TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/27 W270 2231339-1

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Veröffentlicht am 27.10.2020
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Entscheidungsdatum

27.10.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
B-VG Art133 Abs4

Spruch

W270 2215870-1/15E

W270 2215869-1/9E

W270 2231339-1/8E

Schriftliche Ausfertigung der am 23.09.2020 mündlich verkündeten Erkenntnisse

IM NAMEN DER REPUBLIK!

I. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. GRASSL über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung, Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.01.2019, Zl. XXXX , in einer Angelegenheit nach dem AsylG 2005, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht erkannt:

A)

1. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

2. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. GRASSL über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Mutter, XXXX , diese vertreten durch die ARGE Rechtsberatung, Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.01.2019, Zl. XXXX , in einer Angelegenheit nach dem AsylG 2005, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht erkannt:

A)

1. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß §§ 34 Abs. 2 AsylG 2005 iVm 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

2. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

III. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. GRASSL über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Mutter, XXXX , diese vertreten durch die ARGE Rechtsberatung, Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.01.2020, Zl. XXXX , in einer Angelegenheit nach dem AsylG 2005, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht erkannt:

A)

1. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß §§ 34 Abs. 2 AsylG 2005 iVm 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

2. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. XXXX (in Folge: „Erstbeschwerdeführerin“) stellte am 06.12.2018 für sich und ihren Sohn, XXXX (in Folge: „Zweitbeschwerdeführer“), einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. In ihrer am selbigen Tag stattgefundenen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdiensts gab die Erstbeschwerdeführerin im Wesentlichen an, dass ihr Ehemann in Österreich den Status des subsidiär Schutzberechtigten erlangt habe und sie denselben Schutzstatus beantrage.

2. Bei ihrer Einvernahme vor der belangten Behörde am 23.01.2019 gab die Erstbeschwerdeführerin zu den Gründen für ihre Asylantragstellung befragt im Wesentlichen an, dass sie mit ihrem Sohn nach Österreich gereist sei, weil ihr Mann hier lebe. In Afghanistan habe sie als Frau keine Freiheit gehabt und das Haus nicht verlassen dürfen.

3. Die belangte Behörde wies die gegenständlichen Anträge der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (jeweils Spruchpunkt I.) mit Bescheiden jeweils vom 30.01.2019, Zl. XXXX (in Folge: „Bescheid 1“), und Zl. XXXX (in Folge: „Bescheid 2“) ab. Den Beschwerdeführern wurde mit diesen Bescheiden der Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt (jeweils Spruchpunkt II.) und diesen gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 09.09.2019 erteilt (jeweils Spruchpunkt III.). Die Behörde begründete ihre Entscheidung im Wesentlichen damit, dass die Erstbeschwerdeführerin eine asylrelevante Verfolgung aufgrund einer westlichen Geisteshaltung bezogen auf ihren Heimatstaat nicht habe glaubhaft machen können. Da dem Ehemann der Erstbeschwerdeführerin bereits subsidiärer Schutz gewährt worden sei, werde auch ihr und ihrem Sohn der Status der subsidiär Schutzberechtigten gewährt.

4. In der gegen Spruchpunkt I. dieser Bescheide erhobenen Beschwerde vom 01.03.2019 rügten die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer insbesondere eine inhaltliche Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie die Verletzung von Verfahrensvorschriften. Zudem äußerte sich die Erstbeschwerdeführerin nochmals zu ihrer westlichen Einstellung und legte diesbezügliche Beweismittel vor.

5. Am 13.01.2020 stellte der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin einen Antrag auf internationalen Schutz für ihren am 13.12.2019 geborenen gemeinsamen Sohn, XXXX (in Folge: „Drittbeschwerdeführer“) und gab an, dass dieser über keine eigenen Gründe für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten bzw. des subsidiär Schutzberechtigten verfüge.

6. Die belangte Behörde wies den gegenständlichen Antrag des Drittbeschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) mit Bescheid vom 23.01.2020, Zl. XXXX (in Folge: „Bescheid 3“), ab. Dem Drittbeschwerdeführer wurde mit gegenständlichem Bescheid der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt (Spruchpunkt II.) und diesem gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 09.09.2021 erteilt (Spruchpunkt III.).

7. Gegen Bescheid 3 erhob der Drittbeschwerdeführer, vertreten durch die Erstbeschwerdeführerin Beschwerde.

8. Mit Parteiengehör vom 29.07.2020 wurde die Erstbeschwerdeführerin aufgefordert, Tatsachen zur Entwicklung ihres Lebens in Österreich sowie zu ihrem Gesundheitszustand und zum Gesundheitszustand des Zweit- und Drittbeschwerdeführers bekannt zu geben. Gleichzeitig wurde den Beschwerdeführern das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation sowie weitere länderkundliche und sonstige Informationen zur Kenntnis gebracht.

9. Mit Stellungnahme vom 11.08.2020 äußerte sich die Erstbeschwerdeführerin zu ihrer Lebensweise in Österreich und legte auch weitere Beweismittel zur Situation in Afghanistan vor.

10. Mit Parteiengehör vom 01.09.2020 teilte das Bundesverwaltungsgericht den Parteien seine vorläufige Rechtsansicht mit und räumte diesen die Möglichkeit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen ab Erhalt dieses Schreibens ein.

11. Die belangte Behörde äußerte sich dazu mit Schreiben vom 02.09.2020 und führte insbesondere aus, dass die von der Erstbeschwerdeführerin angegebene Lebens- und Verhaltensweise erst zu einem Zeitpunkt entstanden sei als die Erstbeschwerdeführerin bereits über einen aufrechten Schutzstatus in Österreich verfügt habe.

12. Am 23.09.2020 fand am Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung statt in deren Rahmen die Erstbeschwerdeführerin insbesondere zu ihrem Leben in Österreich und in Afghanistan einvernommen wurde. Nach Schluss der Verhandlung wurden die gegenständlichen Erkenntnisse verkündet.

13. Mit Schreiben vom 28.09.2020 ersuchte die belangte Behörde um die schriftliche Ausfertigung der Erkenntnisse.

II. Feststellungen:

1. Zu den Personen:

1.1. Zur Erstbeschwerdeführerin:

1.1.1. Die Erstbeschwerdeführerin trägt den Namen XXXX und ist Staatsbürgerin der Islamischen Republik Afghanistan. Sie wurde dort am XXXX geboren und stammt aus der Provinz Paktia, dem Distrikt Said Karam, dem Dorf XXXX .

1.1.2. Sie gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache der Erstbeschwerdeführerin ist Paschtu.

1.1.3. Die Erstbeschwerdeführerin konnte in ihrem Heimatdorf weder die Schule besuchen noch Arbeitserfahrung sammeln. Da die Eltern der Beschwerdeführerin streng konservativ sind, durfte sie das Elternhaus auch nicht verlassen und musste sich verschleiern.

1.1.4. Die Eltern der Erstbeschwerdeführerin leben seit ungefähr zweieinhalb Jahren in Kabul. Die Erstbeschwerdeführerin steht mit ihren Eltern fast täglich über das Internet in Kontakt.

1.1.5. Die Erstbeschwerdeführerin ist gesund.

1.1.6. Die Erstbeschwerdeführerin reiste am 04.09.2018 legal aus Afghanistan aus und stellte am 06.12.2018 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

1.1.7. Mit Bescheid 1 wurde der Erstbeschwerdeführerin von der belangten Behörde gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt, wobei gegen diese Entscheidung auch kein Rechtsmittel erhoben wurde. Begründet wurde die Entscheidung damit, dass die Gewährung ausschließlich wegen des aufrechten Status des Ehemanns der Erstbeschwerdeführerin als subsidiär Schutzberechtigten erfolgte. Jenem war durch Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 09.09.2014, Zl. W124 1425126-1/11E, der Status als subsidiär Schutzberechtigter zuerkannt worden, wobei dieser Status weiterhin aufrecht ist. Die Zuerkennung begründete das Bundesverwaltungsgericht insbesondere damit, dass eine Rückkehr in die Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers aufgrund der Sicherheitslage nicht möglich wäre. Auch habe er in Kabul weder soziale noch familiäre Netzwerke und wäre auf sich alleine gestellt. Es seien außerdem den Länderinformationen Schwierigkeiten für außerhalb des Familienverbands und ohne sie erwartendes Netzwerk nach längerer Abwesenheit zurückkehrende Rückkehrer in wirtschaftlicher und sozialer Art zu entnehmen. Auch habe der Beschwerdeführer in plausibler Weise angegeben, dass man ihm unterstellen würde, dass er seinen Glauben geändert habe, er viel Geld besitze sowie, dass ihm der Tod drohe.

1.2. Zum Zweitbeschwerdeführer:

1.2.1. Der Zweitbeschwerdeführer trägt den Namen XXXX und wurde am XXXX in der afghanischen Provinz Paktia geboren und ist dort bis zu seinem achten Lebensjahr auch aufgewachsen.

1.2.2. Er stellte, vertreten durch die Erstbeschwerdeführerin am 06.12.2018 den Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid 1 wurde dem Zweitbeschwerdeführer der Status als subsidiär Schutzberechtiger zuerkannt.

1.2.3. In Österreich lebt der Zweitbeschwerdeführer mit der Erstbeschwerdeführerin, seinem Bruder, dem Drittbeschwerdeführer und seinem Vater im Familienverband. Er ist gesund.

1.3. Zum Drittbeschwerdeführer:

1.3.1. Der Drittbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und wurde am XXXX in Österreich geboren und stellte am 13.01.2020 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid 3 wurde ihm der Status als subsidiär Schutzberechtigter zuerkannt.

1.3.2. Der Drittbeschwerdeführer lebt mit seiner Mutter, der Erstbeschwerdeführerin, seinem Bruder, dem Zweitbeschwerdeführer, und seinem Vater im Familienverband und ist gesund.

2. Zum individuellen Flucht- bzw. Nachfluchtvorbringen der Beschwerdeführer:

2.1. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer wurden in Afghanistan weder von einer regierungsfeindlichen oder regierungsnahen Gruppierung bedroht noch wurden sonstige Handlungen oder Maßnahmen von diesen gegen sie gesetzt.

2.2. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer hatte in ihrem Herkunftsstaat weder Probleme mit den Behörden, noch wurden sie wegen ihrer Nationalität, ihrer sexuellen Orientierung oder ihrem Bekenntnis zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam, ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Paschtunen oder wegen einer Zugehörigkeit zu einer anderen gesellschaftlichen Gruppe bedroht oder wurde sonst eine Handlung oder Maßnahme aus diesen Gründen gegen sie gesetzt.

2.3. Zu Tatsachen der Lebensweise (des Lebensstils) der Erstbeschwerdeführerin s. unten unter II.3.1.1. ff.

3. Zum Leben der Beschwerdeführer in Österreich:

3.1. Zur Erstbeschwerdeführerin:

3.1.1. Die Erstbeschwerdeführerin lebt gemeinsam mit ihrem Ehemann und dem Zweit- und Drittbeschwerdeführer in XXXX .

3.1.2. Bei der Erstbeschwerdeführerin handelt es sich um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist.

3.1.3. Sie ist eine selbstbewusste Mutter, die mit ihren Kindern spazieren geht und am Spielplatz und in Parks andere Mütter trifft. Sie geht ins Freibad und unternimmt mit Freundinnen Ausflüge in den Tiergarten. Die Erstbeschwerdeführerin nimmt auch Arztbesuche mit ihren Kindern alleine war. Sie fährt alleine mit öffentlichen Verkehrsmitteln und plant, in näherer Zukunft den Führerschein zu machen. Die Erstbeschwerdeführerin geht in Österreich regelmäßig selbstständig – durchwegs alleine ohne Begleitung ihres Mannes – sowohl Lebensmittel als auch Kleidung einkaufen und geht dafür auch alleine in Einkaufszentren. Sie trägt westeuropäische Kleidung und Make-up. Sie wählt ihre Kleidung selbst und verzichtet dabei insbesondere auf ein Kopftuch. Sie verfügt über ein eigenes Bankkonto, auf welches der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin monatlich 600€ überweist. Über dieses Geld kann die Erstbeschwerdeführerin frei verfügen und nimmt davon insbesondere Einkäufe wahr.

3.1.4. Die unter II.3.1.3. aufgezählten Umstände sind bereits als verinnerlichte Lebensbestandteile der Erstbeschwerdeführerin anzusehen.

3.1.5. Die Ehe der Erstbeschwerdeführerin und ihres Mannes gestaltet sich als sehr harmonisch, weil beide der Meinung sind, dass eine Ehe auf „gleicher Augenhöhe“ mit dem Partner funktionieren soll. Sie erziehen die Kinder in gemeinsamer Absprache. Diese können selbst entscheiden, welche Schule sie besuchen und welchen Beruf sie ausüben möchten.

3.1.6. Die Erstbeschwerdeführerin besuchte auch bereits einen Deutschkurs, musste diesen jedoch aufgrund ihrer Schwangerschaft abbrechen. Derzeit ist sie mit der Betreuung ihres jüngsten Kindes beschäftigt, plant jedoch den Deutschkurs fortzusetzen, sobald ihr Kind in eine Betreuungseinrichtung gehen kann. In Zukunft möchte sie als Dolmetscherin oder Schneiderin arbeiten.

3.1.7. Die Erstbeschwerdeführerin steht der Rolle der Frau in Afghanistan äußerst kritisch gegenüber. Sie ist der Ansicht, dass Frauchen gleichberechtigt sein sollen und das Recht auf freie Entscheidung und freie Lebensgestaltung haben. Die Erstbeschwerdeführerin lehnt es darüber hinaus ab, sich wieder dem konservativ-afghanischen Rollenbild der Frauen zu unterwerfen.

3.1.8. Die Erstbeschwerdeführerin ist strafrechtlich unbescholten.

3.2. Zum Zweitbeschwerdeführer:

Beim Zweitbeschwerdeführer handelt es sich um einen unmündigen Minderjährigen. Er besucht die 4. Klasse Volksschule.

3.3. Zum Drittbeschwerdeführer:

Beim Drittbeschwerdeführer handelt es sich um ein unmündiges Kleinkind von zehn Monaten, welches zu Hause von seinen Eltern betreut wird.

4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

4.1. Zur allgemeinen Lage in Afghanistan:

4.1.1. Sicherheitslage:

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren.

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung innerafghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt.

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück.

(Auszug bzw. Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 21.07.2020 [in Folge: „LIB“], Abschnitt 2. „Sicherheitslage“)

Nach 18 Jahren Krieg zwischen den USA und den Taliban unterzeichneten sie am 29. Februar 2020 in Doha ein Abkommen über den Abzug der US-Truppen im Gegenzug dafür, dass die Taliban sich bereit erklären, nicht mit Al-Qaida zusammenzuarbeiten und Gespräche mit der afghanischen Regierung aufzunehmen. Die afghanische Regierung war jedoch nicht an dem Abkommen beteiligt, so dass die Taliban sich später weigerten, mit dem Verhandlungsteam der afghanischen Regierung zusammenzuarbeiten, was Fragen nach der Tragfähigkeit des Abkommens und der Wahrscheinlichkeit aufwarf, dass es zu Frieden führen wird. Eine Woche vor der Unterzeichnung des Abkommens konnte in einem 8-tägigen Zeitraum der „Verringerung der Gewalt“ (RiV) ein deutlicher Rückgang der Sicherheitsvorfälle verzeichnet werden. Nachdem die RiV jedoch mit der Unterzeichnung des Abkommens endete, erklärten die Taliban, dass „der Krieg nicht gegen ausländische Truppen, sondern gegen die afghanische Regierung weitergeführt würde“. Die Taliban-Militärkommission hat sich Berichten zufolge auch bei der wichtigsten Taliban-Führung um Zusicherungen bemüht, dass die Kämpfe ungeachtet des Abkommens fortgesetzt werden.

Die beiden Hauptbestandteile des Abkommens bestehen darin, dass es Garantien gibt, alle ausländischen Streitkräfte im Rahmen eines stufenweisen Vorgehens über 135 Tage aus Afghanistan abzuziehen; im Gegenzug sollte es jedoch Mechanismen geben, die verhindern sollen, dass Afghanistan von Gruppen (insbesondere den Taliban und Al-Qaida) oder Einzelpersonen genutzt wird, die eine Sicherheitsbedrohung für die USA und ihre Verbündeten darstellen. Ferner wurde festgelegt, dass im März 2020 innerafghanische Verhandlungen über „echte Friedensgespräche“ stattfinden sollen, die zu einem dauerhaften und nachhaltigen Waffenstillstand und einer Einigung über die politische Zukunft Afghanistans führen sollen. Die AAN stellte jedoch im März 2020 fest, dass den Taliban im Rahmen des Abkommens „wenige Verpflichtungen“ auferlegt werden. Die Abkommen über die Freilassung von Taliban-Gefangenen führten auch zu Bedenken hinsichtlich einer Rückkehr zur Gewalt.

Zusammen mit dem Abkommen von Doha unterzeichneten die USA eine „gemeinsame Erklärung“ mit der Regierung Afghanistans, um eine politische Lösung und einen dauerhaften Waffenstillstand zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban zu ermöglichen, wobei sie gleichzeitig die fortgesetzte Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte bekräftigten und von einer Einmischung in innere Angelegenheiten absahen. Mitte Juni 2020 einigten sich die Taliban und die afghanische Regierung schließlich auf Doha als Veranstaltungsort für ihre erste Sitzung des hochrangigen „innerafghanischen Dialogs“, hielten aber die Bestätigung bis zu Meinungsverschiedenheiten über die Freilassung von Gefangenen zurück.

Nach Angaben der USA haben die Taliban seit dem Abschluss des Abkommens im Februar keine Angriffe auf internationale Streitkräfte unternommen; sie haben jedoch ihre Angriffe auf die afghanischen Regierungstruppen verstärkt. In einem Bericht über die Gewaltmuster in den vier Wochen seit den acht Tagen RiV, die im Rahmen des US-Taliban-Abkommens vereinbart wurden, kam die AAN zu dem Schluss, dass „die einzigen Zivilisten, die von dem US-Taliban-Abkommen profitiert haben, offenbar diejenigen sind, die in von den Taliban kontrollierten Gebieten leben“, in denen die US- und afghanischen Streitkräfte eine „defensive Haltung“ einnahmen und Luftangriffe und Nachtangriffe stoppten; in umstrittenen Gebieten stellte der Bericht jedoch fest, dass viele Zivilisten angaben, die Taliban würden erneut angreifen, und dass eine „mögliche Verschärfung des Konflikts“ befürchtet wurde. Die Gewalt wurde unmittelbar nach dem Ende der RiV wiederaufgenommen. Die Taliban setzten ihre Angriffe gegen den ANSF (über 76 Angriffe in 24 Provinzen innerhalb einer Woche nach Unterzeichnung des Abkommens) trotz des Abkommens fort. Die USA nahmen auch die Luftangriffe wieder auf, von denen der erste 5 Tage nach dem Abkommen stattfand.

Die AFP gab an, dass seit dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban die Angriffe der Taliban in den Städten weniger häufig waren, aber weiterhin auf die afghanischen Regierungstruppen in ländlichen Gebieten abzielten; so wurden beispielsweise bei einem Angriff der Taliban im Juni 2020 11 regierungsfreundliche Milizionäre getötet. Nach einem kurzen Waffenstillstand für Eid Ende Mai 2020 gaben Quellen, die vom Long War Journal (LWJ) zitiert wurden, an, dass die Taliban ihre Angriffe im Juni 2020 wieder verstärkten und die Angriffe auf Regierungstruppen intensivierten. Mitte Juni 2020 behauptete das Innenministerium, dass die Taliban über 200 Angriffe durchgeführt hätten, bei denen Anfang Juni mehr als 400 Sicherheitskräfte getötet oder verwundet wurden. Die New York Times berichtete unterdessen, dass im Juni 2020 322 regierungsnahe Sicherheitskräfte und 159 Zivilisten getötet wurden.

(Auszug bzw. Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen Country of Origin Information Report Afghanistan, Anti-Government Elements (AGEs), August 2020 [in Folge: „EASO-Bericht Regierungsfeindliche Gruppierungen“], abrufbar unter: https://www.easo.europa.eu/sites/default/files/2020_08_EASO_COI_AFG_Anti-Governement_Elements_Report.pdf, abgerufen am 14.10.2020, Abschnitt 1.2.)

4.1.2. Regierungsfeindliche Gruppierungen:

Allgemeines

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität.

Taliban

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes. Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde. Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind.

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind. Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt. Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000. Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen.

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden.

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren.

(Auszüge bzw. Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen aus dem LIB, Abschnitt. 2. „Sicherheitslage“)

4.1.3. Grundversorgungs- und Wirtschaftslage:

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2018 lediglich Platz 168 von 189 des Human Development Index. Die Armutsrate hat sich laut Weltbank von 38% (2011) auf 55% (2016) verschlechtert. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant: Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte gibt es vielerorts nur unzureichende Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport.

Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern. Jedoch konnte die afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern.

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft, wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%). Das BIP Afghanistans betrug im Jahr 2018 19,36 Mrd. US-Dollar. Die Inflation lag im Jahr 2018 durchschnittlich bei 0,6% und wird für 2019 auf 3,1% prognostiziert.

Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird. Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8%. Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren. Es wird erwartet, dass sich das Real-BIP in der ersten Hälfte des Jahres 2019 vor allem aufgrund der sich entspannenden Situation hinsichtlich der Dürre und einer sich verbessernden landwirtschaftlichen Produktion erhöht.

(Auszug bzw. Zusammenfassung aus dem LIB, Abschnitt 20. „Grundversorgung“)

4.1.4. Rechtsschutz und Justizwesen in Afghanistan:

Gemäß Artikel 116 der Verfassung ist die Justiz ein unabhängiges Organ der Islamischen Republik Afghanistan. Die Judikative besteht aus dem Obersten Gerichtshof (Stera Mahkama, Anm.), den Berufungsgerichten und den Hauptgerichten, deren Gewalten gesetzlich geregelt sind. In islamischen Rechtsfragen lässt sich der Präsident von hochrangigen Rechtsgelehrten des Ulema-Rates (Afghan Ulama Council – AUC) beraten. Dieser Ulema-Rat ist eine von der Regierung unabhängige Körperschaft, die aus rund 2.500 sunnitischen und schiitischen Rechtsgelehrten besteht.

Das afghanische Justizwesen beruht sowohl auf dem islamischen [Anm.: Scharia] als auch auf dem nationalen Recht; letzteres wurzelt in den deutschen und ägyptischen Systemen. Die rechtliche Praxis in Afghanistan ist komplex: Einerseits sieht die Verfassung das Gesetzlichkeitsprinzip und die Wahrung der völkerrechtlichen Abkommen – einschließlich Menschenrechtsverträge – vor, andererseits formuliert sie einen unwiderruflichen Scharia-Vorbehalt. Ein Beispiel dieser Komplexität ist das neue Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist. Die Organe der afghanischen Rechtsprechung sind durch die Verfassung dazu ermächtigt, sowohl das formelle, als auch das islamische Recht anzuwenden.

Obwohl das islamische Gesetz in Afghanistan üblicherweise akzeptiert wird, stehen traditionelle Praktiken nicht immer mit diesem in Einklang; oft werden die Bestimmungen des islamischen Rechts zugunsten des Gewohnheitsrechts missachtet, welches den Konsens innerhalb der Gemeinschaft aufrechterhalten soll. Unter den religiösen Führern in Afghanistan bestehen weiterhin tiefgreifende Auffassungsunterschiede darüber, wie das islamische Recht tatsächlich zu einer Reihe von rechtlichen Angelegenheiten steht.

Gemäß dem allgemeinen Scharia-Vorbehalt in der Verfassung darf kein Gesetz im Widerspruch zum Islam stehen. Eine Hierarchie der Normen ist nicht gegeben, sodass nicht festgelegt ist, welches Gesetz in Fällen des Konflikts zwischen traditionellem, islamischem Recht und seinen verschiedenen Ausprägungen einerseits und der Verfassung und dem internationalen Recht andererseits, zur Anwendung kommt. Diese Unklarheit und das Fehlen einer Autoritätsinstanz zur einheitlichen Interpretation der Verfassung führen nicht nur zur willkürlichen Anwendung eines Rechts, sondern auch immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen und stehen Fortschritten im Menschenrechtsbereich entgegen. Wenn keine klar definierte Rechtssetzung angewendet werden kann, setzen Richter und lokale Schuras das Gewohnheitsrecht durch. Was oft zu einer Diskriminierung von Frauen führte. Es gibt einen Mangel an qualifiziertem Justizpersonal und manche lokale und Provinzbehörden, darunter auch Richter, haben nur geringe Ausbildung und fundieren ihre Urteile auf ihrer persönlichen Interpretation der Scharia, ohne das staatliche Recht, Stammesrecht oder örtliche Gepflogenheiten zu respektieren. Diese Praktiken führen oft zu Entscheidungen, die Frauen diskriminieren. Trotz erheblicher Fortschritte in der formellen Justiz Afghanistans, bemüht sich das Land auch weiterhin für die Bereitstellung zugänglicher und gesamtheitlicher Leistungen; weit verbreitete Korruption sowie Versäumnisse vor allem in den ländlichen Gebieten gehören zu den größten Herausforderungen. Auch ist das Justizsystem weitgehend ineffektiv und wird durch Drohungen, Befangenheit, politische Einflussnahme und weit verbreitete Korruption beeinflusst. Das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren ist in der Verfassung verankert, wird aber in der Praxis selten durchgesetzt. Rechtsstaatliche (Verfahrens-)Prinzipien werden nicht konsequent.

Dem Gesetz nach gilt für alle Bürgerinnen und Bürger die Unschuldsvermutung und Angeklagte haben das Recht, beim Prozess anwesend zu sein und Rechtsmittel einzulegen; jedoch werden diese Rechte nicht immer respektiert. Obwohl die Verfassung das Recht auf öffentliche Prozesse vorsieht, finden nur in einigen Provinzen solche öffentlichen Prozesse statt. Auch verlangt das Gesetz von Richter/innen eine Vorankündigung von fünf Tagen vor einer Verhandlung. Nicht alle Richter/innen folgen diesen Vorgaben und viele Bürger beschwerten sich über Gerichtsverfahren, die sich oft über Jahre hinziehen. Beschuldigte werden von der Staatsanwaltschaft selten rechtzeitig über die gegen sie erhobenen Anklagen genau informiert. Die Beschuldigten sind dazu berechtigt – sofern es die Ressourcen erlauben – sich auf öffentliche Kosten von einem Pflichtverteidiger vertreten und beraten zu lassen; jedoch wird dieses Recht aufgrund eines Mangels an Strafverteidigern uneinheitlich umgesetzt. Dem Justizsystem fehlen die Kapazitäten, um die große Zahl an neuen oder veränderten Gesetzen zu absorbieren. Der Zugang zu Gesetzestexten wurde verbessert, jedoch werden durch die schlechte Zugänglichkeit immer noch einige Richter und Staatsanwälte in ihrer Arbeit behindert.

Richterinnen und Richter

Das Justizsystem leidet unter einem Mangel an Richtern - insbesondere in unsicheren Gebieten; weswegen viele Fälle durch informelle, traditionelle Mediation entschieden werden. Die Unsicherheit im ländlichen Raum behindert eine Justizreform, jedoch ist die Unfähigkeit des Staates, eine effektive und transparente Gerichtsbarkeit herzustellen, ein wichtiger Grund für die Unsicherheit im Land.

Die Rechtsprechung durch unzureichend ausgebildete Richter basiert in vielen Regionen auf einer Mischung aus verschiedenen Gesetze. Ein Mangel an Richterinnen – insbesondere außerhalb von Kabul – schränkt den Zugang von Frauen zum Justizsystem ein, da kulturelle Normen es Frauen verbieten, mit männlichen Beamten zu tun zu haben. Nichtsdestotrotz, sind in Afghanistan 257 Richterinnen tätig (13% - insgesamt 2.029 Richterinnen und Richter). Der Großteil von ihnen arbeitet in Kabul; aber auch in anderen Provinzen wie in Herat, Balkh, Takhar und Baghlan.

Sowohl Angeklagte, als auch deren Rechtsanwälte haben das Recht, vor den Verhandlungen Beweise und Dokumente im Zusammenhang mit den Verfahren zu prüfen. Nichtsdestotrotz sind Gerichtsdokumente trotz des Ersuchens der Verteidiger vor der Verhandlung oft nicht zur Prüfung verfügbar. Richter und Anwälte erhalten oft Drohungen oder Bestechungen von örtlichen Machthabern oder bewaffneten Gruppen. Die Richterschaft zeigt sich respektvoller und toleranter gegenüber Strafverteidigern, jedoch kommt es immer wieder zu Übergriffen auf und Bedrohung von Strafverteidigern durch die Staatsanwaltschaft oder andere Dienststellen der Exekutive. Anklage und Verhandlungen weisen eine Reihe von Schwächen auf: dazu zählen das Fehlen einer angemessenen Vertretung, übermäßige Abhängigkeit von unverifizierten Zeugenaussagen, einem Mangel an zuverlässigen forensischen Beweisen, willkürlichen Entscheidungen sowie Gerichtsentscheidungen, die nicht veröffentlicht werden.

Einflussnahme durch Verfahrensbeteiligte oder Unbeteiligte sowie Zahlung von Bestechungsgeldern verhindern Entscheidungen nach rechtsstaatlichen Grundsätzen in weiten Teilen des Justizsystems. Es gibt eine tief verwurzelte Kultur der Straflosigkeit in der politischen und militärischen Elite des Landes. Im Juni 2016 wurde auf Grundlage eines Präsidialdekrets das „Anti-Corruption Justice Center“ (ACJC) eingerichtet, um gegen korrupte Minister, Richter und Gouverneure vorzugehen. Der afghanische Generalprokurator Farid Hamidi engagiert sich landesweit für den Aufbau des gesellschaftlichen Vertrauens in das öffentliche Justizwesen. Das ACJC, zu dessen Aufgaben auch die Verantwortung für große Korruptionsfälle gehört, verhängte Strafen gegen mindestens 67 hochrangige Beamte, davon 16 Generäle der Armee oder Polizei sowie sieben Stellvertreter unterschiedlicher Organisationen, aufgrund der Beteiligung an korrupten Praktiken. Alleine von 1.12.2018-1.3.2019 wurden mehr als 30 hochrangige Personen der Korruption beschuldigt und bei einer Verurteilungsrate von 94% strafverfolgt. Unter diesen Verurteilten befanden sich vier Oberste, ein stellvertretender Finanzminister, ein Bürgermeister, mehrere Polizeichefs und ein Mitglied des Provinzialrates.

(Zusammenfassung aus dem LIB, Abschnitt 3. „Rechtsschutz/Justizwesen“)

4.1.5. Sicherheitsbehörden in Afghanistan:

Im Zeitraum 2011 – 2014 wurde die Verantwortung für die Sicherheitsoperationen in Afghanistan schrittweise auf die afghanischen Sicherheitskräfte (ANSF) übertragen. Die ANSF setzt sich aus staatlichen Sicherheitskräften zusammen, darunter die afghanische Nationalarmee (ANA), die afghanische Luftwaffe (AAF), die afghanische Nationalpolizei (ANP), die afghanische lokale Polizei (ALP) und das National Directorate for Security (NDS), welches als Geheimdienst fungiert.

Die Wirksamkeit der afghanischen Streitkräfte hängt nach wie vor von der internationalen Unterstützung ab, um die Kontrolle über das Territorium zu sichern und zu behalten und die operative Kapazität zu unterstützen.

Die Polizeipräsenz ist auch in den Städten stärker und die Polizeibeamten sind verpflichtet, Richtlinien wie den ANP-Verhaltenskodex und die Richtlinien zum Einsatz von Gewalt einzuhalten. Die Reaktion der Polizei wird jedoch als unzuverlässig und inkonsistent bezeichnet, die Polizei hat eine schwache Ermittlungskapazität, es fehlt an forensischer Ausbildung und technischem Wissen. Der Polizei wird auch weit verbreitete Korruption, Gönnerschaft und Machtmissbrauch vorgeworfen: Einzelpersonen in den Institutionen können ihre Machtposition missbrauchen und Erpressung zur Ergänzung ihres niedrigen Einkommens einsetzen. Es kam weiterhin zu willkürlichen Verhaftungen und Inhaftierungen durch die Polizei, und Folter ist bei der Polizei endemisch. Untätigkeit, Inkompetenz, Straffreiheit und Korruption führen zu Leistungsschwächen.

(Auszug bzw. Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen aus dem Country Guidance: Afghanistan, Juni 2019 [in Folge: „EASO-Länderleitfaden Afghanistan“], des European Asylum Support Office [in Folge: „EASO“], abrufbar https://www.easo.europa.eu/country-guidance, abgerufen 14.10.2020, S. 122 mit Verweis auf weitere Quellen)

4.1.6. Folter und unmenschliche Behandlung:

Laut der afghanischen Verfassung (Artikel 29) sowie dem Strafgesetzbuch (Penal Code) und dem afghanischen Strafverfahrensrecht (Criminal Procedure Code) ist Folter verboten. Auch ist Afghanistan Vertragsstaat der vier Genfer Abkommen von 1949, des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) sowie des römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC). Wenngleich Afghanistan die UN-Konvention gegen Folter ratifiziert hat, Gesetze zur Kriminalisierung von Folter erlassen hat und eine Regierungskommission zur Folter einsetzte, hat die Folter seit Regierungsantritt im Jahr 2014 nicht wesentlich abgenommen – auch werden keine hochrangigen Beamten, denen Folter vorgeworfen wird, strafrechtlich verfolgt.

Die Verfassung und das Gesetz verbieten solche Praktiken, dennoch gibt es zahlreiche Berichte über Misshandlung durch Regierungsbeamte, Sicherheitskräfte, Mitarbeiter von Haftanstalten und Polizisten. Berichten von NGOs zufolge, wenden die Sicherheitskräfte auch weiterhin übermäßige Gewalt an; dazu zählen unter anderem auch Folter und Misshandlung von Zivilisten. Obwohl es Fortschritte gab, ist Folter in afghanischen Haftanstalten weiterhin verbreitet. Rund ein Drittel der Personen, die im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Afghanistan festgenommen wurden, sind gemäß einem Bericht der UNAMA von Folter betroffen. Es gibt dagegen keine Berichte über Folter in Haftanstalten, die der Kontrolle des General Directorate for Prison and Detention Centres des afghanischen Innenministeriums unterliegen. Trotz gesetzlicher Regelung erhalten Inhaftierte nur selten rechtlichen Beistand durch einen Strafverteidiger.

Der Anteil der Personen, die über Folter berichteten, ist in den vergangenen Jahren leicht gesunken. Auch existieren große Unterschiede abhängig von der geografischen Lage der Haftanstalt: wurde bei einer Befragung durch UNAMA durchschnittlich von rund 31% der Befragten (45 Häftlinge) in ANP-Anstalten von Folter oder schlechter Behandlung berichtet (wenngleich dies ein Rückgang zum Vorjahreswert ist, der 45% betrug), so gaben 77% der Befragten (22 Häftlinge) aus einer ANP-Anstalt in Kandahar an, gefoltert und schlecht behandelt zu werden. Anstalten des NDS in Kandahar und Herat, konnten erwähnenswerte Verbesserungen vorweisen, während die Behandlung von Häftlingen in den Provinzen Kabul, Khost und Samangan auch weiterhin besorgniserregend war. Die Arten von Misshandlung, beispielsweise in einer ANP-Hafteinrichtung in Kandahar, umfassen schwere Schläge, Elektroschocks, das Aufhängen an den Armen für längere Zeit, Ersticken, Quetschen der Hoden, Verbrennungen, Schlafentzug, sexuelle Übergriffe und Androhung der Exekution.

Die afghanische Regierung hat Kontrollmechanismen eingeführt, um Fälle von Folter verfolgen und verhindern zu können. Allerdings sind diese weder beim NDS noch bei der afghanischen Polizei durchsetzungsfähig. Daher erfolgt eine Sanktionierung groben Fehlverhaltens durch Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden bisher nur selten. Die Rechenschaftspflicht der Sicherheitskräfte für Folter und Missbrauch ist schwach, intransparent und wird selten durchgesetzt. Eine unabhängige Beobachtung durch die Justiz bei Ermittlungen oder Fehlverhalten ist eingeschränkt bis inexistent. Mitglieder der ANP und ALP sind sich ihrer Verantwortung weitgehend nicht bewusst und unwissend gegenüber den Rechten von Verdächtigen.

Das Gesetz sieht Entschädigungszahlungen für die Opfer von Folter vor, jedoch ist die Barriere für einen Beweis der Folter sehr hoch. Für eine Entschädigungszahlung ist der Nachweis von physischen Anzeichen von Folter am Körper eines Inhaftierten notwendig.

(Zusammenfassung aus dem LIB, Abschnitt 5. „Folter und unmenschliche Behandlung“)

4.1.7. Binnenflüchtlinge:

Im Jahresverlauf 2019 verstärkten sich Migrationsbewegungen innerhalb des Landes aufgrund des bewaffneten Konfliktes und einer historischen Dürre. UNHCR berichtet für den Zeitraum 1.1.-6.11.2019 380.289 Personen, die aufgrund des bewaffneten Konfliktes zu Binnenvertriebenen (IDPs, internally displaced persons) wurden. Mit Stand 29.3.2020 wurden 52.700 Menschen aufgrund des Konflikts zu IDPs – dafür waren landesweite Kämpfe zwischen nichtstaatlichen Akteuren und den nationalen afghanischen Sicherheitskräften verantwortlich.

Die meisten IDPs stammen aus unsicheren ländlichen Ortschaften und kleinen Städten und suchen nach relativ besseren Sicherheitsbedingungen sowie Regierungsdienstleistungen in größeren Gemeinden und Städten innerhalb derselben Provinz. In allen 34 Provinzen werden IDPs aufgenommen.

Die Mehrheit der Binnenflüchtlinge lebt, ähnlich wie Rückkehrer aus Pakistan und Iran, in Flüchtlingslagern, angemieteten Unterkünften oder bei Gastfamilien. Die Bedingungen sind prekär. Der Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und wirtschaftlicher Teilhabe ist stark eingeschränkt. Der hohe Konkurrenzdruck führt oft zu Konflikten. Ein Großteil der Binnenflüchtlinge ist auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Der begrenzte Zugang zu humanitären Hilfeleistungen führt zu Verzögerungen bei der Identifizierung, Einschätzung und zeitnahen Unterstützung von Binnenvertriebenen. Diesen fehlt weiterhin Zugang zu grundlegendem Schutz, einschließlich der persönlichen und physischen Sicherheit sowie Unterkunft.

IDPs sind in den Möglichkeiten eingeschränkt, ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Oft kommt es nach der ersten Binnenvertreibung zu einer weiteren Binnenwanderung. Mehr als 80% der Binnenvertriebenen benötigen Nahrungsmittelhilfe. Vor allem binnenvertriebene Familien mit einem weiblichen Haushaltsvorstand haben oft Schwierigkeiten, grundlegende Dienstleistungen zu erhalten, weil sie keine Identitätsdokumente besitzen.

Die afghanische Regierung kooperiert mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, Rückkehrern und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Unterstützungsfähigkeit der afghanischen Regierung bezüglich vulnerabler Personen – inklusive Rückkehrern aus Pakistan und Iran – ist beschränkt und auf die Hilfe durch die internationale Gemeinschaft angewiesen.

(Auszug bzw. Zusammenfassung aus dem LIB, Abschnitt 19. „IDPs und Flüchtlinge“)

4.1.8. Zu den Rückkehrern nach Afghanistan:

Seit 1.1.2020 sind 279.738 undokumentierter Afghan/innen aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt. Die höchste Anzahl an Rückkehrer/innen ohne Papiere aus dem Iran wurden im März 2020 (159.789) verzeichnet. Die Anzahl der seit 1.1.2020 von IOM unterstützten Rückkehrer/innen aus dem Iran beläuft sich auf 29.019. Seit Beginn des islamischen Fastenmonats Ramadan (Anm.: 23.4.-24.5.2020) hat sich die Anzahl der Rückkehr/innen (undokumentierter, aber auch unterstützter Rückkehr/innen) reduziert. Im gleichen Zeitraum kehrten 1.833 undokumentierte und 1.662 von IOM unterstütze Personen aus Pakistan nach Afghanistan zurück. Pakistan hat temporär und aufgrund der COVID-19-Krise seine Grenze nach Afghanistan geschlossen. Durch das sogenannte „Friendship Gate“ in Chaman (Anm.: in Balochistan/ Spin Boldak, Kandahar) wurden im April 37.000 afghanische Familien auf ausdrücklichen Wunsch der afghanischen Regierung von Pakistan nach Afghanistan gelassen. An einem weiteren Tag im Mai 2020 kehrten insgesamt 2.977 afghanische Staatsbürger/innen nach Afghanistan zurück, die zuvor in unterschiedlichen Regionen Balochistans gestrandet waren.

Im Zeitraum 1.1.2019 – 4.1.2020 kehrten insgesamt 504.977 Personen aus dem Iran und Pakistan nach Afghanistan zurück: 485.096 aus dem Iran und 19.881 aus Pakistan. Im Jahr 2018 kehrten aus den beiden Ländern insgesamt 805.850 nach Afghanistan zurück: 773.125 aus dem Iran und 32.725 aus Pakistan. Im Jahr 2017 stammten 464.000 Rückkehrer aus dem Iran 464.000 und 154.000 aus Pakistan.

Die Wiedervereinigung mit der Familie wird meist zu Beginn von Rückkehrer als positiv empfunden. Jedoch ist der Reintegrationsprozess der Rückkehrer oft durch einen schlechten psychosozialen Zustand charakterisiert. Viele Rückkehrer sind weniger selbsterhaltungsfähig als die meisten anderen Afghanen. Rückkehrerinnen sind von diesen Problemen im Besonderen betroffen.

Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die Unterstützung erhalten, die sie benötigen und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Wegen der hohen Fluktuation im Land und der notwendigen Zeit der Hilfsorganisationen, sich darauf einzustellen, ist Hilfe nicht immer sofort dort verfügbar, wo Rückkehrer sich niederlassen. UNHCR beklagt zudem, dass sich viele Rückkehrer in Gebieten befinden, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind.

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kolleg/innen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse – auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer/innen auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer/innen dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrer/innen besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden.

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Zudem können fehlende Vertrautheit mit kulturellen Besonderheiten und sozialen Normen die Integration und Existenzgründung erschweren. Das Bestehen sozialer und familiärer Netzwerke am Ankunftsort nimmt auch hierbei eine zentrale Rolle ein. Über diese können die genannten Integrationshemmnisse abgefedert werden, indem die erforderlichen Fähigkeiten etwa im Umgang mit lokalen Behörden sowie sozial erwünschtes Verhalten vermittelt werden und für die Vertrauenswürdigkeit der Rückkehrer gebürgt wird. UNHCR verzeichnete jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt.

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Dem deutschen Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlicht zu sein; viele werden der Spionage verdächtigt. Auch glaubt man, Rückkehrer aus Europa wären reich und sie würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann.

Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren. Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab. Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung, vulnerable Personen einschließlich Rückkehrer/innen aus Pakistan und dem Iran zu unterstützen, bleibt begrenzt und ist weiterhin von der Hilfe der internationalen Gemeinschaft abhängig. Moscheen unterstützen in der Regel nur besonders vulnerable Personen und für eine begrenzte Zeit. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch. Deshalb versuchen sie in der Regel, so bald wie möglich wieder in den Iran zurückzukehren.

Viele Rückkehrer, die wieder in Afghanistan sind, werden de-facto IDPs, weil die Konfliktsituation sowie das Fehlen an gemeinschaftlichen Netzwerken sie daran hindert, in ihre Heimatorte zurückzukehren. Trotz offenem Werben für Rückkehr sind essentielle Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit in den grenznahen Provinzen nicht auf einen Massenzuzug vorbereitet. Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen.

(Auszug bzw. Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen aus dem LIB, Abschnitt 22. „Rückkehr“)

4.2. Lage in der Heimatprovinz bzw. dem Heimatdistrikt der Erstbeschwerdeführerin:

4.2.1. Allgemeines:

Paktia/Paktya befindet sich im Osten Afghanistans, an der Grenze Afghanistan und Pakistan. Die Provinz grenzt an Logar im Norden, Pakistan im Osten, Khost im Südosten, Paktika im Süden und Ghazni im Westen. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Ahmadaba, Jaji (bzw. Alikhel), Dand Patan, der Provinzhauptstadt Gardez, Jani Khel, Laja Ahmad Khel (oder Laja Mangel), Samkani (auch Chamkani, Tsamkani), Sayyid Karam (oder Mirzaka), Shwak, Wuza Zadran und Zurmat. Weiters gibt es folgende vier temporäre Distrikte: Laja Mangel, Mirzaka, Garda Siray, Rohany Baba. Die afghanische zentrale Statistikorganisation (CSO) schätzte die Bevölkerung von Paktia für den Zeitraum 2019-20 auf 601.230 Personen. Die Bevölkerung besteht hauptsächlich aus Paschtunen, gefolgt von Tadschiken.

Eine Autobahn verbindet Kabul mit der Provinzhauptstadt Gardez und führt weiter durch die Distrikte Shawak und Zadran in die Provinz Khost nach Ghulam Khan an der afghanisch-pakistanischen Grenze. Eine weitere Autobahn verbindet Ghazni mit Gardez.

4.2.2. Interreligiöse Bevölkerung:

In Khwajah Hassan, nordöstlich der Provinzhauptstadt, lebt eine kleine schiitische Gemeinschaft – die sogenannten Sadats (Sayyeds); die mit ihrem sunnitischen Nachbarn keine Probleme haben. Außerdem leben in der Provinz größtenteils sunnitische Tadschiken. Die zuvor genannten Bevölkerungsgruppen sprechen Dari und leben in Khwajah Hassan mit Pashtunen scheinbar konfliktfrei miteinander. Tatsächlich haben alle in Zeiten der sowjetischen Invasion zusammengearbeitet und gekämpft, um Gardez zu verteidigen. Nach dem ISKP-Angriff auf die schiitische Moschee in Khwajah Hassan im August 2018 nahmen viele Mitglieder der sunnitischen Gemeinde in Gardez an den Beerdigungen der Opfer teil und trauerten um die Toten.

Im Juni 2018 veranstaltete die Stadt Gardez ein Pro-Friedenstreffen mit Stammesältesten aus den Provinzen Paktia, Paktika und Khost, die die Taliban baten, den Waffenstillstand von Eid ul-Fitr zu verlängern. Darüber hinaus sollen viele Bewohner der Provinz Paktia für die Schaffung von sicheren Gebieten für Friedensgespräche mit Taliban-Kämpfern plädiert haben.

Laut dem UNODC Opium Survey 2018 hat Paktia seit 2013 den Status „schlafmohnfrei“.

4.2.3. Hintergrundinformation zum Konflikt und Akteure:

Sowohl die Taliban als auch das Haqqani-Netzwerk sind in gewissen unruhigen Distrikten der Provinz aktiv; in diesen Distrikten versuchen sie terroristische Aktivitäten gegen Regierungs- und Sicherheitsinstitutionen auszuführen. Die Provinz beherbergt viele ehemalige Mujahedin-Kommandanten, die Mitglieder der Harakat-e Enqelab-e Islami-e Afghanistan (The Islamic Revolutionary Movement of Afghanistan) sind, einer sunnitischen Tanzim- oder Mujahedin-Partei, die 1979-1980 in Peschawar gegründet wurde und hauptsächlich in den Provinzen Paktia und Logar tätig.

Das Haqqani-Netzwerk begann einige Jahre vor 2011 in Loya Paktia zu expandieren; in der Provinz Paktia hat das Haqqani-Netzwerk eine starke Präsenz. Auch al-Qaida versucht im Distrikt Barmal Fuß zu fassen, dieser wird vom Haqqani-Netzwerk beansprucht.

Aufgrund der militärischen Niederlagen war der ISKP dazu gezwungen, die Anzahl seiner Angriffe zu reduzieren. Die Gruppierung versuchte die Provinzen Paktia und Logar im Südosten einzunehmen, war aber schlussendlich erfolglos.

Auf Regierungsseite ist eine Spezialeinheit namens Khost Protection Force (KPF) ein Sicherheitsakteur in der Provinz. Die KPF wird Berichten zufolge von der CIA unterstützt und ist gegenüber der Provinzregierung nicht rechenschaftspflichtig. Der KPF wurden Menschenrechtsverletzungen wie außergerichtliche Tötungen, Folter und willkürliche Verhaftungen vorgeworfen.

In Bezug auf die Anwesenheit von regulären staatlichen Sicherheitskräften liegt die Provinz Paktia in der Verantwortung des 203. ANA Corps, das der Task Force Southeast angehört, die von US-Truppen geleitet wird.

4.2.4. Hintergrundinformation zum Konflikt und Akteure:

Der folgenden Tabelle kann die Zahl sicherheitsrelevanter Vorfälle bzw. Todesopfer für die Provinz Paktia gemäß ACLED und Globalincidentmap (GIM) für das Jahr 2019 und das erste Quartal 2020 entnommen werden:

 

2019

2020 (bis 31.3.2020)

 

GIM

Vorfälle

ACLED

Vorfälle (>= 1 Tote)

GIM

Vorfälle

ACLED

Vorfälle (>= 1 Tote)

Ahmadabad

64

16

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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