TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/22 W104 2195248-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 22.10.2020
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Entscheidungsdatum

22.10.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch

W104 2195248-1/26E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Christian BAUMGARTNER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX alias XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion XXXX vom 4.4.2018, Zl. 1095231904-151798976, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 19.2.2020 und am 10.9.2020 zu Recht:

A)       Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 57 AsylG, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG, §§ 52 Abs. 2 Z 2, Abs. 9, 46 und 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

B)       Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in die Republik Österreich ein und stellte am 19.10.2015 erstmals im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 18.11.2015 gab der Beschwerdeführer an, er sei am XXXX in der afghanischen Provinz Ghazni geboren, afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und hänge der schiitischen Glaubensrichtung des Islams an. Er sei ledig und habe keine Kinder. Sein Vater, seine Mutter, vier Brüder und zwei Schwestern seien nach wie vor in Afghanistan wohnhaft. Zum Fluchtgrund führte der Beschwerdeführer aus, er habe eine Buchhandlung besessen, in der er auch christliche Bücher verkauft habe. Eines Tages habe ihn die Polizei aufgesucht und ihn gefragt, warum er die Religion gewechselt habe. Er sei daraufhin geschlagen und gefoltert worden. Die Polizei habe ihn umbringen bzw. ihn den Taliban übergeben wollen. Durch das WC-Fenster sei ihm die Flucht gelungen. Im Fall einer Rückkehr fürchte der Beschwerdeführer um sein Leben.

In seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 26.3.2018 korrigierte der Beschwerdeführer seine Angaben in seiner Erstbefragung zunächst dahingehend, dass es nicht stimme, dass die Regierung ihn den Taliban übergeben wollte. Er habe vielmehr gesagt, er sei von beiden Seiten gefährdet. Zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer im Wesentlichen zusammengefasst aus, er habe in seiner Buchhandlung Bücher über das Christentum verkauft. Eines Tages seien drei Zivilpolizisten in sein Geschäft gekommen und hätten ihn gefragt, welche Bücher er habe. Nach ihren Informationen verkaufe der Beschwerdeführer christliche Bücher. Der Beschwerdeführer habe den Besitz christlicher Bücher geleugnet und sei schließlich von zwei Zivilpolizisten festgenommen und aus dem Geschäft geführt worden. Die Schlüssel für das Geschäft seien dem Beschwerdeführer abgenommen worden. Anschließend hätten die Polizisten ihn in ein Auto gesetzt und ihm die Augen verbunden. Der Beschwerdeführer sei an einen ihm unbekannten Ort gebracht worden, wo er befragt worden sei. Die Polizisten hätten wissen wollen, wo die Bücher seien. Ihm sei vorgeworfen worden, er habe seine Religion aufgegeben und propagiere nun für das Christentum. Dabei sei der Beschwerdeführer immer wieder verprügelt worden. Dennoch habe der Beschwerdeführer nichts gesagt. Am zweiten Tag sei dem Beschwerdeführer versprochen worden, er werde freigelassen, wenn er der Polizei verrate, wo die christlichen Bücher seien. Der Beschwerdeführer habe ihnen geglaubt und ihnen die Bücher gezeigt. Er sei jedoch nicht freigelassen, sondern in ein anderes offizielles Gefängnis gebracht worden. Dort habe man den Beschwerdeführer dazu befragt, mit wem er zusammenarbeite. Dazu habe der Beschwerdeführer jedoch geschwiegen. Am vierten Tag sei ein Mullah zum Beschwerdeführer gebracht worden, der gesagt habe, er müsse nach dem Gesetz der Scharia entweder gesteinigt oder verbrannt werden. Wieder sei ihm versprochen worden, er könne dieser Strafe entgehen, wenn er seine „Komplizen“ verrate. In der Nacht habe der Leiter des Gefängnisses den Beschwerdeführer aufgesucht und ihm ein Telefon und einen Schlüssel gegeben, damit der Beschwerdeführer um Mitternacht fliehen könne. Mit Hilfe dieses Schlüssels habe der Beschwerdeführer die Tür zur Toilette aufsperren und durch das WC-Fenster fliehen können. Nachdem er sich einige Meter vom Gefängnis entfernt habe, habe der Beschwerdeführer seinen Bruder angerufen und einen Treffpunkt ausgemacht. Der Bruder habe mit dem Motorrad auf ihn gewartet und eine Tasche sowie Geld bei sich gehabt. In einer Gegend namens XXXX habe der Bruder den Beschwerdeführer abgesetzt. Der Beschwerdeführer habe einen längeren Fußweg zurückgelegt und sei schließlich mit einem Taxi in die Stadt Ghazni gefahren. Am nächsten Tag sei er wieder nach Nimruz gefahren und mit Hilfe eines Schleppers ausgereist.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 4.4.2018, zugestellt am 9.4.2018, wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt II.), erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG (Spruchpunkt III.), erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde mit zwei Wochen (gemeint: 14 Tagen) ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Begründend führte die belangte Behörde aus, der Beschwerdeführer habe in Zusammenhang mit seiner Fluchtgeschichte keine glaubhaften Angaben machen können. Details zum behaupteten Besitz einer Buchhandlung habe der Beschwerdeführer erst auf konkrete Fragestellungen genannt. Dabei sei insbesondere auffällig, dass der Beschwerdeführer nicht in Kenntnis seines Warenbesitzes sei. Insgesamt seien die Schilderungen des Beschwerdeführers nicht nachvollziehbar und widersprüchlich gewesen, weshalb bereits der Besitz einer Buchhandlung an sich nicht glaubhaft sei. Die Angaben des Beschwerdeführers zu seiner Festnahme durch die Polizei und der Flucht des Beschwerdeführers seien oberflächlich und detailarm gewesen, weshalb nicht davon ausgegangen werden könne, dass der Beschwerdeführer persönlich Erlebtes geschildert habe. Das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers sei daher in seiner Gesamtheit nicht glaubhaft. Im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan sei dem Beschwerdeführer seine Niederlassung in Kabul zumutbar, zumal der Beschwerdeführer bereits ein Jahr dort gelebt habe.

Dagegen richtet sich die am 4.5.2018 bei der belangten Behörde eingelangte vollumfängliche Beschwerde wegen unrichtiger Feststellungen, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Darin wird im Wesentlichen das Vorbringen des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen wiederholt und vorgebracht, die von der belangten Behörde vorgenommene Beweiswürdigung sei nicht nachvollziehbar, zumal diese fast ausschließlich aus selektiven Zitaten aus dem Protokoll der Einvernahme und Textbausteinen bestehe und zum Teil aktenwidrig sei. Mit dem zentralen Vorbringen des Beschwerdeführers habe sich die belangte Behörde nicht einmal in rudimentärer Wiese auseinandergesetzt. Weiter werden mit vorliegender Beschwerde Länderberichte zur allgemeinen Sicherheitslage in Afghanistan, insbesondere Kabul, sowie zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers eingebracht. Eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe aufgrund der katastrophalen Sicherheitslage in Afghanistan und der Gefahr einer existenzbedrohenden Lage im Fall einer Rückkehr für den Beschwerdeführer nicht. In seiner Heimat drohe dem Beschwerdeführer Verfolgung im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention, weshalb ihm Asyl zu gewähren sei.

Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Entscheidung vorgelegt. In einem verzichtete die belangte Behörde auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Beschwerdeverhandlung und beantragte die Abweisung der Beschwerde.

Mit Schreiben vom 22.1.2019 legte die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers eine aktuelle Meldebestätigung des Beschwerdeführers vor.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl übermittelte dem Bundesverwaltungsgericht am 21.3.2019 eine Anfrage des Amts der XXXX Landesregierung, XXXX Einwanderung und Staatsbürgerschaft an die belangte Behörde zu Kenntnis. Aus dieser ist ersichtlich, dass der Beschwerdeführer die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft beantragt hat.

Am 18.12.2019 ersuchte das Bundesverwaltungsgericht die Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl um Beantwortung einer Anfrage zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers.

Mit Schreiben vom 9.1.2020 teilte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit, es sei im gegenständlichen Fall in öffentlich zugänglichen Quellen recherchiert worden. Im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche auf Deutsch und Englisch habe man jedoch keine Informationen gefunden. Eine Übermittlung der Anfrage an eine externe Stelle sei aufgrund deren personenbezogener Natur nicht möglich, da der Schutz von personenbezogenen Daten von Antragstellern und deren Angehörigen gegenüber dem Herkunftsstaat sowie potentiellen Verfolgern gesichert sein müsse. Es sei daher nicht möglich, weitere Informationen vor Ort einzuholen, ohne dabei auf mögliche Rückschlüsse auf den Antragsteller zu schließen.

Das Bundesverwaltungsgericht beraumte mit Schreiben vom 13.1.2020 eine mündliche Beschwerdeverhandlung für den 19.2.2020 an, brachte Länderberichte in das Verfahren ein und gab dem Beschwerdeführer sowie der belangten Behörde Gelegenheit zur Stellungnahme.

Das Bundesverwaltungsgericht führte zur Ermittlung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes am 19.2.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer, sein bevollmächtigter Rechtsvertreter, ein Dolmetscher für die Sprache Dari, ein länderkundlicher Sachverständiger für Afghanistan und vier Vertrauenspersonen des Beschwerdeführers teilnahmen. Die belangte Behörde blieb der mündlichen Verhandlung fern.

In der mündlichen Verhandlung wurde der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt und hielt sein Vorbringen einer Verfolgungsgefahr im Herkunftsstaat wegen des Verkaufs christlicher Bücher und unterstellter Konversion aufrecht. Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers legte aktuelle Integrationsunterlagen sowie eine Übersetzung eines bereits im Verwaltungsverfahren vorgelegten Drohbriefes vor, die als Beilage ./1 und Beilage ./2 zum Akt genommen wurden. Der länderkundliche Sachverständige wurde in der mündlichen Beschwerdeverhandlung mit der Ausarbeitung eines schriftlichen länderkundlichen Gutachtens binnen einer Frist von zwei Monaten beauftragt.

Am 30.3.2020 langte das Gutachten des länderkundlichen Sachverständigen vom 25.3.2020 beim erkennenden Gericht ein. Der Sachverständige habe Forschungen in Kabul und in der Heimatregion des Beschwerdeführers angestellt. Dabei hätten die Mitarbeiter des Sachverständigen in Kabul und in XXXX festgestellt, dass der Beschwerdeführer und seine Familie sowohl in Kabul als auch in XXXX gelebt hätten. Aus dem vorliegenden Gutachten ergibt sich, dass es sich beim Vater des Beschwerdeführers tatsächlich um einen alterfahrenen Lehrer handelt. Weder die Bevölkerung von XXXX , noch die Mitarbeiter des Sachverständigen seien daher der Meinung, dass der Vater des Beschwerdeführers ein brutaler Mann sei, der gegen die Mutter des Beschwerdeführers abscheulich vorgegangen sei und sie erpresst habe. Die Mutter des Beschwerdeführers habe zudem fünf Kinder, wodurch sie fünf Personen auf ihrer Seite habe, die dem Vater kaum erlauben würden, ihre Mutter zu foltern und zu quälen. Die meisten Lehrer in Afghanistan seien zudem gebildet und würden mit zunehmendem Alter zu milden Persönlichkeiten. In XXXX sei bekannt, dass der Beschwerdeführer außerhalb von Afghanistan lebe. Es habe jedoch niemand gewusst, wo der Beschwerdeführer im Ausland leben könne. Die Buchhandlung des Beschwerdeführers sei im Zentrum von XXXX in der Distrikthauptstadt XXXX situiert und weiterhin in Betrieb. Den vermeintlichen Verkauf von christlichen Büchern durch den Beschwerdeführer habe niemand im Zentrum bestätigen können. Es habe niemand gehört, dass der Beschwerdeführer christliche Bücher verkauft bzw. wegen Konversion Schwierigkeiten bekommen habe und im Gefängnis gewesen sei. Im Fall von Konversion könne sich die Geistlichkeit zwar darüber aufregen und den Staat auffordern, den „Täter“ nicht freizulassen und hart zu bestrafen; sie könne aber die Aufgaben der Polizei, Staatsanwaltschaft und der Gerichtsbarkeit in der staatlichen Verwaltung nicht an sich reißen. Sollte der Staat tatenlos bleiben, könne die Geistlichkeit die Regierung allenfalls mit Demonstrationen und Fatwas zwingen, etwas zu unternehmen. Nach Ansicht des Sachverständigen sei der vom Beschwerdeführer vorgelegte Brief der Geistlichkeit nicht echt. Die Angaben des Beschwerdeführers, wonach die Polizei und die schiitische Geistlichkeit ihm gedroht hätten, ihn den Taliban zu übergeben, würden nicht den Tatsachen in XXXX entsprechen. Die Taliban seien Todfeinde der Hazara und Schiiten. Diese würden ihre Straftäter daher nicht den Taliban übergeben.

Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte dem Beschwerdeführer und der belangten Behörde das Gutachten mit Schreiben vom 4.5.2020 und gab den Parteien Gelegenheit, binnen einer Frist von vier Wochen dazu Stellung zu nehmen.

Am 13.5.2020 langte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers zum Gutachten des länderkundlichen Sachverständigen ein, in der der Beschwerdeführer auf seine in der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 19.2.2020 getätigten Aussagen verwies. Diese würden seinen tatsächlichen Erlebnissen und der Wahrheit entsprechen. Weiter legte der Beschwerdeführer eine schriftliche Aussage seiner Geschäftsnachbarn in Afghanistan samt deren Ausweis-Dokumenten vor.

Am 22.5.2020 langte eine weitere Stellungnahme des Beschwerdeführers beim Bundesverwaltungsgericht ein, in der dieser unter anderem darauf verweist, dass sein Vater zwar Lehrer sei, dies jedoch nicht ausschließe, dass er gegenüber seiner Mutter sehr brutal gewesen sei. Es sei anzunehmen, dass man nicht schlecht über einen Menschen spreche, der als Nachbar neben einem wohne. Seine Buchhandlung existiere bereits seit viereinhalb Jahren nicht mehr. Die Buchhandlung, die der länderkundliche Sachverständige im Zentrum von XXXX gefunden habe, könne daher nicht seine sein. Es existiere eine weitere Buchhandlung unter dem Namen XXXX da dieser Name in Afghanistan sehr häufig sei. Der Besitzer dieser Buchhandlung gehöre aber nicht zur Familie des Beschwerdeführers. Hinsichtlich des Absatzes im vorliegenden länderkundlichen Gutachten, wonach niemand etwas darüber gehört habe, dass er Schwierigkeiten mit den Behörden wegen Konversion bekommen habe, führte der Beschwerdeführer aus, dass er auch nicht konvertiert sei. Seine Probleme mit den Behörden würden sich vielmehr daraus ergeben, dass er christliche Bücher verkauft habe. Der von ihm vorgelegte Brief der Geistlichkeit sei zudem echt. Dass der länderkundliche Sachverständige niemanden gefunden habe, der zugebe, dass der Beschwerdeführer christliche Bücher verkauft habe, könne viele Gründe haben, zumal es verboten sei, davon zu wissen und es nicht an die Behörden zu melden.

Die vom Beschwerdeführer mit Stellungnahme vom 13.5.2020 vorgelegten Dokumente wurden am 4.6.2020 im Beisein des erkennenden Richters und einer Schreibkraft von einer Dolmetscherin für die Sprache Dari übersetzt.

Mit Schreiben vom 9.6.2020 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht dem länderkundlichen Sachverständigen die vom Beschwerdeführer zum vorliegenden Gutachten eingebrachten Stellungnahmen.

Das Bundesverwaltungsgericht beraumte mit Schreiben vom 24.7.2020 eine mündliche Beschwerdeverhandlung für den 10.9.2020 an und brachte weitere Länderberichte ins Verfahren ein.

Die belangte Behörde gab mit Schreiben vom 8.9.2020 den Namen der Behördenbediensteten bekannt, welche an der mündlichen Beschwerdeverhandlung teilnehmen werde. Diese sei vollumfassend zur Vertretung des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl befugt und ermächtigt.

Zur Ermittlung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes führte das Bundesverwaltungsgericht am 10.9.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer, sein bevollmächtigter Rechtsvertreter, eine Dolmetscherin für die Sprache Dari, ein länderkundlicher Sachverständiger für Afghanistan, eine Vertreterin der belangten Behörde und zwei Vertrauenspersonen des Beschwerdeführers teilnahmen.

In der mündlichen Verhandlung wurde das Gutachten des länderkundlichen Sachverständigen erörtert und den Parteien Gelegenheit gegeben, Fragen an den Sachverständigen zu richten. Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers brachte vor, der Sachverständige habe in der letzten Verhandlung ein Einvernehmen zwischen Mullahs und den Taliban kategorisch ausgeschlossen. Er legte Berichte vor, aus denen jedoch hervorgehe, dass es sehr wohl Absprachen gebe. Die Taliban würden immer mehr an Macht gewinnen, weshalb die Mullahs gezwungen seien, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Diese Berichte wurden als Beilage ./1 zum Akt genommen. Der Sachverständige führte dazu aus, dass sich dies in der Region XXXX jedoch anders verhalte, da es in den schiitisch beherrschten Regionen keine Kooperation mit den Taliban gebe. Weiter legte der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers Arbeitszusagen vor, die als Beilage ./2 zum Akt genommen wurden. Das Ermittlungsverfahren wurde geschlossen.

Der Beschwerdeführer legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:

?        Drohbrief;

?        Übersetzung des Drohbriefes vom 10.2.2020;

?        schriftliche Aussage der (afghanischen) Geschäftsnachbarn samt Ausweisen;

?        Bestätigung der XXXX über Besuch eines Deutschkurses auf Niveau B1 im Zeitraum 12.2.2018 bis 23.3.2018 vom 23.3.2018;

?        ÖSD-Zertifikat Deutsch Österreich B1 (ausreichend bestanden) vom 11.7.2018;

?        Bestätigungen des XXXX , XXXX , Integration und Diversität über Teilnahme an den XXXX Info-Modulen Gesundheit, Soziales, Zusammenleben, Bildung und Arbeitsmarktintegration vom 24.2.2016, 2.3.2016, 9.3.2016, 11.10.2016 und 4.10.2017;

?        Bestätigung des XXXX über Teilnahme am Seminar „Interkulturelle Genderkompetenz“ vom 7.10.2016;

?        Bestätigung der Polizeiinspektion XXXX über Besuch eines Workshops des Arbeiter-Samariterbundes Österreichs in Kooperation mit der Landespolizeidirektion Wien zu den Themen österreichische Gesetze, Drogen und Gewalt vom 15.5.2017;

?        Bestätigung des Vereins „ XXXX “ über Besuch des „Workshops gegen die Angst“ vom 30.1.2020;

?        Bestätigung von XXXX über gemeinnützige Mitarbeit des Beschwerdeführers am 27.4.2019 im Rahmen der Aktion „ XXXX räumt auf“ vom 28.5.2019;

?        Bestätigung von XXXX über ehrenamtliche Tätigkeit des Beschwerdeführers vom 23.1.2020;

?        Bestätigung des XXXX über ehrenamtliche Mitarbeit des Beschwerdeführers seit Mai 2019 vom 31.1.2020;

?        Einstellungszusage des unprotokollierten Einzelunternehmens XXXX vom 19.8.2020;

?        Bestätigungsschreiben über laufende Ausbildung zum zertifizierten XXXX -Trainer samt Arbeitszusage der XXXX nach Absolvierung der Ausbildung vom 20.8.2020;

?        Bestätigungsschreiben des Vereins XXXX über Teilnahme an der Staatsmeisterschaft 2017 und dem World Cup 2017 in XXXX vom 2.12.2017;

?        Zertifikat über die Erlangung des blauen Gürtels im Kampfsport XXXX vom 9.12.2017;

?        Bestätigungsschreiben des Vereins XXXX über die sportlichen Erfolge des Beschwerdeführers (zuletzt Silber bei der Weltmeisterschaft 2019 in XXXX ) vom 8.2.2020;

?        Empfehlungsschreiben von XXXX vom 9.2.2018;

?        Empfehlungsschreiben der XXXX vom 22.3.2018;

?        Empfehlungsschreiben von XXXX vom 23.1.2020;

?        Empfehlungsschreiben von XXXX vom 30.1.2020;

?        Empfehlungsschreiben von XXXX vom 6.2.2020;

?        Empfehlungsschreiben von XXXX vom 9.2.2020;

?        Empfehlungsschreiben der XXXX vom 13.2.2020;

?        Empfehlungsschreiben von XXXX vom Februar 2020;

?        Empfehlungsschreiben des Vereins „ XXXX “ (undatiert);

?        Empfehlungsschreiben von XXXX (undatiert).

II.      Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

?        Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl;

?        Einvernahme des Beschwerdeführers im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht;

?        Einholung eines länderkundlichen Sachverständigengutachtens;

?        Einsichtnahme in folgende vom Bundesverwaltungsgericht eingebrachte Berichte:

-        Länderinformationsblatt Afghanistan der Staatendokumentation, Stand 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 21.7.2020;

-        European Asylum Support Office (EASO): Country Guidance: Afghanistan, June 2019; https://www.easo.europa.eu/sites/default/files/Country_Guidance_Afghanistan_2019.pdf

-        European Asylum Support Office (EASO): Country of Origin Information Report: Afghanistan, Individuals targeted by armed actors in the conflict, December 2017; https://www.easo.europa.eu/information-analysis/country-origin-information/country-reports

-        European Asylum Support Office (EASO): Bericht Afghanistan Netzwerke (Übersetzung durch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Staatendokumentation), Stand Jänner 2018;

https://www.easo.europa.eu/information-analysis/country-origin-information/country-reports

-        Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, 31.5.2018;

-        Ecoi.net – European Country of Origin Information Network: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Fähigkeit der Taliban, Personen (insbesondere Dolmetscher, die für die US-Armee gearbeitet haben) in ganz Afghanistan aufzuspüren und zu verfolgen (Methoden; Netzwerke), 15.2.2013;

-        Landinfo, Informationszentrum für Herkunftsländer: Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne (Arbeitsübersetzung durch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Staaten-dokumentation), 23.8.2017; https://landinfo.no/asset/3590/1/3590_1.pdf

?        Einsichtnahme in folgende Berichte und Informationen zur aktuell maßgeblichen Situation in Afghanistan aufgrund der COVID-19-Epidemie:

-        Länderinformationsblatt Afghanistan der Staatendokumentation, Stand 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 21.7.2020;

-        ACCORD, Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation: Afghanistan: Covid-19, 5.6.2020;

https://www.ecoi.net/de/dokument/2031621.html

-        Briefing Notes des deutschen Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8.6.2020, Afghanistan;

?        Einsichtnahme in die vom Beschwerdeführer vorgelegten Dokumente und Berichte.

2.       Feststellungen:

2.1.    Zur Person und den Lebensumständen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen und wurde am XXXX im Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der afghanischen Provinz Ghazni geboren. Er ist Staatsbürger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari, in der er über Lese- und Schreibkenntnisse verfügt. Weiter spricht der Beschwerdeführer Farsi und Deutsch auf Niveau B1 des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen. Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos.

Der Beschwerdeführer wuchs in seinem Heimatdorf im afghanischen Familienverband mit seinen Eltern, vier Brüdern und zwei Schwestern im familieneigenen Haus auf. Ab seinem sechsten bzw. siebten Lebensjahr besuchte der Beschwerdeführer ungefähr zehn Jahre lang die Schule. Bereits während seiner Schulzeit arbeitete der Beschwerdeführer bei einem Schneider und erlernte dort diesen Beruf. Nach zehn Jahren brach der Beschwerdeführer die Schule ab, um nach Kabul zu gehen. Dort eröffnete der Beschwerdeführer eine eigene Schneiderei und arbeitete ungefähr ein Jahr lang in Kabul, ehe er in sein Heimatdorf zurückkehre. In seinem Heimatdorf arbeitete der Beschwerdeführer weitere zweieinhalb Jahre als Schneider. Nachdem er etwas Geld gespart hatte, eröffnete der Beschwerdeführer schließlich eine Buchhandlung namens „ XXXX “ am Bazar in XXXX , der Distrikthauptstadt von XXXX . Dort arbeitete der Beschwerdeführer ungefähr dreieinhalb Jahre lang bis zu seiner Ausreise Richtung Europa.

Die Eltern des Beschwerdeführers, zwei Brüder und eine Schwester leben nach wie vor im familieneigenen Haus im Heimatdorf. Der Vater des Beschwerdeführers ist Lehrer und besitzt eigene Grundstücke bzw. Felder, auf denen die Brüder des Beschwerdeführers arbeiten. Zwei weitere Brüder des Beschwerdeführers leben in der afghanischen Provinz Helmand. Der älteste Bruder des Beschwerdeführers arbeitet dort als Polizist. Die älteste Schwester des Beschwerdeführers ist verheiratet und lebt im Heimatdistrikt XXXX . Im Heimatdistrikt des Beschwerdeführers leben zudem eine Tante väterlicherseits und eine Tante mütterlicherseits. Zwei Tanten väterlicherseits, zwei Onkel väterlicherseits, eine Tante mütterlicherseits und fünf Onkel mütterlicherseits des Beschwerdeführers leben in der Provinz Helmand. In Kabul lebt ein weiterer Onkel väterlicherseits des Beschwerdeführers. Der Beschwerdeführer steht in regelmäßigem Kontakt mit seiner Kernfamilie.

Der Beschwerdeführer ist im Wesentlichen gesund sowie arbeitsfähig und in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Der Beschwerdeführer stellte am 19.10.2015 seinen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet und hält sich seither durchgehend in Österreich auf. Er lebt in Österreich von der Grundversorgung und ist nicht erwerbstätig.

Der Beschwerdeführer hat seit seiner Einreise an mehreren Deutsch- und Integrations- bzw. Basisbildungskursen teilgenommen. Im Juli 2018 legte der Beschwerdeführer eine Prüfung zu seinen Deutschkenntnissen auf Niveau B1 des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen ab und erwarb ein ÖSD-Sprachzertifikat B1 mit der Bewertung „ausreichend bestanden“. Der Beschwerdeführer besucht in Österreich keine Schule und geht auch keiner Erwerbstätigkeit nach. Er ist seit 2017 ehrenamtlich beim Verein „ XXXX “ tätig, half freiwillig im April 2019 im Rahmen der Aktion „ XXXX räumt auf“ mit und arbeitet seit Mai 2019 ehrenamtlich beim XXXX wo er an einem Nachmittag in der Woche die Bewohner betreut. Der Beschwerdeführer zeigte sich bemüht Arbeit zu finden und kam mit dem Inhaber des unprotokollierten Einzelunternehmens XXXX in Kontakt, der sich den Beschwerdeführer gut in seinem Team vorstellen könnte. Eine Einstellung war bislang nicht möglich, da der Beschwerdeführer über keine gültige Arbeitserlaubnis verfügt. Der Beschwerdeführer hat in Österreich soziale Kontakte – auch zu österreichischen Staatsbürgern – geknüpft. Er hat eine österreichische Freundin, mit der er jedoch nicht in einer Lebensgemeinschaft lebt. In seiner Freizeit übt der Beschwerdeführer gerne den Kampfsport „ XXXX “ aus und nimmt an Wettkämpfen im XXXX teil. Zuletzt gewann der Beschwerdeführer Silber bei der Weltmeisterschaft 2019 in XXXX . Der Beschwerdeführer absolviert derzeit eine Ausbildung zum zertifizierten XXXX -Trainer, die er voraussichtlich im Jänner 2021 abschließen wird. Die XXXX hat dem Beschwerdeführer eine Anstellung als Trainer nach bestandener Prüfung in Aussicht gestellt. Zukünftig möchte der Beschwerdeführer seinen Pflichtschulabschluss machen und anschließend eine Ausbildung zum Pfleger absolvieren, um in einem Seniorenheim arbeiten zu können.

Der Beschwerdeführer hat eine österreichische Freundin, mit der er seit Anfang 2020 zusammen ist. Er lebt mit seiner Freundin in keiner Lebensgemeinschaft im Sinn einer Wohn-, Wirtschafts- und Geschlechtsgemeinschaft.

In Österreich leben keine Verwandten oder sonstige wichtige Bezugspersonen des Beschwerdeführers. Es besteht weder eine Lebensgemeinschaft des Beschwerdeführers in Österreich noch gibt es in Österreich geborene Kinder des Beschwerdeführers.

2.2.    Zu den Fluchtgründen und der Rückkehrsituation des Beschwerdeführers

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung persönlich bedroht oder verfolgt wurde oder eine Verfolgung im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan zu befürchten hätte.

Der Beschwerdeführer betrieb in Afghanistan am Bazar in XXXX , der Distrikthauptstadt von XXXX , ungefähr dreieinhalb Jahre bis zu seiner Ausreise Richtung Europa eine Buchhandlung namens „ XXXX “. Er verkaufte in dieser Buchhandlung jedoch keine christlichen Bücher. Den Beschwerdeführer suchten daher auch keine Zivilpolizisten in seiner Buchhandlung auf. Er wurde von der Polizei weder festgenommen, noch misshandelt oder gefoltert. Dem Beschwerdeführer wurde weder von der Polizei, der Geistlichkeit (den Mullahs), noch von den Taliban unterstellt, christliche Bücher zu verkaufen oder zum Christentum konvertiert zu sein. Die Familie des Beschwerdeführers erhielt daher auch keinen Drohbrief von Mullahs oder Drohanrufe von den Taliban. Im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan ist der Beschwerdeführer keinen Übergriffen bzw. Verfolgung durch die Regierung, die Taliban, die Geistlichkeit oder sonstige Akteure bis hin zu seiner Tötung etwa aus Gründen seiner Religion ausgesetzt. Ein konkreter Anlass, aus dem der Beschwerdeführer den Herkunftsstaat verlassen hat, kann nicht festgestellt werden.

Dem Beschwerdeführer droht in Afghanistan auch keine Verfolgung aufgrund einer ihm unterstellten religiösen Gesinnung infolge des von ihm behauptete Abfalls vom Islam (Apostasie) oder aufgrund der Nichteinhaltung religiöser Vorschriften. Der Beschwerdeführer hat keinen inneren Entschluss gefasst bzw. die innere Überzeugung angenommen, sich vom muslimischen Glauben und dem Leben nach den Gepflogenheiten des Islams substantiell zu entfernen und/oder konfessionslos zu werden. Er hat auch keinen inneren Entschluss für die Annahme eines bestimmten Glaubens bzw. eines Bekenntnisses zu einer bestimmten anderen Religion gefasst. Der geht auch keiner anderen (neuen) religiösen Überzeugung aktiv nach bzw. tritt auch nicht religionsfeindlich oder gar spezifisch gegen den Islam auf. Ebenso hat der Beschwerdeführer keine innere Einstellung dahingehend angenommen, sich Dritten gegenüber aktiv als vom muslimischen Glauben abgewandt darzustellen. Der Beschwerdeführer übt derzeit keine religiösen Riten, wie Beten oder Faste aus. Er hat sich jedoch nicht in einer für die Außenwelt erkennbaren Weise vom islamischen Glauben losgelöst. Dem Beschwerdeführer droht aufgrund der Tatsache, dass er keine religiösen Riten (Beten, Fasten) ausübt, in Afghanistan bei einer Ansiedelung in einer Großstadt keine physische oder psychische Gewalt. Der Beschwerdeführer hat keine Verhaltensweisen verinnerlicht, die bei einer Rückkehr nach Afghanistan als Glaubensabfall gewertet werden würden. Dem Beschwerdeführer droht daher in Afghanistan aufgrund eines auch nur unterstellten Abfalles vom islamischen Glauben keine Gefahr der physischen oder psychischen Gewalt.

Dem Beschwerdeführer droht im Fall seiner Rückkehr in den Herkunftsstaat auch keine Verfolgung oder Übergriffe wegen seiner Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit.

Ebenso wenig drohen dem Beschwerdeführer als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan Übergriffe durch Privatpersonen, staatliche Stellen oder sonstige Akteure.

Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und Aufständischen betroffen. Die Betroffenheit von Kampfhandlungen sowie deren Auswirkungen für die Zivilbevölkerung sind regional unterschiedlich.

Die Heimatprovinz des Beschwerdeführers (Ghazni) zählt zu den volatilen, stark vom Konflikt betroffenen Provinzen Afghanistans. Aufständische sind in einigen Distrikten aktiv und führen terroristische Aktivitäten gegen die Regierung und Sicherheitseinrichtungen aus. Gleichzeitig führen die Regierungskräfte regelmäßig Operationen in Ghazni durch, um die Aufständischen aus der Provinz zu vertreiben. Die Sicherheitslage in der Provinz hat sich in den letzten Jahren stark verschlechtert. Ende 2018 standen acht Distrikte der Provinz unter der Kontrolle der Taliban, fünf weitere Distrikte waren stark umkämpft. Zwischen Februar und Juni 2019 war Ghazni eines der aktivsten Konfliktgebiete Afghanistans. Es kommt regelmäßig zu militärischen Operationen, darunter auch Luftangriffen.

Im Fall einer Rückkehr des Beschwerdeführers in seine Herkunftsprovinz Ghazni droht ihm die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen zwischen regierungsfeindlichen Gruppierungen und Streitkräften der Regierung oder durch Übergriffe von regierungsfeindlichen Gruppierungen gegen die Zivilbevölkerung zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Die Hauptstadt Kabul ist von innerstaatlichen Konflikten und insbesondere stark von öffentlichkeitswirksamen Angriffen der Taliban und anderer militanter Gruppierungen betroffen. Kabul verzeichnet eine hohe Anzahl ziviler Opfer. Die afghanische Regierung führt regelmäßig Sicherheitsoperationen in der Hauptstadt durch.

Im Fall einer Niederlassung in Kabul droht dem Beschwerdeführer die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Die Provinzen Balkh und Herat gehören zu den friedlichsten Provinzen Afghanistans und sind vom Konflikt relativ wenig betroffen. Insbesondere Balkh gehört zu den stabilsten und ruhigsten Provinzen Afghanistans mit im Vergleich zu anderen Provinzen geringen Aktivitäten von Aufständischen. In den letzten Monaten versuchten Aufständische der Taliban die nördliche Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Die Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif ist davon jedoch nicht betroffen. Die Provinz Herat ist eine relativ entwickelte Provinz im Westen Afghanistans. Aufständische sind in einigen abgelegenen Distrikten aktiv. Die Hauptstadt der Provinz – Herat (Stadt) – ist davon wenig betroffen und gilt trotz Anstiegs der Kriminalität nach wie vor als sehr sicher. Sowohl Mazar-e Sharif in Balkh als auch Herat (Stadt) stehen unter Regierungskontrolle. Beide Städte verfügen über einen internationalen Flughafen, über den sie sicher erreicht werden können.

Für den Fall einer Niederlassung des Beschwerdeführers in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat kann nicht festgestellt werden, dass diesem die Gefahr droht, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Die Provinzen Balkh und Herat waren von einer Dürre betroffen. Ernährungssicherheit, Zugang zu Wohnmöglichkeiten, Wasser und medizinische Versorgung sind in Mazar-e Sharif und Herat (Stadt) grundsätzlich gegeben. Aufgrund der derzeit bestehenden Pandemie durch das Corona-Virus ist der Zugang zu einer medizinischen Versorgung in Mazar-e Sharif und Herat (Stadt) zwar vorhanden, jedoch beschränkt. In der Provinz Balkh gibt es ein Krankenhaus, welches COVID-19 Patienten behandelt und über 200 Betten verfügt. Die Arbeitslosigkeit im Herkunftsstaat ist hoch und Armut verbreitet. Aufgrund kurzfristiger Lockdowns kann auch die Möglichkeit, sich durch eigene Arbeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen, zeitlich begrenzt eingeschränkt sein. Derzeit sind die Dienstzeiten im privaten und öffentlichen Sektor auf sechs Stunden pro Tag beschränkt und die Beschäftigten werden in zwei ungerade und gerade Tagesschichten eingeteilt. In den Städten ist die Zahl der aktiven Fälle von COVID-19 zurückgegangen. Die afghanische Regierung ist im Rahmen des Dastarkhan-e-Milli-Programms bemüht, Haushalte zu unterstützen, die sich in wirtschaftlicher Not befinden. Auf der Grundlage des Programms will die Regierung in der ersten Phase 86 Millionen Dollar und dann in der zweiten Phase 158 Millionen Dollar bereitstellen, um Menschen im ganzen Land mit Nahrungsmitteln zu versorgen.

Im Fall einer Rückführung des – arbeitsfähigen und volljährigen – Beschwerdeführers nach Mazar-e Sharif oder Herat (Stadt) ist davon auszugehen, dass er sich – wenn auch nach anfänglichen Schwierigkeiten – eine Lebensgrundlage wir aufbauen und die Grundbedürfnisse seiner menschlichen Existenz wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft wird decken können. Der Beschwerdeführer wird im Fall seiner Niederlassung in Mazar-e Sharif oder Herat (Stadt) ein mit anderen dort lebenden Afghanen vergleichbares Leben ohne unbillige Härten führen können. Der Beschwerdeführer ist ein junger Mann von XXXX Jahren, der an keinen schwerwiegenden Erkrankungen leidet und (hinsichtlich COVID-19) nicht unter die Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit bestimmten Vorerkrankungen wie Diabetes, Herzkrankheiten oder Bluthochdruck fällt. Er ist mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftslandes vertraut, verfügt über eine zehnjährige Schulbildung und eine Ausbildung zum Schneider und weist mehrjährige Berufserfahrung als Schneider und Buchhändler auf. Zudem spricht er mit Dari eine Sprache des Herkunftsstaates muttersprachlich. Der Beschwerdeführer verbrachte sein gesamtes Leben bis zu seiner Ausreise im Spätsommer bzw. Frühherbst 2015 in Afghanistan und wurde dort im afghanischen Familienverband sozialisiert. Der Beschwerdeführer hat keine Sorgepflichten. Der Aufbau einer Existenzgrundlage in den Großstädten Mazar-e Sharif oder Herat (Stadt) ist ihm, wenn auch nach anfänglichen Schwierigkeiten, möglich.

Es gibt in Afghanistan unterschiedliche Unterstützungsprogramme für Rückkehrer von Seiten der Regierung, von NGOs und durch internationale Organisationen, die der Beschwerdeführer in Anspruch nehmen könnte. IOM bietet in Afghanistan Unterstützung bei der Reintegration an.

2.3.    Zur Lage im Herkunftsstaat

2.3.1.  Staatendokumentation (Stand 21.7.2020, außer wenn anders angegeben):

Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020; UNGASC 17.3.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28. September stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020).

Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.4.2020). Am 9.3.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020), einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.5.2020; vgl. BBC 17.5.2020; DW 17.5.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 13.3.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004; USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen, von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen, verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs, die Gespräche (AJ 7.5.2020) [ Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 6.5.2020)], Andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 7.5.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.4.2020).

Das Abkommen mit den US-Amerikanern

Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. In den ersten 135 Tagen nach der Unterzeichnung werden die US-Amerikaner ihre Truppen in Afghanistan auf 8.600 Mann reduzieren. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020).

Quellen siehe Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Kap. 1.

Allgemeine Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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