäß § 27 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben ist, den angefochtenen Bescheid auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.
Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.
3.2. Zu Spruchteil A):
3.2.1. Gemäß § 1 Abs. 2 Z 3 der am 01. Jänner 2014 in Kraft getretenen Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen, BGBl. II Nr. 495/2013 ist auf Antrag des Menschen mit Behinderung jedenfalls einzutragen, die Feststellung, dass dem Inhaber/der Inhaberin des Passes die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung nicht zumutbar ist; die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist insbesondere dann nicht zumutbar, wenn das 36. Lebensmonat vollendet ist und
- erhebliche Einschränkungen der Funktionen der unteren Extremitäten oder
- erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit oder
- erhebliche Einschränkungen psychischer, neurologischer oder intellektueller Fähigkeiten, Funktionen oder
- eine schwere anhaltende Erkrankung des Immunsystems oder
- eine hochgradige Sehbehinderung, Blindheit oder Taubblindheit nach
§ 1 Abs. 2 Z 1 lit. b oder d vorliegen.
3.2.2. Das seitens des erkennenden Gerichtes eingeholte ärztliche Gutachten von Dr. XXXX vom 02.03.2020 wird für schlüssig und nachvollziehbar gehalten. Der BF ist diesem ihm vorgehaltenen Gutachten nicht substantiiert entgegen getreten. Soweit der BF in seiner schriftlichen Stellungnahme von März 2020 auf für ihn zuhause ungünstige Infrastrukturgegebenheiten verwiesen hat, ist darauf hinzuweisen, dass die Infrastruktur bzw. eine bestimmte Entfernung zur nächsten Haltestelle von zuhause nicht entscheidungsrelevant ist. Entscheidend ist nicht die Entfernung bis zur nächsten Haltestelle, sondern, ob eine relevante Wegstrecke von 300 bis 400 Metern aus eigener Kraft und ohne fremde Hilfe, auch unter Verwendung der zweckmäßigsten Behelfe, ohne Unterbrechung zurückgelegt werden kann.
Damit die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel als zumutbar erachtet werden kann, muss neben der möglichen ununterbrochenen Zurücklegung einer relevanten Wegstrecke auch Ein- und Aussteigen und eine sichere Transportmöglichkeit in öffentlichen Verkehrsmitteln gewährleistet sein.
Keine dieser Voraussetzungen bzw. alle der für die beantragte Zusatzeintragung der Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel erforderlichen Voraussetzungen liegen im gegenständlichen Fall vor:
Der Sachverständige gab bezüglich der beantragten Zusatzeintragung folgende schriftliche Stellungnahme ab:
„Aufgrund der heutigen Untersuchung bestehen deutliche orthopädische Funktionseinschränkungen im Bereich der unteren Extremität mit Bewegungs- und Belastungsminderung als auch im Bereich der Wirbelsäule mit Bewegungs- und Belastungsminderung. Stockhilfe bzw. Krückenhilfe ist für die Mobilität außerhalb des Hauses notwendig. Eine relevante Wegstrecke ist mit Unterbrechung sicherlich umsetzbar, wobei dies nur mit Hilfsmittel möglich erscheint. Das zügige Überwinden von Niveauunterschieden ist nicht vorstellbar, sodass das zügige Einsteigen in ein öffentliches Verkehrsmittel nicht möglich erscheint. Auch ist der sichere Transport in öffentlichem Verkehrsmittel stehender Weise nicht gewährleistet, sitzenderweise jedoch vorstellbar.“
Im Sachverständigengutachten vom 02.03.2020 wurde somit aufgrund deutlicher orthopädischer Funktionseinschränkungen keine ununterbrochene Zurücklegung einer relevanten Wegstrecke und keine zügige und damit keine sichere Überwindung von Niveauunterschieden beim Ein- und Aussteigen für möglich gehalten. Ein sicherer Transport in öffentlichen Verkehrsmitteln wurde zudem nur im Sitzen für vorstellbar, im Stehen jedoch nicht für gewährleistet gehalten.
Die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wurde daher insgesamt für nicht möglich und nicht zumutbar gehalten.
Es wird dem allgemeinmedizinischen Sachverständigen vom 02.03.2020 gefolgt und der Beschwerde stattgegeben.
3.2.3. Entfall einer mündlichen Verhandlung:
Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.
Gemäß § 24 Abs. 2 VwGVG kann die Verhandlung entfallen, wenn
1. der das vorangegangene Verwaltungsverfahren einleitende Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt oder die angefochtene Weisung für rechtswidrig zu erklären ist oder
2. die Säumnisbeschwerde zurückzuweisen oder abzuweisen ist.
Gemäß § 24 Abs. 3 VwGVG hat der Beschwerdeführer die Durchführung einer Verhandlung in der Beschwerde oder im Vorlageantrag zu beantragen. Den sonstigen Parteien ist Gelegenheit zu geben, binnen angemessener, zwei Wochen nicht übersteigender Frist einen Antrag auf Durchführung einer Verhandlung zu stellen. Ein Antrag auf Durchführung einer Verhandlung kann nur mit Zustimmung der anderen Parteien zurückgezogen werden.
Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG kann, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010 S. 389 entgegenstehen.
Der EGMR hat in seinen Entscheidungen vom 10. Mai 2007, Nr. 7401/04 (Hofbauer/Österreich Nr. 2), und vom 3. Mai 2007, Nr. 17.912/05 (Bösch/Österreich), unter Hinweis auf seine frühere Rechtsprechung dargelegt, dass der Beschwerdeführer grundsätzlich ein Recht auf eine mündliche Verhandlung vor einem Tribunal hat, außer es lägen außergewöhnliche Umstände vor, die eine Ausnahme davon rechtfertigten. Der EGMR hat das Vorliegen solcher außergewöhnlichen Umstände angenommen, wenn das Verfahren ausschließlich rechtliche oder "hoch-technische" Fragen ("exclusively legal or highly technical questions") betrifft. Der Gerichtshof verwies im Zusammenhang mit Verfahren betreffend ziemlich technische Angelegenheiten ("rather technical nature of disputes") auch auf das Bedürfnis der nationalen Behörden nach zweckmäßiger und wirtschaftlicher Vorgangsweise, das angesichts der sonstigen Umstände des Falles zum Absehen von einer mündlichen Verhandlung berechtige (VwGH 03.10.2013, 2012/06/0221).
In seinem Urteil vom 18. Juli 2013, Nr. 56.422/09 (Schädler-Eberle/Liechtenstein) hat der EGMR in Weiterführung seiner bisherigen Judikatur dargelegt, dass es Verfahren gebe, in denen eine Verhandlung nicht geboten sei, etwa wenn keine Fragen der Beweiswürdigung aufträten oder die Tatsachenfeststellungen nicht bestritten seien, sodass eine Verhandlung nicht notwendig sei und das Gericht auf Grund des schriftlichen Vorbringens und der schriftlichen Unterlagen entscheiden könne (VwGH 03.10.2013, 2012/06/0221).
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt ist vor dem Hintergrund des vorliegenden, für schlüssig und nachvollziehbar gehaltenen Sachverständigengutachtens von Dr. XXXX vom 02.03.2020 geklärt, weshalb von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden konnte.
3.3. Zu Spruchteil B): Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG) hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzlicher Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung.
Weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Die Zulassung der Revision war gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG zudem zu verneinen, weil die gegenständliche Entscheidung im Wesentlichen nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, sondern von Tatsachenfragen. Maßgebend ist das festgestellte Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigungen und dessen Auswirkung auf die Mobilität und damit auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel.
Schlagworte
Behindertenpass Sachverständigengutachten Unzumutbarkeit ZusatzeintragungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:G304.2229862.1.00Im RIS seit
21.12.2020Zuletzt aktualisiert am
21.12.2020