TE Vwgh Erkenntnis 2020/11/18 Ra 2020/14/0113

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Veröffentlicht am 18.11.2020
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht
82/02 Gesundheitsrecht allgemein

Norm

BFA-VG 2014 §9
FrPolG 2005 §52
FrPolG 2005 §53
FrPolG 2005 §67
MRK Art8
SMG 1997
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §28
VwRallg
ZustG §22

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und Mag. Schindler sowie den Hofrat Dr. Himberger als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. Jänner 2020, G312 2204993-1/20E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: XY in Z, vertreten durch Mag.rer.soc.oec. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird in den Spruchpunkten A) II. und A) III. wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1        Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger des Irak, stellte am 29. Oktober 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005.

2        Mit Bescheid vom 13. Juli 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Mitbeteiligten sowohl hinsichtlich des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkt II.), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.) und stellte fest, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt V.). Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung wurde die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VI.). Eine Frist für die freiwillige Ausreise gewährte die Behörde nicht (Spruchpunkt VII.). Sie sprach weiters aus, dass der Mitbeteiligte ab 14. April 2018 sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet verloren habe (Spruchpunkt VIII.) und erließ gegen ihn ein auf die Dauer von acht Jahren befristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt IX.).

3        Der Mitbeteiligte erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), das am 27. November 2019 eine Verhandlung durchführte.

4        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. als unbegründet ab [Spruchpunkt A) I.]. Hinsichtlich des Spruchpunktes IV. wurde der Beschwerde hingegen stattgegeben, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig erklärt und dem Mitbeteiligten der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt [Spruchpunkt A) II.]. Weiters behob das BVwG die Spruchpunkte V. bis IX. des Bescheides ersatzlos [Spruchpunkt A) III.]. Die Revision erklärte es gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig [Spruchpunkt B.].

5        Zur Situation des Mitbeteiligten in Österreich stellte das BVwG fest, dass er eine Beziehung mit einer österreichischen Staatsbürgerin führe. Im Juni 2018 sei die gemeinsame Tochter zur Welt gekommen. Der Revisionswerber lebe mit seiner Lebensgefährtin und der Tochter im gemeinsamen Haushalt und übernehme mit seiner Lebensgefährtin gemeinsam die Erziehung der Tochter. Er verfüge über eine Krankenversicherung, weil er bei seiner Lebensgefährtin mitversichert sei. Die Familie des Mitbeteiligten leide unter großem finanziellen Druck.

6        Der Mitbeteiligte habe gute Deutschkenntnisse und verfüge über ein kürzlich erworbenes Zeugnis des Österreichischen Integrationsfonds „zur Integrationsprüfung“. Er verfüge über eine Gewerbeberechtigung für Hausbetreuung und habe mit einem Hausbetreuungsunternehmen einen Nachunternehmervertrag abgeschlossen. Aufgrund strafrechtlicher Verurteilungen sei die Gewerbeberechtigung entzogen und der Nachunternehmervertrag gekündigt worden.

7        Der Mitbeteiligte weise drei strafgerichtliche Verurteilungen auf.

Er sei am 27. Juni 2017 wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs. 4 Strafgesetzbuch (StGB) zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt worden, wobei die Strafe für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen worden sei. Dem Urteil sei zugrunde gelegen, dass der Mitbeteiligte eine andere Person durch das Versetzen von Faustschlägen ins Gesicht am Körper verletzt und dadurch eine schwere Körperverletzung, nämlich eine Schädelprellung, eine rechtsseitige Orbitawandfraktur sowie ein Brillenhämatom rechts herbeigeführt habe. Bei der Strafbemessung seien das Geständnis und die Unbescholtenheit des Mitbeteiligten mildernd berücksichtigt worden. Der Mitbeteiligte habe die Tat als junger Erwachsener gemäß § 19 Abs. 1 Jugendgerichtsgesetz (JGG) begangen.

Weiters sei der Mitbeteiligte am 28. Juni 2018 wegen des Verbrechens des Raubes nach § 142 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten verurteilt worden, wobei ein Teil der Strafe von 16 Monaten für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen worden sei. Nach diesem Urteil habe der Mitbeteiligte in bewusstem und gewollten Zusammenwirken mit zwei Mittätern mit Gewalt gegen eine Person einem anderen fremde bewegliche Sachen mit dem Vorsatz weggenommen, sich oder einen Dritten durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, indem sie einen anderen mehrere Faustschläge versetzt hätten, einer der Täter dessen Hände fixiert habe und mindestens einer der Täter mit seinem Fuß gegen den Kopf des zu Sturz gekommenen Opfers getreten habe, während sie ihm sein Mobiltelefon samt Schutzhülle im Wert von € 250,00 aus seiner Hosentasche gezogen hätten, wobei das Opfer in Form einer Kopfprellung und zahlreichen Hautabschürfungen im Gesicht verletzt worden sei. Der Mitbeteiligte habe auch diese Tat als junger Erwachsener gemäß § 19 Abs. 1 JGG begangen. Bei der Strafbemessung sei ein der Wahrheitsfindung dienendes Geständnis und das Alter unter 21 Jahren mildernd, die einschlägige Vorstrafe sowie der rasche Rückfall erschwerend gewertet worden. Vom Widerruf der mit Urteil vom 27. Juni 2017 ausgesprochenen bedingten Strafnachsicht sei abgesehen worden, jedoch sei die Probezeit auf fünf Jahre verlängert worden.

Schließlich sei der Mitbeteiligte am 8. Oktober 2019 wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 240 Tagessätzen zu je € 4,00, somit insgesamt € 960,00 verurteilt worden. Der Mitbeteiligte sei schuldig erkannt worden, eine andere Person am Körper verletzt oder an der Gesundheit geschädigt zu haben, indem er dieser ins Gesicht geschlagen, sodann mit einem aufgeklappten Messer ausgeholt, diese Person an der Lippe getroffen und auf das am Rücken liegende Opfer eingetreten habe, wodurch dieses eine Schädelprellung mit Hautabschürfungen im Bereich oberhalb der Augenhöhlen sowie eine Schnittwunde im Bereich der unteren Lippe erlitten habe. Bei der Strafbemessung seien das Geständnis mildernd, die einschlägigen Vorstrafen erschwerend gewertet worden. Vom Widerruf der mit den Urteilen vom 27. Juni 2017 und 28. Juni 2018 ausgesprochenen bedingten Strafnachsichten und der bedingten Entlassung aus der Strafhaft sei abgesehen worden, jedoch sei die Probezeit jeweils auf fünf Jahre verlängert worden.

8        Der Mitbeteiligte habe sich von 13. April 2018 bis zu seiner vorzeitigen bedingten Entlassung am 13. Oktober 2018 - auf Grund des zweiten Urteils - in Haft befunden. Seit seiner Entlassung werde er im Rahmen der „freiwilligen Haftentlassenenhilfe“ vom Verein Neustart betreut.

9        In der rechtlichen Beurteilung führte das BVwG - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - aus, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung nach § 52 Fremdenpolizeigesetz (FPG) sei nach § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) auf Grund der sonst drohenden Verletzung des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger auf Dauer unzulässig. Der Mitbeteiligte führe ein aufrechtes Familienleben mit seiner Lebensgefährtin und seiner eineinhalbjährigen Tochter. Eine Fortsetzung des Familienlebens im Irak erscheine aufgrund der österreichischen Staatsbürgerschaft seiner Lebensgefährtin und der Tochter sowie aufgrund der besonderen Vulnerabilität von Kindern ausgeschlossen. Auch Besuche durch die Familienmitglieder oder die Aufrechterhaltung des Familienlebens mittels moderner Kommunikationsmittel seien aufgrund des Kleinkindalters der Tochter nicht möglich. Bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG sei auch das Kindeswohl zu berücksichtigen, wobei Kinder Anspruch auf persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen hätten. Die Familie des Mitbeteiligten leide unter großem finanziellen Druck; sowohl die Lebensgefährtin als auch die gemeinsame Tochter sei von der möglichen Erwerbstätigkeit des Mitbeteiligten abhängig.

10       Den familiären und privaten Interessen des Mitbeteiligten an einem Verbleib im Bundesgebiet sei jedoch sein straffälliges Verhalten entgegenzuhalten. Dieses solle zwar nicht geschmälert werden, jedoch könne von einer Gemeingefährlichkeit des Mitbeteiligten nicht ausgegangen werden. Allen Straftaten sei gemein, dass diese vom Mitbeteiligten als jungen Erwachsenen im Sinn des § 19 Abs. 1 JGG - also vor Vollendung des 21. Lebensjahres - begangen worden seien und seine Schuldfähigkeit somit „per se beschränkt“ gewesen sei. Es sei auffällig, dass die konkret verhängten Freiheitsstrafen jeweils im untersten Bereich des Strafrahmens lägen und vorwiegend bedingt ausgesprochen worden seien. Auch die unbedingte Haftstrafe sei schließlich durch eine bedingte Entlassung um zwei Monate verkürzt worden. Im Zuge der späteren Verurteilungen seien die bedingt ausgesprochenen Strafnachsichten auch nicht widerrufen, sondern lediglich die Probezeiten verlängert worden. Überdies nehme der Mitbeteiligte seit seiner Entlassung die „freiwillige Haftentlassenenhilfe“ in Anspruch und bekomme von seinem Betreuer eine positive Zukunftsprognose attestiert. Er habe in der Beschwerdeverhandlung einen glaubwürdigen Eindruck hinsichtlich seiner Reue vermittelt.

11       Auch wenn bei wiederholter Straffälligkeit in einer Gesamtabwägung das Interesse an der Erlassung einer Rückkehrentscheidung schwerer als familiäre Interessen wiegen könne und damit ein Eingriff in das Familienleben bei Straffälligkeit des Fremden zulässig sei, seien, im vorliegenden Fall das Familienleben des Mitbeteiligten und das Kindeswohl seiner Tochter höher zu werten als das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung. Der Mitbeteiligte übernehme gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin die Erziehung der gemeinsamen Tochter. Beide seien von einer „möglichen“ Erwerbstätigkeit des Mitbeteiligten abhängig.

12       Zum Privatleben des Mitbeteiligten führte das BVwG aus, dass er sich seit vier Jahren im Inland aufhalte. Zu seinen Gunsten sprächen seine guten Deutschkenntnisse, die erfolgreiche Absolvierung der Integrationsprüfung sowie seine ersten Schritte zu einer beruflichen Integration, die aufgrund der Entziehung der Gewerbeberechtigung derzeit jedoch nicht weiter verfolgt werden könne. Eine Schwester des Mitbeteiligten lebe noch im Irak, seine Eltern hielten sich inzwischen in Deutschland auf. Sein Lebensmittelpunkt habe sich durch das in Österreich gegründete Familienleben zweifellos nach Österreich verlagert.

13       Zwar würden die privaten und familiären Interessen des Mitbeteiligten unter dem Gesichtspunkt des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG relativiert („Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren“). Dieser Aspekt dürfe aber nicht in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund gestellt werden.

14       Das BVwG kam zum Ergebnis, dass im vorliegenden Fall - auch unter Berücksichtigung der strafbaren Handlungen - die erwähnten familiären und privaten Interessen des Mitbeteiligten in ihrer Gesamtheit die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung und eines geordneten Fremdenwesens überwögen. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den Mitbeteiligten erweise sich daher „zum maßgeblichen aktuellen Entscheidungszeitpunkt“ als unverhältnismäßig im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK.

15       Ausdrücklich wies das BVwG abschließend „für den Fall einer weiteren strafrechtlichen Verurteilung“ auf die Bestimmung des § 52 Abs. 11 FPG hin, wonach der Umstand, dass in einem Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung deren Unzulässigkeit gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG festgestellt wurde, nicht daran hindere, im Rahmen eines weiteren Verfahrens zur Erlassung einer solchen Entscheidung neuerlich eine Abwägung gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG vorzunehmen, wenn der Fremde in der Zwischenzeit wieder ein Verhalten setzen würde, das die Erlassung einer Rückkehrentscheidung rechtfertigte.

16       Die vorliegende Amtsrevision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richtet sich gegen die Spruchpunkte A) II. und A) III. des angefochtenen Erkenntnisses und bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, die vom BVwG vorgenommene Interessenabwägung beruhe nicht auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage, weil keine Feststellungen zu dem - in der Revision näher dargestellten - Fehlverhalten des Mitbeteiligten vom 3. Jänner 2020 getroffen worden seien, obwohl dieses dem BVwG zur Kenntnis gelangt sei. Dieses Fehlverhalten entziehe wesentlichen Argumenten des BVwG den Boden. Der Sachverhalt sei überdies auch in Bezug auf das Familienleben und das Kindeswohl nicht ausreichend geklärt, weil das BVwG die Lebensgefährtin des Mitbeteiligten - insbesondere im Hinblick auf den Vorfall vom 3. Jänner 2020 - nicht vernommen habe.

17       Nach Einleitung des Vorverfahrens durch den Verwaltungsgerichtshof hat der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattet, in der er beantragte, die Revision als unzulässig zurückzuweisen oder allenfalls als unbegründet abzuweisen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision erwogen:

18       Die Amtsrevision ist auf Grund der von der darin aufgezeigten - für den Verfahrensausgang relevanten - mangelhaften Grundlagen für die Interessenabwägung zulässig. Sie ist schon wegen einer unvertretbaren Rechtsauffassung des BVwG begründet.

19       § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG lautet:

„Schutz des Privat- und Familienlebens

§ 9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1.die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2.das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3.die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4.der Grad der Integration,

5.die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6.die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7.Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8.die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9.die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.“

20       Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. wiederum VwGH 15.4.2020, Ra 2019/14/0420, mwN).

21       Dabei ist es auch notwendig, sich mit den Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Kindeswohl auseinanderzusetzen. Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Judikatur eine Trennung von Familienangehörigen, mit denen ein gemeinsames Familienleben im Herkunftsland nicht zumutbar ist, jedenfalls dann für gerechtfertigt erachtet, wenn dem öffentlichen Interesse an der Vornahme einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme insgesamt ein sehr großes Gewicht beizumessen ist, wie dies insbesondere bei Straffälligkeit des Fremden oder bei einer von Anfang an beabsichtigten Umgehung der Regeln über den Familiennachzug der Fall ist. Insbesondere schwerwiegende kriminelle Handlungen, aus denen sich eine vom Fremden ausgehende Gefährdung ergibt, können die Erlassung einer Rückkehrentscheidung daher auch dann tragen, wenn diese zu einer Trennung von Familienangehörigen führt (VwGH 8.4.2020, Ra 2020/14/0108, mwN).

22       Ein solcher Fall liegt entgegen der Ansicht des BVwG schon auf Basis der getroffenen Feststellungen vor. Angesichts der wiederholten Straffälligkeit, denen jeweils massive Angriffe auf die körperliche Unversehrtheit, teilweise auch auf das Vermögen, zu Grunde lagen, des Umstandes, dass sich der Mitbeteiligte trotz des verspürten Haftübels sowie mehrfacher offener Probezeiten nicht von weiteren Straftaten abhalten ließ und seit der letzten Tat und Verurteilung noch kein längerer Zeitraum des Wohlverhaltens verstrichen war, aus dem eine nachhaltige Änderung abzuleiten wäre, hat das BVwG die öffentlichen Interessen an einem geordneten Fremdenwesen und dem Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ein zu geringes Gewicht beigemessen. Darauf, ob auch eine „Gemeingefährlichkeit“ vorliegt, kommt es entgegen der Ansicht des BVwG hier nicht an. Im vorliegenden Fall ist auf Basis des festgestellten Sachverhalts davon auszugehen, dass eine Trennung der Familienangehörigen im öffentlichen Interesse hinzunehmen wäre.

23       Das BVwG hat, indem es auf dieser Grundlage die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG für auf Dauer unzulässig erklärt hat, sein Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet.

24       Darüber hinaus zeigt die Revision auch zutreffend auf, dass die Entscheidung nicht auf einer verfahrensrechtlich einwandfrei geschaffenen Grundlage beruht.

25       Das BVwG hat seine Entscheidung an der zum Zeitpunkt seiner Entscheidung maßgeblichen Sach- und Rechtslage auszurichten. Dieser Zeitpunkt ist bei der Entscheidung durch einen Einzelrichter der Zeitpunkt der Zustellung (oder Verkündung) der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes (vgl. etwa VwGH 11.8.2020, Ra 2020/14/0347, mwN).

26       Die revisionswerbende Behörde hatte dem BVwG nach der mündlichen Verhandlung, aber vor der Erlassung des Erkenntnisses die Abschrift eines nach § 100 Strafprozessordnung an die Staatsanwaltschaft gerichteten Abschlussberichts vom 4. Jänner 2020 betreffend den Mitbeteiligten übermittelt, aus dem sich ergibt, dass dieser auf Grund eines am 3. Jänner 2020 gesetzten, näher dargestellten Verhaltens des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt, der schweren Körperverletzung sowie der Sachbeschädigung verdächtig sei.

27       Im Zusammenhang mit der für die Verhängung eines Aufenthalts- oder Einreiseverbotes nach dem FPG durchzuführenden Gefährdungsprognose entspricht es der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass dafür auch ein Verhalten des Fremden herangezogen werden kann, das (noch) nicht zu einer gerichtlichen oder verwaltungsbehördlichen Bestrafung geführt hat. Ein solches Vorgehen verstößt nicht gegen die Unschuldsvermutung, erfordert jedoch entsprechende, in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren getroffene Feststellungen zum Fehlverhalten selbst und nicht bloß zu einer allenfalls bestehenden, nicht weiter verifizierten Verdachtslage (vgl. VwGH 25.1.2018, Ra 2017/21/0237; 23.3.2017, Ra 2016/21/0349; 24.1.2012, 2010/18/0264, jeweils mwN).

28       Dies hat entsprechend auch für die Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG zu gelten, in der nicht (nur) der Umstand einer strafgerichtlichen Verurteilung, sondern das Verhalten des Betroffenen in die Gesamtbetrachtung zur Gewichtung der öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung einzufließen hat (vgl. VwGH 12.12.2012, 2012/18/0173).

29       Das BVwG hat aber die ihm bekannte Verdachtslage nicht zum Anlass für weitere Ermittlungen genommen und dazu in Verkennung der dargestellten Rechtslage auch keine Feststellungen zu einem etwaigen weiteren vom Mitbeteiligten gesetzten Fehlverhalten getroffen.

30       Das angefochtene Erkenntnis war somit im Umfang seiner Anfechtung - aufgrund der Aufhebung des Spruchpunktes A) II. verliert der Spruchpunkt A) III. seine Grundlage - gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

31       Bei diesem Ergebnis war dem Mitbeteiligten gemäß § 47 Abs. 3 VwGG kein Aufwandersatz für die Erstattung der Revisionsbeantwortung zuzusprechen.

Wien, am 18. November 2020

Schlagworte

Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020140113.L00

Im RIS seit

05.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

05.01.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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