TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/3 W191 2203864-1

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Veröffentlicht am 03.11.2020
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Entscheidungsdatum

03.11.2020

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
BFA-VG §18
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch

W191 2203864-1/27E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX alias XXXX , Staatsangehörigkeit Indien, vertreten durch Rechtsanwältin Mag. Eva Velibeyoglu, LegalFocus, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 31.07.2018, Zahl 1199116603-180667450, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 28.09.2020 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird gemäß §§ 3, 8, 10 und 57 Asylgesetz 2005, §§ 9 und 18 BFA-Verfahrensgesetz sowie §§ 46, 52 und 55 Fremdenpolizeigesetz 2005 sowie als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

1. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein indischer Staatsangehöriger aus dem Bundesstaat Punjab, reiste nach seinen Angaben irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte nach seiner vorläufigen Festnahme am 16.07.2018 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).

1.2. In seiner Erstbefragung am 16.07.2018 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Punjabi im Wesentlichen Folgendes an:

Er sei XXXX geboren, stamme aus XXXX (Distrikt Moga, Bundesstaat Punjab, Indien), sei Angehöriger der Volksgruppe/Kaste der Jat und der Glaubensgemeinschaft der Sikhs und ledig. Er habe zwölf Jahre die Grundschule besucht und sei nicht erwerbstätig gewesen. Seine Eltern seien verstorben.

Zu seinem Reiseweg befragt gab der BF an, er sei am 22.06.2018 mit einem LKW von Punjab nach Mumbai gefahren, dort in ein Schiff gestiegen und in einem unbekannten Land ausgestiegen. Dann sei er in einem LKW – über ihm unbekannte Länder – bis hierher weitergereist. In der Stadt im Park habe ihn ein pakistanischer Zeitungszusteller angesprochen und dann hierher gebracht. Sein Onkel habe die Reise (über einen Schlepper) organisiert.

Als Fluchtgrund gab der BF an, dass es in seinem Dorf viele Drogensüchtige gegeben hätte. Er hätte gemeinsam mit anderen Jugendlichen versucht, sie vom Drogenkonsum abzuhalten. Deshalb seien sie von den Drogensüchtigen mit dem Umbringen bedroht worden. Einen seiner Freunde, XXXX , hätten die Drogensüchtigen am 10.06.2018 umgebracht, deshalb hätte er Indien verlassen.

1.3. Dem Verwaltungsakt liegt auf Seite 37 ein Blatt des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA), Erstaufnahmestelle Ost in Traiskirchen – also im Zulassungsverfahren – mit der Überschrift „Parteiengehör“ ein, laut welchem dem BF das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Indien ausgefolgt und ihm die Möglichkeit eingeräumt wurde, dazu binnen drei Tagen in deutscher Sprache Stellung zu nehmen. Das Blatt enthält zwar eine Unterschrift des BF, aber kein Datum.

Folgend liegt dem Verwaltungsakt das gesamte Länderinformationsblatt zu Indien vom 09.01.2017 (136 Seiten) ein, beinhaltend auch all jene Textstellen, die mit dem gegenständlichen Verfahren in keinem Zusammenhang stehen.

1.4. Der BF wurde offenbar aus der Haft entlassen.

Bei seiner Einvernahme am 25.07.2018 vor dem BFA, Erstaufnahmestelle Ost in Traiskirchen – also offenbar immer noch im Zulassungsverfahren –, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Punjabi, bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisher gemachten Angaben und gab im Wesentlichen Folgendes an: Er könne keinerlei Beweismittel, identitätsbezeugende Dokumente oder medizinische Befunde vorlegen. Er lebe derzeit in der Asylwerberunterkunft in Traiskirchen und sei gesund und arbeitsfähig. Er spreche Punjabi und ein bisschen Englisch, aber nicht Deutsch. In Österreich habe er keine Kontakte. [Mit dem Schlepper] Abgemacht gewesen als Zielland sei eigentlich die USA, wo er studieren hätte wollen.

Die Frage, ob er bei der Erstbefragung alle seine Fluchtgründe genannt habe, bejahte der BF. Auf die Möglichkeit, zu den ihm übergebenen Erkenntnisquellen zu Indien eine mündliche Stellungnahme abzugeben, verzichtete er.

Er wolle hier bleiben, arbeiten und sein Studium (der „Sprache“) finanzieren.

1.5. Dem Verwaltungsakt liegt auf Seite 217 ein Blatt mit der Überschrift „Verfahrensanordnung“ ein, mit dem dem BF „gemäß § 29 Abs. 3 Z 4 AsylG“ mitgeteilt wurde (mit Datum und Unterschrift), dass beabsichtigt sei, seinen Antrag auf internationalen Schutz „zurückzuweisen“, da eine Zuständigkeit des „Dublinstaates Indien“ angenommen werde.

1.6. Am 31.07.2018 führte das BFA – wieder die EAST und somit offenbar weiterhin im Zulassungsverfahren – eine weitere Einvernahme des BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Punjabi und (laut Kopf der Niederschrift) einer „Vertreterin“ des BF – im Fließtext der Niederschrift genannt „RB“, also wohl eine Rechtsberaterin im Zulassungsverfahren – durch.

Darin wurde der BF etwas genauer zu seinem Fluchtgrund befragt, und beantwortete er die ihm gestellten Fragen. Sein getöteter Freund habe XXXX geheißen. Auf die Frage, was damals passiert sei, sagte der BF, er sei nicht dabei gewesen und hätte nur erfahren, dass sein Freund umgebracht worden sei. Er sei einmal auf der Straße geschlagen worden. Er hätte Anzeige bei der Polizei erstattet, die gesagt hätte, sie würde mit den Leuten sprechen, die Leute hätten aber nicht damit [Anmerkung: wohl mit dem Drogenkonsum] aufgehört. Sie hätten Kokain konsumiert. In Indien sei Drogenkonsum illegal und man werde bestraft („eingesperrt“), aber viele Leute würden Drogen nehmen. Er habe sich mit den Drogensüchtigen angelegt, weil sie sie hätten abhalten wollen, andere Leute im Dorf süchtig zu machen. Auf die Frage, ob das nicht Aufgabe der Polizei sei, sagte der BF, die Polizei mache nichts, aber sie hätten ein paar Mal mit der Polizei gesprochen. Auf die Frage, ob er sich Gedanken zu einer „innerstaatlichen Fluchtalternative“ gemacht habe, sagte der BF, sie hätten ihn in Indien gefunden. Auf die Frage, ob er wisse, wie viele Einwohner Indien habe, sagte der BF: „Nein. Ich schätze 4-5 Millionen Einwohner.“

1.7. Mit Bescheid vom 31.07.2018 wies das BFA, EAST Ost, den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 16.07.2018 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Indien nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (in der Folge FPG). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Indien gemäß § 46 FPG zulässig sei. In Spruchpunkt IV. wurde einer Beschwerde gegen diesen Bescheid gemäß § 18 Abs. 1 Z 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt. Gemäß § 55 Abs. 1a FPG bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise des BF.

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Sein Geburtsdatum wurde – aktenwidrig – mit XXXX angeführt. Zu seiner Religion wurde „festgestellt“: „Sie glauben an die Sikh“.

Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Indien. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.

Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Indien. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.

Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse glaubwürdig wäre.

Die Feststellungen zur Situation in Indien wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.

Zu seinem Fluchtvorbringen führte das BFA beweiswürdigend knappest – und teilweise aktenwidrig (die Drogensüchtigen würden „sich“ angeblich umbringen wollen) – aus, dass die Darstellung des BF, dass die Polizei den erwähnten Drogenmissbrauch nicht ahnden würde, unglaubwürdig sei. Streitereien von Privatperson[en] seien kein asylrelevanter Fluchtgrund.

Einer allfälligen Beschwerde gegen diesen abweisenden Bescheid wurde die aufschiebende Wirkung gemäß § 18 Abs. 1 „AsylG“ [richtig: BFA-VG] Z 4 aberkannt, da „der Asylwerber Verfolgungsgründe nicht vorgebracht“ habe.

1.8. Gegen diesen Bescheid brachte der BF fristgerecht mit sehr knappem Schreiben seines gewillkürten Vertreters vom 16.08.2018 das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wegen unrichtigen Feststellungen, „Mangelhaftigkeit des Verfahrens“ und unrichtiger rechtlicher Beurteilung ein.

Das „Bundesasylamt“ habe es verabsäumt, sich mit der konkreten Situation des BF und der aktuellen Situation in Indien auseinanderzusetzen, sodass eine rechtliche Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des BF nicht möglich gewesen sei.

1.9. Das BFA legte die Beschwerde samt Verwaltungsakt dem BVwG vor und beantragte, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen. Die Beschwerde langte am 21.08.2018 beim BVwG ein.

1.10. Mit Beschluss vom 01.10.2018, Zahl W191 2203864-1/5E, behob das BVwG den angefochtenen Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG wegen grober Verfahrensmängel und verwies die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurück.

In der Beschlussbegründung führte das BVwG unter anderem aus:

„[...] Mag auch im Ergebnis der BF wenig Anhaltspunkte für das Vorliegen eines asylrelevanten Verfolgungsgrundes oder von Gründen, die einer Rücküberstellung in seinen Herkunftsstaat entgegenstehen würden, gegeben haben, so ist doch festzuhalten, dass das gegenständliche Verwaltungsverfahren vielfach nur rudimentär und grob mangelhaft geführt worden ist und somit relevante Mängel aufweist:

?        Der Sachverhalt wurde nur sehr mangelhaft ermittelt. So wurde etwa nicht versucht zu klären, wovon der BF im Herkunftsstaat gelebt hätte, wenn doch seine Eltern verstorben seien und er die Schule besucht hätte, aber noch nie erwerbstätig gewesen wäre.

?        Die „Verfahrensanordnung“ auf Seite 217 des Verwaltungsaktes – ohne Datum – wonach dem BF „gemäß § 29 Abs. 3 Z 4 AsylG“ mitgeteilt worden sei, dass beabsichtigt sei, seinen Antrag auf internationalen Schutz „zurückzuweisen“, da eine Zuständigkeit des „Dublinstaates Indien“ angenommen werde, basiert offenbar auf einem groben Irrtum hinsichtlich der Mitgliedstaaten des Dublin-Übereinkommens.

?        Die Aktenführung ist auffällig mangelhaft: Der Akt enthält umfangreich überflüssige Bestandteile – etwa das gesamte Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Indien (mit weit über 100 Seiten), samt allen auch im gegenständlichen Verfahren nicht relevanten Textstellen –, was die leichte Nachvollziehbarkeit des Verfahrens erschwert. Umgekehrt sind dem Akt wichtige Informationen nicht zu entnehmen, etwa ob und wann der BF aus der vorläufigen Haft entlassen worden ist, ob der zweiten Einvernahme vor dem BFA wirklich ein „Vertreter“ (Kopf der Niederschrift) oder ein „RB“ (laut Text der Niederschrift) – wohl ein Rechtsberater im Zulassungsverfahren? – beigewohnt hat. Weiters enthält der Akt eine Vielzahl an Fehlern (von sprachlichen, grammatikalischen und Schreibfehlern noch abgesehen); so wird in der Bescheidbegründung bezüglich der Aberkennung der aufschiebenden Wirkung § 18 „AsylG“ statt richtig BFA-VG angeführt. Und überdies enthält der Akt manche sinnentleerte Aussagen, wie etwa in der Bescheidbegründung die Feststellung: „Sie glauben an die Sikh“.

?        Bezüglich der dem BF eingeräumten Möglichkeit, zu dem ihm ausgefolgten Länderinformationsblatt binnen drei Tagen in deutscher Sprache eine Stellungnahme abzugeben, erscheint diese Frist im Hinblick auf die mangelnden Sprachkenntnisse des BF nicht als angemessen.

?        Die Beweiswürdigung im angefochtenen Bescheid ist äußerst knapp und hält nicht hinreichend fest, aus welchem Grund das BFA nun welchen Sachverhalt als glaubhaft gemacht erachtet. Dies zeigt sich auch in der Wahl des Grundes für die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde, wo das BFA den Grund des § 18 Abs. 1 Z 4 BFA-VG – der Asylwerber hätte Verfolgungsgründe nicht vorgebracht – und nicht den wohl zutreffenderen Grund der Z 5 – wonach das Vorbringen des Asylwerbers zu seiner Bedrohungssituation offensichtlich nicht den Tatsachen entspreche – seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat.

?        Das gesamte Verfahren vor dem BFA wurde vor der EAST Ost in Traiskirchen geführt, auch den – abweisenden – Bescheid hat diese Organisationseinheit erlassen. Wenn dies auch nicht grundsätzlich Rechtswidrigkeit indiziert, so ist dem Akt doch in keiner Weise zu entnehmen, wann das Verfahren des BF für zulässig erklärt worden wäre und daher – von einer auch organisationsintern zuständigen Einrichtung – eine inhaltliche Entscheidung über den Antrag des BF getroffen wurde.

?        Wenn auch das BVwG von einer Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung abgesehen hat, weil im Falle einer Rücküberstellung des BF auch auf der Basis eines derart fehlerhaften Verfahrens und Bescheides eine Verletzung der maßgeblichen Menschenrechte noch nicht zu befürchten war, so ist doch der Umstand, dass das BFA im Bescheid – erstmals und aktenwidrig – das vom BF angegebene Geburtsdatum aktenwidrig verändert hat (statt XXXX ) nicht zu tolerieren, zumal damit nicht einmal mehr Verfahrensidentität gegeben ist.

2.2.4. Zusammengefasst ist festzustellen, dass das BFA in Bezug auf die Ermittlung der Sachlage bezüglich der Frage des Vorliegens asylrelevanter Verfolgung als auch bezüglich der Frage des Refoulementschutzes bei weitem nicht mit der gebotenen Genauigkeit und Sorgfalt vorgegangen ist und die Sachlage nicht ausreichend erhoben bzw. sich (in der Bescheidbegründung) nur mangelhaft mit den Angaben des BF und den Beweisergebnissen auseinandergesetzt hat. [...]“

1.11. Mit Erkenntnis vom 30.04.2019, Ra 2018/14/0281, behob der Verwaltungsgerichtshof (in der Folge VwGH) – der Amtsrevision des BFA folgend – diesen Beschluss und begründete dies unter anderem wie folgt (Auszüge aus dem Erkenntnis):

„[...] 11 Wie die Amtsrevision zutreffend ausführt, ist im gegenständlichen Fall § 21 Abs. 3 BFA-VG anzuwenden. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erließ - offenkundig irrtümlich - eine Verfahrensanordnung, in der dem Mitbeteiligten die beabsichtigte Zurückweisung seines Antrages auf internationalen Schutz gemäß § 29 Abs. 3 Z 4 AsylG 2005 mitgeteilt wurde. Ungeachtet dessen ist aber eine später erfolgte Zulassung des Verfahrens dem Verfahrensakt, insbesondere auch den im Akt erliegenden Speicherauszügen aus von der Behörde EDV-unterstützt geführten Datenbanken, nicht zu entnehmen.

12 Nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz AsylG 2005 gilt ein Antrag auf internationalen Schutz als zugelassen, wenn dieser Antrag im Zulassungsverfahren abgewiesen wird und einer dagegen erhobenen Beschwerde aufschiebende Wirkung zukommt. Letzteres ist von Gesetzes wegen grundsätzlich der Fall. Wird die aufschiebende Wirkung nicht im Einzelfall aberkannt, so ist von einer Zulassung des von diesem Fremden gestellten Antrags auf internationalen Schutz auszugehen (vgl. VwGH 24.1.2013, 2011/21/0126).

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erließ im gegenständlichen Fall, in dem zuvor eine Zulassung des Asylverfahrens nicht erfolgt war, einen abweisenden Bescheid und erkannte in einem einer Beschwerde des Mitbeteiligten die aufschiebende Wirkung ab. Folglich trat eine Zulassung des Verfahrens auch nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz AsylG 2005 nicht ein.

13 [...] Ist hingegen davon auszugehen, dass das Bundesverwaltungsgericht die Ermittlungsmängel rasch und ohne größeren Aufwand selbst beseitigen kann, hat es von einer Beschwerdestattgebung nach § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG Abstand zu nehmen und die Ergänzung des Ermittlungsverfahrens (samt der Feststellung allfällig fehlenden Sachverhaltes) selbst vorzunehmen (vgl. dazu grundlegend VwGH 30.06.2016, Ra 2016/19/0072).

14 Indem das Bundesverwaltungsgericht seine zurückverweisende Entscheidung in dem noch nicht zugelassenen Beschwerdeverfahren auf § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG stützte, hat es demnach die Rechtslage verkannt.

15 Darüber hinaus hätte die Begründung des Bundesverwaltungsgerichts - wie die Amtsrevision zutreffend ausführt - aber auch eine auf § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG gestützte Zurückverweisung nicht zu tragen vermocht.

[...]

17 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gelangte vor dem Hintergrund der von ihm eingeholten Länderberichte und der Durchführung mehrerer Einvernahmen aus den in der - wenn auch knappen - Beweiswürdigung der Behörde im Einzelnen dargelegten Gründen zu dem Schluss, dass dem Mitbeteiligten keine asylrelevante Verfolgung drohe.

18 Auch wenn dem Bundesverwaltungsgericht zuzugestehen ist, dass im Verwaltungsverfahren manch überflüssige Schritte gesetzt und Fehler unterlaufen sind, kann ihm darin nicht gefolgt werden, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl das Verwaltungsverfahren nur rudimentär und grob mangelhaft geführt hätte. Es kann nämlich nicht davon gesprochen werden, dass die Verwaltungsbehörde den Sachverhalt im vorliegenden Fall bloß ansatzweise ermittelt hätte.

19 Wenn das Bundesverwaltungsgericht vermeint, dass sich Erhebungen durch das Bundesverwaltungsgericht selbst unter Effizienzgesichtspunkten verbieten, da diese grundsätzlich vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl durchzuführen seien, so hat das Bundesverwaltungsgericht damit - offenbar in Verkennung der Voraussetzungen des § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG - nicht dargelegt, weshalb es behauptete Mängel nicht im Sinn des oben Gesagten in der für das Zulassungsverfahren gebotenen Eile hätte beseitigen können. Ausgehend von den dem angefochtenen Beschluss zugrundeliegenden Ermittlungsergebnissen wäre das Bundesverwaltungsgericht in der Lage und auch verpflichtet gewesen, den Mitbeteiligten selbst im Rahmen einer mündlichen Verhandlung zu den im Erkenntnis als ergänzungsbedürftig angesehenen Punkten einzuvernehmen. [...]“

1.12. Mit Aktenvermerk vom 29.05.2019, W191 2203864-1/14Z, hielt das BVwG fest, dass der Beschwerde gegen den verfahrensgegenständlichen Bescheid die aufschiebende Wirkung nicht zuzuerkennen sei.

Es sei aus ho. derzeitiger Sicht (auf Basis der aktuell vorliegenden Aktenlage) nicht anzunehmen, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des BF nach Indien eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2, 3 oder 8 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Ein diesbezügliches Vorbringen sei – nach dem Ergebnis einer Grobprüfung – nicht glaubhaft erstattet worden.

1.13. Das BVwG beraumte – dem Auftrag des VwGH folgend – für 02.09.2019 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung an.

Der Vertreter des BF teilte am 30.08.2019 per E-Mail mit, dass der BF das österreichische Bundesgebiet freiwillig verlassen habe. Der BF werde zu der für 02.09.2019 anberaumten Verhandlung nicht erscheinen.

Das BVwG beraumte daher die Beschwerdeverhandlung wieder ab.

1.14. Mit verfahrensleitendem Beschluss vom 11.09.2019, W191 2203864-1/19E, stellte das BVwG das Verfahren gemäß § 24 AsylG ein, da der BF laut Meldeauskunft vom 11.09.2019 von der letzten bekannten Adresse abgemeldet war, keine aktuelle Meldung vorlag und auch durch Einsicht in das Betreuungsinformationssystem der Grundversorgung der derzeitige Aufenthaltsort des BF nicht ermittelt werden konnte und zur Feststellung des maßgebenden Sachverhaltes die persönliche Mitwirkung des BF erforderlich war.

1.15. Der Vertreter des BF übermittelt mit Eingabe vom 03.01.2020 einen Auszug aus dem Melderegister, wonach der BF ab 30.12.2019 wieder an einer Adresse in 1150 Wien gemeldet war.

1.16. Mit Beschluss des BVwG vom 24.01.2020, W191 2203864-1/22Z, wurde das Beschwerdeverfahren gemäß § 24 Abs. 2 2. Satz AsylG fortgesetzt.

1.17. Das BVwG führte am 28.09.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Punjabi durch, zu der der BF in Begleitung seines gewillkürten Vertreters persönlich erschien. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung ohne Angabe von Gründen fern.

Dabei wies sich der BF mit einem österreichischen Führerschein AM aus, auf dem sein Geburtsdatum mit XXXX vermerkt war. Bei der Führerscheinantragstellung habe er sich mit seiner Grünen Karte ausgewiesen, auf der stehe ebenfalls XXXX , und auch auf seinem Meldezettel stehe XXXX , da habe er sich ebenfalls mit der Grünen Karte ausgewiesen. Seine indischen Identitätsdokumente seine alle in Indien geblieben.

Er sei gesund und gehöre der Kaste der Jat und der Volksgruppe der Punjabi an, bekenne sich zur Glaubensgemeinschaft der Sikhs und sei ledig und kinderlos.

Auszug aus der Verhandlungsschrift:

„[...] RI [Richter]: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?

BF: Ich habe zwölf Jahre die Schule besucht und abgeschlossen, dann war ich zuhause in der familieneigenen Landwirtschaft tätig.

RI: Wann ist Ihr Vater gestorben?

BF: 2007.

RI: Wem hat dann das Grundstück gehört?

BF: Wir haben dieses Grundstück verpachtet, und ich habe dem Pächter geholfen.

RI: Wann ist Ihre Mutter gestorben?

BF: Zwei Jahre nach dem Vater.

RI: Gehört Ihr Grundstück immer noch Ihnen?

BF: Nein, ich habe Geld gebraucht, um Indien verlassen zu können, und habe das Grundstück verkauft. [...]“

Zu seinem Fluchtvorbringen befragt gab der BF an, er habe alles gesagt, es stimme und er habe nichts hizuzufügen, und legte keine Bescheinigungsmittel für sein Vorbringen vor. Er könne auch nicht in eine andere Stadt im Punjab gehen, „diese Leute“ [Anmerkung: die Drogenverkäufer in seinem Heimatort] würden ihn auch dort finden.

Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).

Der BF gab dazu an, er wolle weiter hierbleiben, er wolle studieren und arbeiten. Das System hier funktioniere optimal im Vergleich zu Indien. Auf die Frage, was er studiere, sagte der BF: „Zuerst möchte ich die Sprache und die Kultur lernen und dann entscheiden, wie es weitergeht.“

Das BFA beantragte schriftlich die Abweisung der gegenständlichen Beschwerde. Ihm wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt.

2. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

?        Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 16.07.2018 und der Einvernahmen vor dem BFA am 25.07.2018 und 31.07.2018 und die Beschwerde vom 16.08.2018

?        Einsicht in den Verfahrensakt des BVwG, beinhaltend die Beschlüsse des BVwG betreffend Zurückverweisung, Einstellung und Fortsetzung des Verfahrens und das Erkenntnis des VwGH vom 30.04.2019

?        Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 28.09.2020

?        Einsichtnahme in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:

o        Feststellungen und Berichte zur allgemeinen Lage in Indien sowie im Bundesstaat Punjab (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 30.03.2020, zuletzt aktualisiert am 22.07.2020)

3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):

Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:

3.1. Zur Person des BF:

3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX alias XXXX , ist Staatsangehöriger von Indien, Angehöriger der Volksgruppe der Punjabi und der Kaste der Jat und bekennt sich zur Glaubensgemeinschaft der Sikhs. Die Muttersprache des BF ist Punjabi, er spricht auch Hindi, ist ledig und hat keine Kinder.

Der BF stammt nach seinen Angaben aus XXXX , Distrikt MOGA, Provinz Punjab, Indien, wo er zwölf Jahre die Schule besuchte und bis zu seiner Ausreise wohnte. Seine Eltern seien verstorben. Ein Onkel habe seine schlepperorganisierte Reise finanziert.

3.1.2. Der BF verließ im Jahr 2018 aus angegebenen Gründen seinen Herkunftsstaat und reiste schlepperunterstützt bis nach Österreich, wo er am 16.07.2018 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

3.1.3. Der BF ist jung und im erwerbsfähigen Alter. Er hat einen großen Teil seines Lebens in Indien verbracht und ist mit den kulturellen Traditionen und Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut.

3.1.4. Der BF ist strafgerichtlich unbescholten.

3.1.5. Der BF besuchte keine Deutschkurse. Er hilft nach seinen Angaben einem Freund bei dessen Arbeit, Zeitungen auszutragen. Er wohne gemeinsam mit zwei Freunden.

3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

3.2.1. Der BF wurde nach eigenen Angaben in seinem Herkunftsstaat niemals inhaftiert, ist nicht vorbestraft und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder auf Grund seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst Probleme. Der BF war nicht politisch tätig und gehörte keiner politischen Partei an.

3.2.2. Der BF hat mit seinem Vorbringen, dass es in seinem Dorf viele Drogensüchtige gegeben hätte und er hätte gemeinsam mit anderen Jugendlichen versucht, sie vom Drogenkonsum abzuhalten, weshalb sie von den Drogensüchtigen mit dem Umbringen bedroht worden seien, keine begründete Furcht vor Verfolgung aus asylrelevanten Gründen glaubhaft gemacht.

3.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:

3.3.1. Der BF hat nicht glaubhaft gemacht, dass ihm bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde oder er Gefahr liefe, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Der BF ist jung, im erwerbsfähigen Alter und männlich. Es ist daher anzunehmen, dass der BF im Herkunftsstaat in der Lage sein wird, sich notfalls mit Hilfstätigkeiten ein ausreichendes Auskommen zu sichern und daher nicht in eine hoffnungslose Lage zu kommen, zumal er über zwölf Jahre Schulbildung und Verwandte – etwa seinen Onkel, der ihm die Reise organisiert hat – verfügt.

Der BF kann in seinen Heimatort zurückkehren. Darüberhinaus wäre ihm die Aufenthaltnahme in einer der Großstädte in Indien möglich, zumal ihm etwa in Sikhtempeln jederzeit Unterkunft und Kost zuteil würde.

3.3.2. Die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie bildet kein Rückkehrhindernis. Der BF ist gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr nach Indien eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

Auf die konkrete aktuelle Lage wird bei der Umsetzung der Rückkehrpflicht Bedacht zu nehmen sein.

3.4. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:

Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA vom 30.03.2020, zuletzt aktualisiert am 22.07.2020, Schreibfehler teilweise korrigiert):

1. Politische Lage

Indien ist mit über 1,3 Milliarden Menschen und einer multireligiösen und multiethnischen Gesellschaft die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt (CIA Factbook 28.02.2020; vgl. AA 19.07.2019). Im Einklang mit der Verfassung haben die Bundesstaaten und Unionsterritorien ein hohes Maß an Autonomie und tragen die Hauptverantwortung für Recht und Ordnung (USDOS 3.2020). Die Hauptstadt New Delhi hat einen besonderen Rechtsstatus (AA 2.2020a).

Der Grundsatz der Gewaltenteilung von Legislative, Exekutive und Judikative ist nach britischem Muster durchgesetzt (AA 2.2020a; vgl. AA 19.07.2019). Die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit ist verfassungsmäßig garantiert, der Instanzenzug ist dreistufig (AA 19.07.2019). Das Oberste Gericht (Supreme Court) in New Delhi steht an der Spitze der Judikative und wird gefolgt von den High Courts auf Länderebene (GIZ 11.2019a). Die Pressefreiheit ist von der Verfassung verbürgt, jedoch immer wieder Anfechtungen ausgesetzt (AA 2.2020a). Indien hat eine lebendige Zivilgesellschaft (AA 2.2020a).

Indien ist eine parlamentarische Demokratie und verfügt über ein Mehrparteiensystem und ein Zweikammerparlament (USDOS 11.03.2020). Darüber hinaus gibt es Parlamente auf Bundesstaatsebene (AA 19.07.2019).

Der Präsident ist das Staatsoberhaupt und wird von einem Wahlausschuss gewählt, während der Premierminister der Regierungschef ist (USDOS 11.03.2020). Der Präsident nimmt weitgehend repräsentative Aufgaben wahr. Die politische Macht liegt hingegen beim Premierminister und seiner Regierung, die dem Parlament verantwortlich ist. Präsident ist seit 25.07.2017 Ram Nath Kovind, der der Kaste der Dalits (Unberührbaren) entstammt (GIZ 11.2019a).

Im April/Mai 2019 wählten etwa 900 Millionen Wahlberechtigte ein neues Unterhaus. Im System des einfachen Mehrheitswahlrechts konnte die Bharatiya Janata Party (BJP) unter der Führung des amtierenden Premierministers Narendra Modi ihr Wahlergebnis von 2014 nochmals verbessern (AA 19.07.2019).

Als deutlicher Sieger mit 352 von 542 Sitzen stellt das Parteienbündnis „National Democratic Alliance" mit der BJP als stärkster Partei (303 Sitze) erneut die Regierung. Der BJP-Spitzenkandidat und amtierende Premierminister Narendra Modi wurde im Amt bestätigt. Die United Progressive Alliance rund um die Congress Party (52 Sitze) erhielt insgesamt 92 Sitze (AA 19.07.2019). Die Wahlen verliefen, abgesehen von vereinzelten gewalttätigen Zusammenstößen v.a. im Bundesstaat Westbengal, korrekt und frei. Im Wahlbezirk Vellore (East) im Bundesstaat Tamil Nadu wurden die Wahlen wegen des dringenden Verdachts des Stimmenkaufs ausgesetzt und werden zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt (AA 19.07.2019). Mit der BJP-Regierung unter Narendra Modi haben die hindu-nationalistischen Töne deutlich zugenommen. Die zahlreichen hindu-nationalen Organisationen, allen voran das Freiwilligenkorps RSS, fühlen sich nun gestärkt und versuchen verstärkt, die Innenpolitik aktiv in ihrem Sinn zu bestimmen (GIZ 11.2019a). Mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts treibt die regierende BJP ihre hindu-nationalistische Agenda weiter voran. Die Reform wurde notwendig, um die Defizite des Bürgerregisters des Bundesstaats Assam zu beheben und den Weg für ein landesweites Staatsbürgerregister zu ebnen. Kritiker werfen der Regierung vor, dass die Vorhaben vor allem Muslime und Musliminnen diskriminieren, einer großen Zahl von Personen den Anspruch auf die Staatsbürgerschaft entziehen könnten und Grundwerte der Verfassung untergraben (SWP 02.01.2020; vgl. TG 26.02.2020). Kritiker der Regierung machten die aufwiegelnde Rhetorik und die Minderheitenpolitik der regierenden Hindunationalisten, den Innenminister und die Bharatiya Janata Party (BJP) für die Gewalt verantwortlich, bei welcher Ende Februar 2020 mehr als 30 Personen getötet wurden. Hunderte wurden verletzt (FAZ 26.02.2020; vgl. DW 27.02.2020).

Bei der Wahl zum Regionalparlament der Hauptstadtregion Neu Delhi musste die Partei des Regierungschefs Narendra Modi gegenüber der regierenden Antikorruptionspartei Aam Aadmi (AAP) eine schwere Niederlage einstecken. Diese gewann die Regionalwahl erneut mit 62 von 70 Wahlbezirken. Die AAP unter Führung von Arvind Kejriwal punktete bei den Wählern mit Themen wie Subventionen für Wasser und Strom, Verbesserung der Infrastruktur für medizinische Dienstleistungen sowie die Sicherheit von Frauen, während die BJP für das umstrittene Staatsbürgerschaftsgesetz warb (KBS 12.02.2020). Modis Partei hat in den vergangenen zwei Jahren bereits bei verschiedenen Regionalwahlen in den Bundesstaaten Maharashtra und Jharkhand heftige Rückschläge hinnehmen müssen (quanatra.de 14.02.2020; vgl. KBS 12.02.2020).

Unter Premierminister Modi betreibt Indien eine aktivere Außenpolitik als zuvor. Die frühere Strategie der „strategischen Autonomie“ wird zunehmend durch eine Politik „multipler Partnerschaften“ mit allen wichtigen Ländern in der Welt überlagert. Wichtigstes Ziel der indischen Außenpolitik ist die Schaffung eines friedlichen und stabilen globalen Umfelds für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes und als aufstrebende Großmacht die zunehmende verantwortliche Mitgestaltung regelbasierter internationaler Ordnung (BICC 12.2019). Ein ständiger Sitz im UN-Sicherheitsrat ist dabei weiterhin ein strategisches Ziel (GIZ 11.2019a). Gleichzeitig strebt Indien eine stärkere regionale Verflechtung mit seinen Nachbarn an, wobei nicht zuletzt Alternativkonzepte zur einseitig sino-zentrisch konzipierten „Neuen Seidenstraße“ eine wichtige Rolle spielen. In der Region Südasien setzt Indien zudem zunehmend auf die Regionalorganisation BIMSTEC (Bay of Bengal Initiative for Multi-Sectoral Technical and Economic Cooperation). Indien ist Dialogpartner der südostasiatischen Staatengemeinschaft und Mitglied im „Regional Forum“ (ARF). Überdies nimmt Indien am East Asia Summit und seit 2007 auch am Asia-Europe Meeting (ASEM) teil. Die Shanghai Cooperation Organisation (SCO) hat Indien und Pakistan 2017 als Vollmitglieder aufgenommen. Der Gestaltungswille der BRICS-Staatengruppe (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) schien zuletzt abzunehmen (BICC 12.2019).

Die Beziehungen zu Bangladesch sind von besonderer Natur, teilen die beiden Staaten doch eine über 4.000 km lange Grenze. Indien kontrolliert die Oberläufe der wichtigsten Flüsse Bangladeschs und war historisch maßgeblich an der Entstehung Bangladeschs während seines Unabhängigkeitskrieges beteiligt. Schwierige Fragen wie Transit, Grenzverlauf, ungeregelter Grenzübertritt und Migration, Wasserverteilung und Schmuggel werden in regelmäßigen Regierungsgesprächen erörtert. Die Beziehungen des Landes zur EU sind vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht von besonderer Bedeutung. Die EU ist der größte Handels- und Investitionspartner Indiens. Der Warenhandel in beide Richtungen hat sich faktisch stetig ausgeweitet (GIZ 11.2019a).

2. Sicherheitslage

Es gibt in Indien eine Vielzahl von Spannungen und Konflikten. Gewalt ist an der Tagesordnung (GIZ 11.2019a). Terroristische Anschläge in den vergangenen Jahren (Dezember 2010 in Varanasi, Juli 2011 in Mumbai, September 2011 in New Delhi und Agra, April 2013 in Bangalore. Mai 2014 in Chennai und Dezember 2014 in Bangalore) und insbesondere die Anschläge in Mumbai im November 2008 haben die Regierung unter Druck gesetzt. Von den Anschlägen der letzten Jahre wurden nur wenige restlos aufgeklärt, und die als Reaktion auf diese Vorfälle angekündigten Reformvorhaben zur Verbesserung der indischen Sicherheitsarchitektur wurden nicht konsequent umgesetzt (AA 24.04.2015). Aber auch im Rest des Landes gab es in den letzten Jahren Terroranschläge mit islamistischem Hintergrund. Im März 2017 platzierte eine Zelle des „Islamischen Staates“ (IS) in der Hauptstadt des Bundesstaates Madhya Pradesh eine Bombe in einem Passagierzug. Die Terrorzelle soll laut Polizeiangaben auch einen Anschlag auf eine Kundgebung von Premierminister Modi geplant haben (BPB 12.12.2017). Das Land unterstützt die US-amerikanischen Maßnahmen gegen den internationalen Terrorismus. Intern wurde eine drakonische neue Anti-Terror-Gesetzgebung verabschiedet, die „Prevention of Terrorism Ordinance“ (POTO), von der Menschenrechtsgruppen fürchten, dass sie auch gegen legitime politische Gegner missbraucht werden könnte (BICC 12.2020).

Die Spannungen im Nordosten des Landes gehen genauso weiter wie die Auseinandersetzung mit den Naxaliten (maoistische Untergrundkämpfer, Anm.) (GIZ 11.2019a), die das staatliche Gewaltmonopol gebietsweise in Frage stellen (AA 19.07.2019).

Konfliktregionen sind Jammu und Kashmir, die nordöstlichen Regionen und der maoistische Gürtel. In Jharkhand und Bihar setzten sich die Angriffe von maoistischen Rebellen auf Sicherheitskräfte und Infrastruktur fort. In Punjab kam es bis zuletzt durch gewaltbereite Regierungsgegner immer wieder zu Morden und Bombenanschlägen. Neben den islamistischen Terroristen tragen die Naxaliten zur Destabilisierung des Landes bei. Von Chattisgarh aus kämpfen sie in vielen Unionsstaaten (von Bihar im Norden bis Andrah Pradesh im Süden) mit Waffengewalt gegen staatliche Einrichtungen. Im Nordosten des Landes führen zahlreiche Separatistengruppen (United Liberation Front Assom, National Liberation Front Tripura, National Socialist Council Nagaland, Manipur People’s Liberation Front etc.) einen Kampf gegen die Staatsgewalt und fordern entweder Unabhängigkeit oder mehr Autonomie. Der gegen Minderheiten wie Moslems und Christen gerichtete Hindu-Radikalismus wird selten von offizieller Seite in die Kategorie Terror eingestuft, sondern vielmehr als „communal violence“ bezeichnet (ÖB 8.2019).

Erhebungen maoistischer Gruppierungen in den ostzentralen Bergregionen Indiens dauern an. Angaben zufolge haben Rebellen illegale Steuern erhoben, Lebensmittel und Unterkünfte beschlagnahmt und sich an Entführungen und Zwangsrekrutierungen von Kindern und Erwachsenen beteiligt. Zehntausende von Zivilisten wurden durch die Gewalt vertrieben und leben in von der Regierung geführten Lagern. Unabhängig davon greifen in den sieben nordöstlichen Bundesstaaten Indiens mehr als 40 aufständische Gruppierungen, welche entweder eine größere Autonomie oder die vollständige Unabhängigkeit ihrer ethnischen oder Stammesgruppen anstreben, weiterhin Sicherheitskräfte an. Auch kommt es weiterhin zu Gewalttaten unter den Gruppierungen, welche sich in Bombenanschlägen, Morden, Entführungen, Vergewaltigungen von Zivilisten und in der Bildung von umfangreichen Erpressungsnetzwerken ausdrücken (FH 04.03.2020).

Das South Asia Terrorism Portal verzeichnet in einer Aufstellung für das Jahr 2016 insgesamt 907 Todesopfer durch terrorismusrelevante Gewalt. Im Jahr 2017 wurden 812 Personen durch terroristische Gewalt getötet und im Jahr 2018 kamen 940 Menschen durch Terrorakte. 2019 belief sich die Opferzahl terrorismusrelevanter Gewalt landesweit auf insgesamt 621 Tote. Bis zum 05.03.2020 wurden 81 Todesopfer durch terroristische Gewaltanwendungen registriert [Anmerkung: die angeführten Zahlen beinhalten Zivilisten, Sicherheitskräfte und Terroristen] (SATP 17.03.2020).

Gegen militante Gruppierungen, die meist für die Unabhängigkeit bestimmter Regionen eintreten und/oder radikalen (z. B. maoistisch-umstürzlerischen) Auffassungen anhängen, geht die Regierung mit großer Härte und Konsequenz vor. Sofern solche Gruppen der Gewalt abschwören, sind in der Regel Verhandlungen über ihre Forderungen möglich. Gewaltlose Unabhängigkeitsgruppen können sich politisch frei betätigen (AA 19.07.2019).

Indien und Pakistan

Pakistan erkennt weder den Beitritt Jammu und Kaschmirs zur indischen Union im Jahre 1947 noch die seit dem ersten Krieg im selben Jahr bestehende de-facto-Aufteilung der Region auf beide Staaten an. Indien hingegen vertritt den Standpunkt, dass die Zugehörigkeit Jammu und Kaschmirs in seiner Gesamtheit zu Indien nicht zur Disposition steht (Piazolo 2008). Die äußerst angespannte Lage zwischen Indien und Pakistan hat sich in der Vergangenheit immer wieder in Grenzgefechten entladen, welche oft zu einem größeren Krieg zu eskalieren drohten. Seit 1947 gab es bereits drei Kriege aufgrund des umstrittenen Kaschmir-Gebiets (BICC 12.2019; vgl. BBC 23.01.2018).

Nach dem friedlichen Unabhängigkeitskampf gegen die britische Kolonialherrschaft zeigte bereits die blutige Teilung Britisch-Indiens, die mit einer Massenflucht, schweren Gewaltausbrüchen und Pogromen einherging, wie schwierig es sein wird, die ethnisch, religiös, sprachlich und sozioökonomisch extrem heterogene Gesellschaft in einem Nationalstaat zusammenzuhalten. Die inter-religiöse Gewalt setzte sich auch nach der Teilung zwischen Indien und Pakistan fort (BPB 12.12.2017).

Indien wirft Pakistan dabei unter anderem vor, in Indien aktive terroristische Organisationen zu unterstützen und fordert ein Ende dieser Unterstützung ebenso wie der Unterstützung kaschmirischer Separatisten. Pakistan hingegen fordert eine Volksabstimmung über die Zukunft der Region, da der Verlust des größtenteils muslimisch geprägten Gebiets als Bedrohung der islamischen Identität Pakistans wahrgenommen wird (BICC 12.2019). Nach einem Terrorangriff auf eine indische Militärbasis in Kaschmir Mitte September 2016 eskaliert die Rhetorik auf beiden Seiten erneut (DW 29.09.2016). So kommt es immer wieder zu Schusswechseln zwischen Truppenteilen Indiens und Pakistans an der Waffenstillstandslinie in Kaschmir (BICC 12.2019). So drang die indische Luftwaffe am 26.02.2019 als Vergeltung für einen am 14.02.2019 verübten Selbstmordanschlag erstmals seit dem Krieg im Jahr 1971 in den pakistanischen Luftraum ein, um ein Trainingslager der islamistischen Gruppierung Jaish-e-Mohammad in der Region Balakot, Provinz Khyber Pakhtunkhwa, zu bombardieren (SZ 26.02.2019; vgl. FAZ 26.02.2019, WP 26.02.2019).

Indien ist überzeugt, dass der Selbstmordanschlag vom 14.02.2019 von Pakistan aus geplant und unterstützt worden ist (NZZ 26.02.2019). Die Armeen der verfeindeten Nachbarn hatten seit Anfang März 2019 immer wieder an verschiedenen Stellen über die de-facto-Grenze zwischen den von Pakistan und Indien kontrollierten Teilen Kaschmirs das Feuer eröffnet (Presse 02.03.2019) und kurz darauf gemeldet, dass die Lage entlang der „Line of Control" wieder relativ ruhig sei (Reuters 03.03.2019).

Indien und China

Der chinesisch-indische Grenzverlauf im Himalaya ist weiterhin umstritten. Auch hat China Indien nie verziehen, dem Dalai Lama Exil gewährt zu haben. Dennoch hat keine der beiden Seiten ein Interesse daran, die Meinungsverschiedenheiten in offenen Streit umschlagen zu lassen (FAZ 27.02.2020), doch haben sowohl Indien als auch China Ambitionen, ihren Einflussbereich in Asien auszuweiten (BICC 12.2019).

Der amerikanisch-chinesische Handelskrieg hat die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Indien und China gestärkt und neue Möglichkeiten für indische Unternehmen auf dem chinesischen Markt geschaffen. Dennoch ist Delhi besorgt, dass chinesische Waren den heimischen Markt überschwemmen und lokale Anbieter verdrängen. Das ist auch der Grund, warum Indien noch einmal nachverhandeln will, wenn es um das „Regional Comprehensive Economic Partnership“ (RCEP) Abkommen geht, um das gemeinsam mit den meisten asiatischen Ländern größte Freihandelsabkommen der Welt zu schaffen. Indien fühlt sich von Peking geopolitisch herausgefordert, da China innerhalb seiner „Neuen Seidenstraße“ Allianzen mit Indiens Nachbarländern Pakistan, Bangladesch, Nepal und Sri Lanka geschmiedet hat. Besonders der Wirtschaftskorridor mit dem Erzfeind Pakistan ist den Indern ein Dorn im Auge (FAZ 27.02.2020). Bestimmender Faktor des indischen Verhältnisses zu China ist das immer wieder auch in Rivalität mündende Neben- und Miteinander zweier alter Kulturen, die heute die beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Welt sind. Das bilaterale Verhältnis ist von einem signifikanten Ungleichgewicht zu Gunsten Chinas gekennzeichnet (BICC 12.2019).

Indien und Sri Lanka pflegen ein eher ambivalentes Verhältnis, das durch den mittlerweile beendeten Bürgerkrieg auf Sri Lanka zwischen der tamilischen Minderheit und singhalesischen Mehrheit stark beeinflusst wurde. Die tamilische Bevölkerungsgruppe in Indien umfasst ca. 65 Millionen Menschen, woraus sich ein gewisser Einfluss auf die indische Außenpolitik ergibt (GIZ 11.2019a). Darüber hinaus bestehen kleinere Konflikte zwischen Indien und Bangladesch (BICC 23.01.2018).

[...]

2.2. Regionale Problemzone Punjab

Laut Angaben des indischen Innenministeriums zu den Zahlen der Volkszählung im Jahr 2011 leben von den 21 Millionen Sikhs 16 Millionen im Punjab (MoHA o.D.).

Der Terrorismus im Punjab ist Ende der 1990er Jahre nahezu zum Erliegen gekommen. Die meisten hochkarätigen Mitglieder der verschiedenen militanten Gruppen haben den Punjab verlassen und operieren von anderen Unionsstaaten oder Pakistan aus. Finanzielle Unterstützung erhalten sie auch von Sikh-Exilgruppierungen im westlichen Ausland (ÖB 8.2019).

Der illegale Waffen- und Drogenhandel von Pakistan in den indischen Punjab hat sich in letzter Zeit verdreifacht. Es gibt Anzeichen von konzertierten Versuchen militanter Sikh-Gruppierungen im Ausland gemeinsam mit dem pakistanischen Geheimdienst ISI, die militante Bewegung in Punjab wiederzubeleben. Indischen Geheimdienstinformationen zufolge werden Militante der Babbar Khalsa International (BKI), einer militanten Sikh-Organisation, in Pakistan von islamischen Terrorgruppen wie Lashkar-e-Toiba (LeT) trainiert. BKI hat angeblich ein gemeinsames Büro mit der LeT im pakistanischen West Punjab errichtet. Die Sicherheitsbehörden im Punjab konnten bislang die aufkeimende Wiederbelebung der militanten Sikh-Bewegung erfolgreich neutralisieren (ÖB 8.2019). Im Punjab haben die Behörden besondere Befugnisse, ohne Haftbefehl Personen zu suchen und zu inhaftieren (USDOS 11.03.2020; vgl. BBC 20.10.2015). Menschenrechtsberichten zufolge kommt es im Punjab regelmäßig zu Fällen von Menschenrechtsverletzungen, insbesondere durch Sicherheitsbehörden (extralegale Tötungen, willkürliche Festnahmen, Folter in Polizeigewahrsam, Todesfolge von Folter etc.) (ÖB 8.2019).

Die Staatliche Menschenrechtskommission im Punjab hat in einer Reihe von schweren Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte interveniert. In vielen Fällen wurde die Behörde zu Kompensationszahlungen verpflichtet. Die Menschenrechtskommission erhält täglich Beschwerden über Menschenrechtsverletzung und ist in ihrer Kapazität überfordert. Oft sind Niedrigkastige oder Kastenlose Opfer der polizeilichen Willkür (ÖB 8.2019).

Neben den angeführten Formen der Gewalt stellen Ehrenmorde vor allem in Punjab, Uttar Pradesh und Haryana weiterhin ein Problem dar (USDOS 11.03.2020).

Die Zugehörigkeit zur Sikh-Religion ist kein Kriterium für polizeiliche Willkürakte. Die Sikhs, 60 Prozent der Bevölkerung des Punjabs, stellen dort einen erheblichen Teil der Beamten, Richter, Soldaten und Sicherheitskräfte. Auch hochrangige Positionen stehen ihnen offen (ÖB 8.2019).

Das South Asia Terrorism Portal verzeichnet in einer Aufstellung für das Jahr 2016 insgesamt 25 Todesopfer durch terrorismusrelevante Gewalt in Punjab. Im Jahr 2017 wurden acht Personen durch Terrorakte getötet, 2018 waren es drei Todesopfer und im Jahr 2019 wurden durch terroristische Gewalt zwei Todesopfer registriert [Anmerkung: die angeführten Zahlen beinhalten Zivilisten, Sicherheitskräfte und Terroristen] (SATP 15.03.2020).

In Indien ist die Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit rechtlich garantiert und praktisch von den Behörden auch respektiert; in manchen Grenzgebieten sind allerdings Sonderaufenthaltsgenehmigungen notwendig. Sikhs aus dem Punjab haben die Möglichkeit, sich in anderen Landesteilen niederzulassen, Sikh-Gemeinden gibt es im ganzen Land verstreut. Sikhs können ihre Religion in allen Landesteilen ohne Einschränkung ausüben. Aktive Mitglieder von verbotenen militanten Sikh-Gruppierungen, wie Babbar Khalsa International, müssen mit polizeilicher Verfolgung rechnen (08.12.2019).

[...]

3. Rechtsschutz / Justizwesen

In Indien sind viele Grundrechte und -freiheiten verfassungsmäßig verbrieft, und die verfassungsmäßig garantierte unabhängige indische Justiz bleibt vielmals wichtiger Rechtegarant. Die häufig überlange Verfahrensdauer aufgrund überlasteter und unterbesetzter Gerichte sowie verbreitete Korruption, vor allem im Strafverfahren, schränken die Rechtssicherheit aber deutlich ein (AA 19.07.2019). Eine systematisch diskriminierende Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis lässt sich nicht feststellen, allerdings sind vor allem die unteren Instanzen nicht frei von Korruption. Vorurteile z.B. gegenüber Angehörigen niederer Kasten oder Indigenen dürften zudem eine nicht unerhebliche Rolle spielen (AA 19.07.2019).

Das Gerichtswesen ist von der Exekutive getrennt (FH 04.03.2020). Das Justizsystem gliedert sich in den Supreme Court, das Oberste Gericht mit Sitz in Delhi; das als Verfassungsgericht die Streitigkeiten zwischen Zentralstaat und Unionsstaaten regelt. Es ist auch Appellationsinstanz für bestimmte Kategorien von Urteilen wie etwa bei Todesurteilen. Der High Court bzw. das Obergericht besteht in jedem Unionsstaat. Es ist Kollegialgericht als Appellationsinstanz sowohl in Zivil- wie auch in Strafsachen und führt auch die Dienst- und Personalaufsicht über die Untergerichte des Staates aus, um so die Justiz von den Einflüssen der Exekutive abzuschirmen. Subordinate Civil and Criminal Courts sind untergeordnete Gerichtsinstanzen in den Distrikten der jeweiligen Unionsstaaten und nach Zivil- und Strafrecht aufgeteilt. Fälle werden durch Einzelrichter entschieden. Richter am District und Sessions Court entscheiden in Personalunion sowohl über zivilrechtliche als auch strafrechtliche Fälle (als District Judge über Zivilrechtsfälle, als Sessions Judge über Straffälle). Unterhalb des District Judge gibt es noch den Subordinate Judge, unter diesem den Munsif für Zivilsachen. Unter dem Sessions Judge fungiert der 1st Class Judicial Magistrate und, unter diesem der 2nd Class Judicial Magistrate, jeweils für minder schwere Strafsachen (ÖB 8.2019).

Das Gerichtswesen ist auch weiterhin überlastet und verfügt nicht über moderne Systeme zur Fallbearbeitung. Der Rückstau bei Gericht führt zu langen Verzögerungen oder der Vorenthaltung von Rechtsprechung. Eine Analyse des Justizministeriums vom September 2018 hat ergeben, dass von insgesamt 1.079 Planstellen an den 24 Obergerichten des Landes 414 Stellen nicht besetzt waren (USDOS 11.03.2020). Die Regeldauer eines Strafverfahrens (von der Anklage bis zum Urteil) beträgt mehrere Jahre; in einigen Fällen dauern Verfahren bis zu zehn Jahre (USDOS 11.03.2020; vgl. AA 18.09.2019). Auch der Zeugenschutz ist mangelhaft, was dazu führt, dass Zeugen aufgrund von Bestechung und/oder Bedrohung vor Gericht häufig nicht frei aussagen (AA 18.09.2018).

Insbesondere auf unteren Ebenen der Justiz ist Korruption verbreitet, und die meisten Bürger haben große Schwierigkeiten, ihr Recht bei Gericht durchzusetzen. Das System ist rückständig und stark unterbesetzt, was zu langer Untersuchungshaft für eine große Zahl von Verdächtigen führt. Vielen von ihnen bleiben so länger im Gefängnis, als es der eigentliche Strafrahmen wäre (FH 04.03.2020). Die Dauer der Untersuchungshaft ist entsprechend zumeist exzessiv lang. Außer bei mit der Todesstrafe bedrohten Delikten soll der Haftrichter nach Ablauf der Hälfte der drohenden Höchststrafe eine Haftprüfung und eine Freilassung auf Kaution anordnen. Allerdings nimmt der Betroffene mit einem solchen Antrag in Kauf, dass der Fall über lange Zeit gar nicht weiterverfolgt wird. Mittlerweile sind ca. 70 Prozent aller Gefangenen Untersuchungshäftlinge, viele wegen geringfügiger Taten, denen die Mittel für eine Kautionsstellung fehlen (AA 19.07.2019).

In der Verfassung verankerte rechtsstaatliche Garantien (z.B. das Recht auf ein faires Verfahren) werden durch eine Reihe von Sicherheitsgesetzen eingeschränkt. Diese Gesetze wurden nach den Terroranschlägen von Mumbai im November 2008 verschärft; u.a. wurde die Unschuldsvermutung für bestimmte Straftatbestände außer Kraft gesetzt (AA 19.07.2019).

Die Inhaftierung eines Verdächtigen durch die Polizei ohne Haftbefehl darf nach den allgemeinen Gesetzen nur 24 Stunden dauern. Eine Anklageerhebung soll bei Delikten mit bis zu zehn Jahren Strafandrohung innerhalb von 60, in Fällen mit höherer Strafandrohung innerhalb von 90 Tagen erfolgen. Diese Fristen werden regelmäßig überschritten. Festnahmen erfolgen jedoch häufig aus Gründen der präventiven Gefahrenabwehr sowie im Rahmen der Sondergesetze zur inneren Sicherheit, z.B. aufgrund des Gesetzes über nationale Sicherheit („National Security Act“, 1956) oder des lokalen Gesetzes über öffentliche Sicherheit („Jammu and Kashmir Public Safety Act“, 1978). Festgenommene Personen können auf Grundlage dieser Gesetze bis zu einem Jahr ohne Anklage in Präventivhaft gehalten werden. Auch zur Zeugenvernehmung können gemäß Strafprozessordnung Personen über mehrere Tage festgehalten werden, sofern eine Fluchtgefahr besteht. Fälle von Sippenhaft sind nicht bekannt (AA 19.07.2019).

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass unerlaubte Ermittlungsmethoden angewendet werden, insbesondere um ein Geständnis zu erlangen. Das gilt insbesondere bei Fällen mit terroristischem oder politischem Hintergrund oder solchen mit besonderem öffentlichem Interesse. Es ist nicht unüblich, dass Häftlinge misshandelt werden. Ein im Mai 2016 von der renommierten National Law University Delhi veröffentlichter empirischer Bericht zur Situation der Todesstrafe in Indien zeichnet ein düsteres Bild des indischen Strafjustizsystems. So haben bspw. 80 Prozent aller Todeskandidaten angegeben, in Haft gefoltert worden zu sein. Nach glaubwürdigen, vertraulichen Schätzungen des Internationales Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) kommt es weiterhin zu systematischer Folter in den Verhörzentren in Jammu und Kaschmir (AA 19.07.2019).

Für Angeklagte gilt die Unschuldsvermutung, ausgenommen bei Anwendung des „Unlawful Activities Prevention Act (UAPA)“, und sie haben das Recht, ihren Anwalt frei zu wählen. Das Strafgesetz sieht öffentliche Verhandlungen vor, außer in Verfahren, in denen die Aussagen Staatsgeheimnisse oder die Staatssicherheit betreffen können. Es gibt kostenfreie Rechtsberatung für bedürftige Angeklagte, aber in der Praxis ist der Zugang zu kompetenter Beratung oft begrenzt (USDOS 11.03.2020). Gerichte sind verpflichtet, Urteile öffentlich zu verkünden und es gibt effektive Wege der Berufung auf beinahe allen Ebenen der Justiz. Angeklagte haben das Recht, die Aussage zu verweigern und sich nicht schuldig zu bekennen (USDOS 11.03.2020).

Gerichtliche Ladungen in strafrechtlichen Angelegenheiten sind im Criminal Procedure Code 1973 (CrPC, Chapter 4, §§ 61-69), in zivilrechtlichen Angelegenheiten im Code of Civil Procedure 1908/2002 geregelt. Jede Ladung muss schriftlich in zweifacher Ausführung ausgestellt sein, vom vorsitzenden Richter unterfertigt und mit Gerichtssiegel versehen sein. Ladungen werden gemäß CrPC prinzipiell durch einen Polizeibeamten oder durch einen Gerichtsbeamten an den Betroffenen persönlich zugestellt. Dieser hat den Erhalt zu bestätigen. In Abwesenheit kann die Ladung an ein erwachsenes männliches Mitglied der Familie übergeben werden, welches den Erhalt bestätigt. Falls die Ladung nicht zugestellt werden kann, wird eine Kopie der Ladung an die Residenz des Geladenen sichtbar angebracht. Danach entscheidet das Gericht, ob die Ladung rechtmäßig erfolgt ist, oder ob eine neue Ladung erfolgen wird. Eine Kopie der Ladung kann zusätzlich per Post an die Heim- oder Arbeitsadresse des Betroffenen eingeschrieben geschickt werden. Falls dem Gericht bekannt wird, dass der Betroffene die Annahme der Ladung verweigert hat, gilt die Ladung dennoch als zugestellt. Gemäß Code of Civil Procedure kann die Ladung des Gerichtes auch über ein gerichtlich genehmigtes Kurierservice erfolgen (ÖB 8.2019).

Indische Einzelpersonen - oder NGOs im Namen von Einzelpersonen oder Gruppen - können sogenannte Rechtsstreitpetitionen von öffentlichem Interesse („Public Interest Litigation petitions“, PIL) bei jedem Gericht einreichen, oder beim Obersten Bundesgericht, dem „Supreme Court“ einbringen, um rechtliche Wiedergutmachung für öffentliche Rechtsverletzungen einzufordern (CM 02.08.2017).

Im ländlichen Indien gibt es auch informelle Ratssitzungen, deren Entscheidungen manchmal zu Gewalt gegen Personen führt, die soziale Regeln brechen - was besonders Frauen und Angehörige unterer Kasten betrifft (FH 04.03.2020).

4. Sicherheitsbehörden

Die indische Polizei (Indian Police Service) ist keine direkte Strafverfolgungs- oder Vollzugsbehörde (BICC 12.2019) und untersteht den Bundesstaaten (AA 19.07.2019). Sie fungiert vielmehr als Ausbildungs- und Rekrutierungsstelle für Führungsoffiziere der Polizei in den Bundesstaaten. Im Hinblick auf die föderalen Strukturen ist die Polizei dezentral in den einzelnen Bundesstaaten organisiert. Die einzelnen Einheiten haben jedoch angesichts eines nationalen Polizeigesetzes, zahlreichen nationalen Strafrechten und der zentralen Rekrutierungsstelle für Führungskräfte eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Allgemein ist die Polizei mit der Strafverfolgung, Verbrechensprävention und -bekämpfung sowie der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung betraut und übt gleichzeitig eine teilweise Kontrolle über die verschiedenen Geheimdienste aus. Innerhalb der Polizei gibt es eine Kriminalpolizei (Criminal Investigation Department - CID), in die wiederum eine Sondereinheit (Special Branch) integriert ist. Während erstere mit nationalen und die Bundesstaaten übergreifenden Verbrechen betraut ist, hat die Sondereinheit Informationsbeschaffung und Überwachung jeglicher subversiver Elemente und Personen zur Aufgabe. In fast allen Bundesstaaten sind spezielle Polizeieinheiten aufgestellt worden, die sich mit Frauen und Kindern beschäftigen. Kontrolliert wird ein Großteil der Strafverfolgungsbehörden vom Innenministerium (Ministry of Home Affairs) (BICC 12.2019).

Ein Mangel an Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Polizei entsteht neben den strukturellen Defiziten auch durch häufige Berichte über Menschenrechtsverletzungen wie Folter, außergerichtliche Tötungen und Drohungen, die mutmaßlich durch die Polizei verübt wurden (BICC 12.2019; vgl. FH 04.03.2020). Es gab zwar Ermittlungen und Verfolgungen von Einzelfälle

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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