TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/27 W191 2138000-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.10.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

27.10.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4

Spruch

W191 2138000-1/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch den Verein Asyl in Not, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.10.2016, Zahl 1079480607-150922482, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 03.07.2020 zu Recht:

A)

I.       Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

II.      Gemäß § 3 Abs. 5 Asylgesetz 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

1. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am 23.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).

Eine EURODAC-Abfrage ergab keine Übereinstimmung bezüglich der erkennungsdienstlichen Daten des BF.

1.2. In seiner Erstbefragung am 24.07.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari im Wesentlichen Folgendes an:

Er stamme aus Qarabagh, Provinz Ghazni, sei Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, [schiitischer] Moslem und ledig. Er habe in Qarabagh zwölf Klassen die Grundschule und in Kabul vier Jahre die Universität besucht. Seine Mutter sei verstorben, zu Hause lebten noch sein Vater, drei Brüder und acht Schwestern.

Afghanistan habe er vor ca. einem Monat per Flug in den Iran verlassen und sei von dort schlepperunterstützt über die Türkei, Griechenland und Serbien bis nach Österreich gebracht worden.

Zum Fluchtgrund befragt gab der BF an, dass er seine Heimat aufgrund des Krieges und der Taliban habe verlassen müssen. Er sei aufgrund seines Berufes von den Taliban mit dem Tod bedroht worden.

1.3. Bei seiner Einvernahme am 19.09.2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA), im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari und einer Vertrauensperson, bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisher gemachten Angaben und führte sie auf Befragung näher aus.

Er legte mehrere Belege zu seiner Identität und zu seinem Fluchtvorbringen (Tazkira – afghanisches Personaldokument, Schulzeugnis, Universitätsbesuchsbestätigung Studienfach Internationale politische Wissenschaft, Ministeriumsbestätigung Dienst als Offizier, Führerschein, Bankkarte) sowie zu seiner Integration in Österreich vor. Seinen Reisepass mit Visum für den Iran habe ihm der Schlepper abgenommen.

Der BF gab an, er stamme aus dem Ort XXXX (auch XXXX ). Nach seinen fünf Studienjahren in Kabul sei er im Jahr 1390 (umgerechnet 2011) wieder zurückgekehrt, da dort seine Eltern lebten. Seine leibliche Mutter sei vor 15 Jahren verstorben, sein Vater habe dann neu geheiratet.

Von 1392 bis 1993 habe er eineinhalb Jahre bei der Polizei in Ghazni gearbeitet und von 1393 bis 1394 acht Monate lang im Lager beim Militär in Kabul als Ausbildner gearbeitet. Bei der Polizei sei er für die Sicherheit der Ortschaft vor den Taliban tätig gewesen.

Zu seinen Flucht- und Asylgründen befragt gab der BF an (Auszug aus der Niederschrift, Schreibfehler teilweise korrigiert):

„VP [Verfahrenspartei]: 1392 habe ich – wie bereits gesagt – in unserer Ortschaft bei der Polizei als Soldat gearbeitet. Wir hatten ständig Probleme mit den Taliban. Mitte 1393 haben die Taliban die Polizeistation angegriffen. Diese musste daraufhin geschlossen bzw. aufgelöst werden. Viele meiner Kollegen starben. Ich bin danach nach Kabul gegangen und war als Soldat beim Militärlager. Die Taliban kamen dahinter, damit meine ich, dass sie erfuhren, dass ich nun im Militärlager in Kabul war. Sie bedrohten daraufhin meine Familie. Ich war acht Monate dort. Die Taliban hatten große Macht, und deshalb konnte ich nicht mehr nachhause. Ich hatte große Angst vor den Taliban, und da ich auch nicht zu meiner Familie zurück konnte, bin ich geflüchtet.

LA [Leiterin der Amtshandlung]: Bei dem Angriff durch die Taliban auf die Polizeistation, waren Sie in diesem Kampf unmittelbar dabei?

VP: Ja, ich war auch dort.

LA: Schildern Sie mir diesen Tag bitte. Wie haben Sie diesen Tag konkret erlebt?

VP: Es war vier Uhr morgens. Unsere Polizeistation war nur sehr klein. Wir haben Schüsse gehört. Es war eine große Gruppe der Taliban von ungefähr 80 Personen, und wir waren ungefähr 16 bis 20 Personen. Wir haben keine Hilfe von den anderen Polizeistationen bekommen. Mein Chef und zwei Kollegen sind dabei gestorben.

LA: Wie groß war der Verlust seitens der Taliban?

VP: Der Kampf dauerte zwei Stunden, und es gab sicher auch Verluste auf der Seite der Taliban, ich weiß aber nicht genau, wie viele.

LA: Sie sagen, die Polizeistation wurde von 80 Personen bzw. Taliban angegriffen? Wie konnten Sie dies nun überleben?

VP: Ich habe bei meiner Ausbildung gelernt, dass man sich langsam zurückziehen muss, wenn die Chancen sehr niedrig sind. Das haben meine Kollegen und ich dann auch gemacht.


LA: Wohin haben Sie sich zurückgezogen?

VP: Die Polizeistation lag 5 km von Gharabach weg. Ich möchte dazu angeben, dass in Gharabach die Zentrale der Polizei ist. Ich habe mich dorthin zurückgezogen, um dort Schutz zu finden. Ich habe mich dort drei Tage lang aufgehalten. Dann habe ich meine Waffe abgegeben und bin nach Kabul gegangen.

LA: Was passierte nun ganz konkret in Kabul?

VP: Meine Kollegen sind auch nach Kabul gegangen, einige jedoch auch nach Pakistan oder in den Iran. Während meiner Unizeit hatte ich einen Freund, der in Kabul lebt. Ich bin zu ihm gegangen. Der Onkel meines Freundes teilte mir mit, dass ich zum Militär gehen könne, um dort eine Ausbildung zu machen. Ich bin dann zur Aufnahmeprüfung gegangen und habe diese auch positiv erledigt. Acht Monate wurde ich ausgebildet. Da die Sicherheitslage immer schlechter wurde und ich nicht nachhause konnte, bin ich geflüchtet.

LA: Was meinen Sie konkret damit, dass die Sicherheitslage immer schlechter wurde?

VP: Die Taliban hatte immer noch so große Macht. Auch fand die Wahl statt. Wie kann man zwei Präsidenten wählen? Aus Angst versetzt zu werden, habe ich beschlossen, das Land zu verlassen. Damit meine ich, dass ich an einen Ort kommen hätte können, wo es zB. kein Wasser gibt. Außerdem werden die Polizeistationen ständig von den Taliban angegriffen. Die Taliban haben mich auch verfolgt und meine Familie bedroht.

LA: Wie wurde Ihre Familie konkret von den Taliban bedroht?

VP: Die Taliban haben sehr viele Spione auch in unserer Provinz. Die Taliban sind sehr aktiv. Meine Familie hat Angst, von den Taliban erwischt zu werden und vielleicht als Geiseln genommen werden, um an mich zu kommen.

LA: Wurde Ihre Familie persönlich von den Taliban bedroht? Gab es irgendwelche Vorfälle? Waren die Taliban bei Ihrer Familie zu Hause?

VP: Nein. Aber der Sohn meiner Tante hatte dieselbe Geschichte wie ich, er war auch bei der Polizei tätig. 1393 wurde mein Cousin 21 Tage lang festgehalten und danach getötet. Das ist das Schicksal der Personen, die für die Polizei arbeiten.

LA: Waren die Taliban bei Ihrer Familie zuhause?

VP: Nein.

LA: Inwieweit wurden nun Sie von den Taliban bedroht?

VP: Direkt haben sie mich nicht bedroht, aber ich hatte immer Angst vor den Taliban.

LA: Sie wurden doch ausgebildet dafür, gegen die Taliban zu kämpfen?

VP: Ja, aber wir bekamen damals keine Hilfe.


LA: Wurde das Militärlager auch von den Taliban angegriffen?

VP: Nein. Dort sind 12.000 bis 13.000 Leute, die ausgebildet werden. Das, was ich beim Angriff der Taliban auf die Polizeistation erlebt habe, wollte ich nicht nochmals erleben. Ich hatte deshalb Angst, dass man mich wieder auf eine Polizeistation schickt.

LA: Sie gaben zu Beginn der Einvernahme an, dass Sie von 1386 bis 1390 in Kabul waren und danach zurückkehrten?

VP: Ja, ich war auch 1391 in Ghazni und habe einen Job gesucht. Dann habe ich die Arbeit auf der Polizeistation aufgenommen.

LA: Wenn Sie so große Angst davor hatten, wieder auf eine Polizeistation versetzt zu werden, warum haben Sie dann nicht versucht, in Kabul eine andere Arbeit zu finden?

VP: Ich habe keine Arbeit gefunden. Auch wurde mein Vater krank, und wirtschaftlich ging es uns nicht sehr gut. Deshalb habe ich die Arbeit bei der Polizeistation aufgenommen.

LA: Sie gaben an, in Kabul bei Ihrem Freund gelebt zu haben und dort die Ausbildung zum Offizier gemacht zu haben. Haben Sie in dieser Zeit versucht, eine andere Arbeit zu finden?

VP: Wir hatten Probleme mit den Taliban.

LA: Ihre Familie lebt jetzt immer noch in Ghazni, in derselben Ortschaft, stimmt das? Sie haben auch Kontakt zu ihnen. Hat Ihre Familie Probleme mit den Taliban?

VP: Nein. Die Spione wissen, dass ich nicht mehr im Land bin, deshalb lassen sie meine Familie in Ruhe.

LA: Wenn Sie sagen, dass Ghazni unsicher und auch Kabul nicht sicher ist, warum sind Sie dann nicht in einen anderen Landesteil gezogen? Angemerkt wird, dass es keine Meldeverpflichtung gibt.

VP: Woanders bin ich unbekannt. Die Taliban sind sehr aktiv, und sie kennen mich.

LA: Was hätten Sie bei einer Rückkehr in Ihr Heimatland zu befürchten?

VP: Ich habe Angst, von den Taliban getötet zu werden.

LA: Würde Ihnen im Falle der Rückkehr in Ihren Herkunftsstaat Verfolgung, unmenschliche Behandlung oder die Todesstrafe drohen?

VP: Ja, durch die Taliban.

LA: Haben Sie alle Fluchtgründe genannt?

VP: Ja, ich habe alles gesagt. Ich möchte noch angeben, dass auch mein Bruder XXXX eine gute Stelle hatte, er war Lehrer. Er bekam auch Probleme mit den Taliban und ist ohne seine Familie in den Iran geflüchtet. Seine Frau und die Kinder leben bei meinen Eltern. Mein Vater hatte auch einen Schlaganfall und muss daher immer wieder in den Iran zur Behandlung.“

Mit dem BF wurden laut Niederschrift mit dem Dolmetscher „Länderfeststellungen des BFA zu seinem Heimatland“ auszugsweise erörtert, wobei der BF auf die schlechte Lage der Hazara in Afghanistan hinwies.

1.4. Das BFA wies mit Bescheid vom 03.10.2016 den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 23.07.2015 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2015 (in der Folge FPG). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor, das Vorbringen des BF sei unglaubhaft. Es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.

Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.

Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse – im Gegensatz zu seinem Fluchtvorbringen – glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.

Sein Fluchtvorbringen beurteilte das BFA als nicht glaubhaft gemacht und begründete dies im Wesentlichen mit einzelnen Antworten des BF, die unplausibel gewesen seien.

1.5. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit von seinem Rechtsberater unterstützt erstelltem Schreiben vom 19.10.2016 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wegen „Verletzung von Verfahrensvorschriften, insbesondere wegen Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens, In Folge einer mangelhaften Beweiswürdigung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung“ ein.

In der Beschwerdebegründung wurde im Wesentlichen moniert, dass der BF seine Fluchtgründe sehr genau geschildert habe. Es wurde aus einer Anfragebeantwortung von ACCORD vom August 2016 zur Sicherheitslage im Distrikt Qarabagh zitiert und moniert, dass die vom BF geschilderten Vorfälle darin Deckung fänden. Die Behörde hätte lediglich minimale Widersprüchlichkeiten bzw. unpräzise Datumsangaben berücksichtigt, länderspezifische Tatsachen – zum Teil „notorisch bekannt“ – gänzlich außer Acht gelassen.

Der BF drohe eine Verfolgung durch die Taliban und er hätte als Angehöriger des Polizeiapparates und Militärangehöriger, der zu einer besonders gefährdeten Gruppe in Afghanistan zähle, auch keine innerstaatliche Fluchtalternative.

Beantragt wurde unter anderem, eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchzuführen.

1.6. Das BVwG führte am 03.07.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der der BF persönlich in Begleitung seiner nunmehrigen Vertreter erschien. Die belangte Behörde verzichtete im Vorhinein auf die Teilnahme an einer Verhandlung.

Auf richterliche Befragung wiederholte bzw. bestätigte der BF seine im Verfahren bisher gemachten Angaben. Er machte Angaben zu seinen Lebensumständen in Österreich und zu seinen Integrationsbemühungen. Er besuche derzeit einen Deutschkurs B1 und besuche hin und wieder Theatervorführungen. Er sei beim Verein „Sicher Leben in Graz“ für dreimal pro Woche mit je zwei Stunden beschäftigt und verdiene derzeit monatlich brutto 460,66 Euro.

Dazu wurde jener ehemalige Mitarbeiter der Generaldirektion des BMI als Zeuge einvernommen, der in der Steiermark dieses Projekt der Kriminalprävention aufgebaut hat.

Der Zeuge gab an, der BF sei ein besonders wichtiger und wertvoller Mitarbeiter in dieser Einrichtung als Vertrauensperson für seine in Graz lebenden Landsleute. Es gehe um Werte- und Regelvermittlung, Schulung in Computerfertigkeiten und Wissensgebieten.

Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der BF im Wesentlichen Folgendes an (Auszug aus der Verhandlungsschrift):

„[...] BF: Ja. Meine erste Einvernahme war sehr kurz, außerdem kannte ich mich nicht aus. Jetzt weiß ich es, und ich habe dort nicht alles detailliert erzählt.

RI [Richter]: Was würde Ihnen konkret passieren, wenn Sie jetzt wieder in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren müssten?

BF: Im Jahr 1392 (=2013/2014) habe ich in Qarabagh mit der örtlichen Polizei gearbeitet. In unserem Posten waren wir ca. 16-20 Personen und haben ständig gegen die Taliban gekämpft. Ich habe ca. eineinhalb Jahre für diesen Posten gearbeitet. Die Taliban, gegen die wir gekämpft haben, waren auch aus der Umgebung. Wir kannten einander gut. Da ich gebildet war, habe ich die Verwaltungsarbeiten für den Posten gemacht, wie z.B. Gehälter für Personal, oder wenn wir Munition oder Waffen gebraucht haben, habe ich diese bei der Zentrale bestellt. Die Taliban wussten, von welchem Dorf ich bin und wessen Sohn ich bin. Sie dachten, da ich gebildet bin, habe ich dafür gesorgt, dass dort ein örtlicher Polizeiposten besteht, der die Taliban bekämpft.

RI: Warum ist dann jetzt nicht Ihr Vater in Gefahr?

BF: Mein Vater ist nicht immer im Dorf, manchmal fährt er heimlich in den Iran, dann kehrt er aber wieder zurück ins Dorf. Außerdem gibt es immer noch Polizeiposten in unserer Umgebung. Wir hatten auch Funkgeräte. Manchmal haben die Taliban unsere Frequenz erwischt. Sie meldeten sich bei mir per Funk und sagten mir, ich solle meine Tätigkeit beenden, und warum ich den Polizeiposten hierher gebracht habe, oder sie sagten, ich solle mich den Taliban übergeben. Wir haben immer gegen die Taliban gekämpft. Sie drohten mir, wenn ich mich nicht den Taliban übergebe, würden sie meine Familie und mich, wenn sie mich erwischen, töten. Ich bin dann nach Österreich gekommen, sogar davon wissen die Taliban, wo ich jetzt bin. Ein weiteres Problem habe ich mit der afghanischen Regierung. Ich habe acht Monate lang bei der afghanischen Nationalarmee eine Militärausbildung genossen. Da war ich ein Offizier. Die Sicherheitslage wurde in Afghanistan Tag für Tag schlechter. Einerseits war ich von den Taliban bedroht, andererseits wurden die Soldaten von der afghanischen ANA und die Polizei von der Regierung nicht unterstützt. Es war einfach ein Chaos. Das führte dazu, dass ich flüchtete. Wenn man seinen Dienst in Afghanistan ohne Erlaubnis verlässt, drohen ihm fünf bis 15 Jahre Haft. Außerdem muss man das Geld, was ausgegeben wurde während der Ausbildung, zurückzahlen.

RI: Das Bundesamt schreibt in dem Bescheid, dass es laut Auskunft des Verteidigungsministeriums keine Strafe für Desertion gibt?

BF: Vielleicht ist es nur so hingeschrieben, aber gesetzlich ist es dort strafbar. Die afghanische Regierung ist nie stabil.

RI: Haben Sie das Studium neben, nach oder vor der Militärausbildung gemacht?

BF: Im Jahr 1390 (=2011/2012) habe ich mein Studium abgeschlossen. Danach war ich ca. ein Jahr auf Arbeitssuche und fand keine Arbeit als Politikwissenschaftler. Dann habe ich ca. eineinhalb Jahre für die örtliche Polizei gearbeitet. Nachdem wir dann eine Niederlage erlitten, unser Kommandant von den Taliban getötet wurde und unser Posten von den Taliban in Brand gesteckt wurde, waren wir ca. drei Tage im Distriktzentrum. Waffen und Munition, die wir übrig hatten, haben wir dort abgegeben. Meine Kollegen und ich sind dann nach Kabul gefahren. Manche von uns sind in den Iran oder nach Pakistan weitergereist, und ich blieb in Kabul. Ich bin dann zu einem Freund von meiner Studienzeit gegangen und wohnte dort. Der Onkel väterlicherseits von diesem Freund war bei der afghanischen Nationalarmee. Er hat mir vorgeschlagen, in die Armee zu kommen. Er meinte, ich würde sonst keine Arbeit finden. Er hat mir dann geholfen, in die Armee zu kommen. Damals gab es Präsidentschaftswahlen. Die Afghanen hatten die Hoffnung, dass mit dem neuen Präsidenten auch Frieden in Afghanistan einkehren würde. Ich habe dann acht Monate lang eine Militärausbildung gemacht und habe diese mit dem Rang als Offizier abgeschlossen.

RI: Welcher Rang?

BF: Ich war Leutnant 2. Grades.

RI: Sie haben erzählt, dass im Jahr 1393 Ihr Cousin 21 Tage festgehalten und danach getötet worden ist. Können Sie dazu genauere Angaben machen?

BF: Das war der Sohn von meiner Tante väterlicherseits. Er hat für die Polizei in der Provinz Ghazni gearbeitet, im Distrikt Nahor. Hazara, die aus ihren Dörfern in die Stadt Ghazni fahren, werden auf dem Weg dorthin von den Taliban angehalten, die Linienautos werden durchsucht, und manche von ihnen werden mitgenommen. Oder die Taliban erhalten eine Information, dass ein Polizist oder jemand, der für die Regierung arbeitet, mit dem Linienauto unterwegs ist. Dieser wird dann von den Taliban angehalten und mitgenommen. Das war auch im Fall meines Cousins so. Inzwischen haben die Taliban auch die Datenbank vom System für erkennungsdienstliche Behandlung gehackt. Die Taliban nehmen jedem die Fingerabdrücke ab und vergleichen sie. So haben die Taliban meinen Cousin gefangen genommen und 21 Tage lang gefangen gehalten. Die Taliban wollten dann mit der Regierung verhandeln und für die Freilassung meines Cousins Gefangene tauschen, aber die Regierung hat nicht gehandelt. Nach diesen 21 Tagen wurde er dann getötet.


RI: Warum kann Ihre Familie dort noch leben?

BF: Meine Schwestern sind alle verheiratet, nur eine von ihnen ist noch ledig. Mein Vater hat zum zweiten Mal geheiratet und lebt mit seiner zweiten Frau und den Kindern. Ins Dorf können die Taliban nicht kommen, weil es dort Polizeiposten gibt. Nicht nur unser Dorf, sondern alle Dörfer, die von Hazara bewohnt sind, sind von den Taliban belagert. Diese Dörfer sind wie ein Gefängnis. Hazara können dort leben, ihre Grundstücke bewirtschaften oder Viehzucht machen, aber wenn sie das Dorf in die Stadt verlassen wollen, gibt es auf dem Weg Probleme mit den Taliban. Ein weiteres Problem ist, dass ich jetzt vom islamischen Glauben ausgetreten bin. Im Falle einer Rückkehr führt auch dieser Umstand zu Problemen.“

Auf Befragung durch den BFV (Vertreter des BF) gab der BF an:

„BFV: Wenn Sie nach Afghanistan zurückkehren würden, würden Sie das machen, was die Taliban von Ihnen verlangt haben, nämlich zu ihnen überzulaufen, oder würden Sie zu Ihrer Überzeugung stehen?

BF: Ich habe ca. eineinhalb Jahre gegen die Taliban gekämpft. Auch wenn ich zu ihnen jetzt überlaufe und mich ihnen übergebe, würden sie mich töten, da ich bereits gegen sie gekämpft habe. Sie werden mich töten, egal wo sie mich in Afghanistan erwischen. Sie werden sich an mir rächen.

BFV: Ich nehme an, Ihre Fingerabdrücke sind auch elektronisch erfasst?

BF: Ja, damals als ich die Militärausbildung gemacht habe, wurden mir die Fingerabdrücke abgenommen.“

Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).

Dem BF wurde eine Nachfrist von drei Monaten zur Vorlage allfälliger weiterer Belege für sein Fluchtvorbringen eingeräumt.

Das BFA beantragte nicht die Abweisung der gegenständlichen Beschwerde und beteiligte sich auch sonst nicht am Verfahren vor dem BVwG. Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt.

1.7. Mit Eingabe seines Vertreters vom 29.09.2020 legte der BF weitere Belege für sein Fluchtvorbringen vor (Bestätigung des Ältestenrats des Dorfes XXXX sowie Bestätigung des Provinzbüros Ghazni der Partei Hezbe-Wahdat Islami Mordom-e Afghanistan, jeweils samt Übersetzung ins Deutsche), die das Vorbringen des BF bestätigten.


Auch diese Eingabe wurde dem BFA zur Kenntnis gebracht, es hat dazu ebenfalls keine Stellungnahme abgegeben.

2. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

?        Einsicht in die dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakten des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 24.07.2015 und der Einvernahme vor dem BFA am 19.09.2016, vom BF vorgelegte Bescheinigungsmittel bezüglich seiner Identität bzw. seines Fluchtvorbringens (afghanischer Führerschein, Identitätskarte Ministerium, Schulzeugnis/Universitäts- und Offiziers-Bestätigung, Bankkarte Kabul), sowie die gegenständliche Beschwerde vom „19.0.2016“ [offenbar 19.10.2016]

?        Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA, Seiten 126 bis 152 im Verwaltungsakt)

?        Einsicht in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:

o        Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie in der Provinz Ghazni (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019, zuletzt aktualisiert am 18.05.2020) sowie

o        Auszug aus einer gutachterlichen Stellungnahme des Länderkundigen Dr. Sarajuddin Rasuly (in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof am 13.06.2012 im Verfahren C15 410.319-1/2009)

?        Einsicht in die vom BF im Beschwerdeverfahren ergänzend vorgelegten Bescheinigungsmittel bezüglich seines Fluchtvorbringens (Bestätigung des Ältestenrats des Dorfes XXXX sowie Bestätigung des Provinzbüros Ghazni der Partei Hezbe-Wahdat Islami Mordom-e Afghanistan)

3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):

Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:

3.1. Zur Person des BF:

3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Dari, er spricht darüber hinaus etwas Paschtu, Englisch und Deutsch.

3.1.2. Der BF stammt aus dem Dorf XXXX , Distrikt Qarabagh, Provinz Ghazni, und lebte dort gemeinsam mit seiner Familie (Vater, drei Brüder und acht Schwestern, seine Mutter ist schon länger verstorben). Er besuchte dort zwölf Jahre lang die Grundschule und dann vier Jahre die Universität in Kabul.

3.1.3. Der BF verließ im Juli 2015 aus angegebenen Gründen Afghanistan und reiste nach Europa, wo er am 23.07.2015 in Österreich gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

3.1.4. Der BF bemüht sich in Österreich mit Erfolg um seine Integration. Er ist beim Verein „Sicher Leben in Graz“, einem vom BMI entwickelten Projekt zur Kriminalitätsprävention beschäftigt und übt dort eine wichtige Funktion als Ansprech- und Autoritätsperson für die afghanische Community in Graz aus.

3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

3.2.1. Der BF hat glaubhaft gemacht, dass er eineinhalb Jahre lang im Distrikt Qarabagh bei der örtlichen Polizei gearbeitet und dabei in exponierter Funktion gegen die Taliban gekämpft hat. In einem Kampf im Jahr 1392 (umgerechnet 2013/14) sind dabei mehrere Mitkämpfer des BF sowie Kämpfer der Taliban ums Leben gekommen.

Nachdem nicht nur er, sondern auch seine Familie von den Taliban bedroht worden war, ist der BF nach Kabul gegangen und hat dort acht Monate lang eine Militärausbildung gemacht und mit dem Rang als Offizier (Leutnant 2. Grades) abgeschlossen. Er hat auch glaubhaft gemacht, dass ein Cousin (ein Sohn seiner Tante väterlicherseits) von den Taliban im Jahr 1393 (umgerechnet 2014/15) 21 Tage lang festgehalten und dann getötet worden ist.

Der BF hat damit glaubhaft gemacht, dass er im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan eine Verfolgung durch die Taliban wegen (jedenfalls unterstellter) feindlicher Gesinnung aus religiösen bzw. politischen Gründen zu befürchten hätte.

3.2.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:

Es konnte vom BF glaubhaft vermittelt werden, dass er im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Verfolgung aus den oben angeführten asylrelevanten Gründen ausgesetzt wäre.

3.2.4. Dem BF steht eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative nicht zur Verfügung, zumal er in exponierter Funktion tätig war, landesweit aufgefunden werden könnte und die staatlichen Einrichtungen seines Herkunftsstaates nicht hinreichend imstande wären, ihn vor dieser Verfolgung zu schützen.

3.2.5. Es liegen keine Gründe vor, nach denen der BF von der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten auszuschließen wäre.

3.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:

Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

3.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan („Gesamtaktualisierung am 13.11.2019“, zuletzt aktualisiert 21.07.2020, Schreibfehler teilweise korrigiert):

„[…] 1. Politische Lage

Letzte Änderung: 18.05.2020

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).

Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.04.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.02.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020; UNGASC 17.03.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.02.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28.09.2019 stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.02.2020).

Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum, wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.04.2020). Am 09.03.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.04.2020; vgl. TN 16.04.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.05.2020; vgl. TN 11.05.2020) einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten, und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.05.2020; vgl. BBC 17.05.2020; DW 17.05.2020).

Anm.: Weitere Details zur Machtteilungsvereinbarung sind zum Zeitpunkt der Aktualisierung noch nicht bekannt (Stand: 18.05.2020) und werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben (BBC 17.05.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für fünf Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14.11.2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden, und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben, und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.03.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.05.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.05.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004, USDOS 29.05.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.01.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 02.09.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 02.09.2019; vgl. AAN 06.05.2018, DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 02.09.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.04.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 07.05.2020; vgl. NPR 06.05.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs die Gespräche (AJ 07.05.2020) [ Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 06.05.2020)], andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innenpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 07.05.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.04.2020).

Das Abkommen mit den US-Amerikanern

Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. In den ersten 135 Tagen nach der Unterzeichnung werden die US-Amerikaner ihre Truppen in Afghanistan auf 8.600 Mann reduzieren. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020).


2. Sicherheitslage

Letzte Änderung: 22.4.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.03.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.01.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 01.04.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 02.04.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 01.04.2020).

Für den Berichtszeitraum 08.11.2019 - 06.02.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.03.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.01.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.03.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.01.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

[…]

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.01.2020).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion, weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 01.06.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (08.11.2019 - 06.02.2020) fort: acht Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (09.08. - 07.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres zwölf Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.02.2020; vgl. UNGASC 17.03.2020).

Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.03.2020).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 06.03.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020).

Am 25.03.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, acht weitere wurden verletzt (NYT 26.03.2020; vgl. TN 26.03.2020; BBC 25.03.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.03.2020; vgl. TTI 26.03.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.03.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.03.2020; vgl. NYT 26.03.2020).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):

Taliban

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.08.2019; vgl. FA 03.01.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.05.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.01.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 04.07.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 06.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.04.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 05.03.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.06.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sei ein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.08.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.01.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.08.2017; vgl. AAN 03.01.2017; AAN 17.03.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen betreiben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig, und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.08.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.08.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.08.2017).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.02.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 01.07.2010; vgl. USDOS 19.09.2018; vgl. CRS 12.02.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015 als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.08.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.02.2019).


Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 05.03.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 01.08.2017; vgl. LWJ 04.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.09.2018) bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.06.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 03.06.2019; vgl. VOA 21.05.2019).

Der ISKP geriet in dessen Hochburg in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.03.2020). Jahrelange konzentrierten sich Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese Hochburgen. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in diesen Regionen (NYT 02.12.2020; vgl. SIGAR 30.01.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.02.2020; vgl. MT 27.02.2020). Schlussendlich ist im November 2019 die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 02.12.2020; vgl. SIGAR 30.01.2020). Über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Zwar wurde der ISKP im November 2019 weitgehend aus der Provinz Nangarhar vertrieben, jedoch soll er weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.03.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP wurde seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf 300 Kämpfer reduziert (NYT 02.12.2020).

49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 08.11.2019 - 06.02.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.03.2020).

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen (BBC 25.03.2020). Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (NYT 02.12.2020).

Der ISKP verurteilt die Taliban als „Abtrünnige“, die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.02.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.08.2019; vgl. AP 19.08.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.08.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.08.2019).

Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen

Al-Q

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten