TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/28 W213 2185157-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 28.10.2020
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Entscheidungsdatum

28.10.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4

Spruch

W213 2185157-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Albert SLAMANIG als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.12.2017, Zl. 15-1094689302-151751309, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 25.08.2020 zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste ohne gültige Reisedokumente in die Republik Österreich ein und stellte am 11.11.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. In seiner Erstbefragung am 11.11.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Farsi im Wesentlichen an, er komme aus Mazar/Afghanistan, gehöre der Volksgruppe der Sadat an, sei ledig und Muslim. Er habe in Mazar von 2002 bis 2009 die Grundschule besucht. Sein Vater und zwei Halbbrüder würden noch in Mazar leben, von dort aus er vor 32 Tagen sein Heimatland verlassen habe. Zu seinen Fluchtgründen führte er aus, er habe flüchten müssen, weil sein Vater ihn ansonsten umgebracht hätte. Nach dem Tod seiner Mutter habe der Vater wieder geheiratet und seine Stiefmutter habe schlecht über ihn geredet. Deshalb habe sein Vater ihn oft geschlagen. Er habe es satt gehabt und habe seinen Vater bestohlen. Er sei gemeinsam mit der befreundeten Nachbarstochter geflohen. Daraufhin habe ihn sein Vater auf der Flucht angerufen und gemeint, er, der Beschwerdeführer, habe seinen Ruf geschädigt. Aus diesen Gründen habe er Angst, sein Vater und die Brüder des Mädchens würden ihn umbringen. Zusätzlich erwähnte er, dass er das Mädchen auf dem Weg vom Iran in die Türkei aus den Augen verloren habe.

3. Mit Schreiben vom 20.11.2015 erstattete der Vertreter des Beschwerdeführers eine Stellungnahme zum Alter des Beschwerdeführers.

4. Am 07.04.2016 erging eine Aktenverfügung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl über die Änderung des Geburtsdatums vom XXXX auf XXXX .

5. Der Beschwerdeführer wurde am 29.09.2017 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA, belangte Behörde) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari und der gesetzlichen Vertreterin (Abt. Kinder- und Jugendhilfe) niederschriftlich einvernommen. Hierbei gab er zusammengefasst an, er sei am XXXX in Mazar-e-Sharif/Afghanistan geboren, gehöre der Volksgruppe der Sadat an und bekenne sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islams. Er habe von 2007 bis 2014 die Grundschule und Mittelschule in Mazar-e-Sharif besucht. Der Beschwerdeführer sei bei seinem Vater und der Stiefmutter aufgewachsen, weil seine Mutter bei der Geburt verstorben sei. Seit seiner Flucht habe er keinen Kontakt mehr zu seiner Familie. Vorgelegt wurde eine Vielzahl von Zertifikaten und Bestätigungen (insbesondere ÖSD Zertifikate A2 und B1, Bestätigungen von Rot-Kreuz-Kursen, Besuchsbestätigung für den Pflichtschulabschluss und eine Schulbesuchsbestätigung).

Zu seinen Fluchtgründen befragt führte der Beschwerdeführer aus, dass sein Vater nie nett zu ihm gewesen sei, dieser gemeint habe, er sei ein Mörder und ihn für den Tod seiner Mutter verantwortlich gemacht habe. Auch seine Stiefmutter habe ihn schlecht behandelt. Er sei von der Stiefmutter und seinem Vater, schon seitdem er ein kleines Kind gewesen sei, beschimpft und geschlagen worden. Als er krank geworden sei, habe sich sein Vater nicht um ihn gekümmert und die medizinische Behandlung verweigert, obwohl die Familie genug Geld für eine Operation gehabt hätte. Seitdem habe er Fußprobleme. Er sei immer um vier Uhr morgens zum Beten geweckt worden und habe nur Erniedrigungen und Beschimpfungen in Erinnerung. Es sei wie in der Hölle oder ein Leben wie ein Hund gewesen, sehr deprimierend. Später habe er ein Mädchen mit ähnlicher Kindheit kennengelernt. Sie hätten miteinander geredet, sich gegenseitig zugehört und sehr geliebt. Die Beziehung habe aber geheim gehalten werden müssen, weil nach islamischem Recht eine außereheliche Beziehung nicht erlaubt bzw. ein Verbrechen sei und die Gefahr bestanden habe, dass sie gesteinigt werden würden. Nachdem das Mädchen einen deutlich älteren Mann habe heiraten sollen, er keine Unterstützung für eine Heirat von seiner Familie gehabt habe und er sich auch nicht der Polizei wenden habe können, habe er an eine gemeinsame Flucht gedacht. Mit Hilfe von Verwandten mütterlicherseits habe er die Reise in die Türkei organisiert. Auf der Flucht habe er mehrere Anrufe des Vaters bekommen und dieser habe, vor Wut kochend, zu ihm gemeint, dass er, der Beschwerdeführer, sein Geld gestohlen habe, seinen Ruf ruiniert und die Ehre und den Stolz der Familie beschmutzt habe. Auch die Familie des Mädchens habe ihn bei der Behörde angezeigt und mit dem Tod bedroht. Der Vater habe gesagt, dass er ihn persönlich umbringen werde, wenn es die anderen nicht schaffen würden. An der iranisch-türkischen Grenze sei er gemeinsam mit seiner Freundin und einer großen Gruppe von Flüchtlingen zu Fuß unterwegs gewesen, als plötzlich Grenzsoldaten auf sie geschossen hätten. Es sei Panik ausgebrochen und in dieser chaotischen Lage habe er seine Freundin verloren. Nach vergeblicher Suche habe er auch in der Türkei keine Spur mehr von ihr gefunden.

6. Am 13.10.2017 erstattete der Beschwerdeführer durch seine gesetzliche Vertreterin eine Stellungnahme samt Beilagen zur Einvernahme durch das BFA und dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation. Es wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der minderjährige Beschwerdeführer in Anbetracht seines jugendlichen Alters ein substantiiertes Vorbringen erstattet habe. Er habe die Sachverhalte lebensnah und schlüssig geschildert, weshalb keine Zweifel an der Glaubwürdigkeit seiner Angaben bestehen könnten. Der Beschwerdeführer habe glaubwürdig vorgebracht, aufgrund andauernder häuslicher Gewalt und Unterlassung der Fürsorgepflichten seines Vaters aus Afghanistan geflüchtet zu sein. Er leide nach wie vor unter den Langzeitfolgen dieser häuslichen Gewalt und gesundheitlichen Problemen, welche ebenfalls dem Vater zuzurechnen seien. Betreffend die gesundheitlichen Einschränkungen wurde eine Behandlungsbestätigung der Neuropädiatrischen Ambulanz der Universitätskliniken Innsbruck vom 04.10.2017 der gegenständlichen Stellungnahme beigelegt. Zudem habe der Beschwerdeführer in der Einvernahme eine ausgeprägte westliche Gesinnung gezeigt, weshalb ein Verbleib in Afghanistan nicht zumutbar gewesen sei. Es könne auch eine private Verfolgung asylrelevant sein, wenn der Herkunftsstaat nicht gewillt oder nicht in der Lage sei, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren. In den ausgehändigten Länderinformationsblättern werde das Thema der häuslichen Gewalt nicht behandelt und es werde angeregt, dazu noch weiterführende Herkunftslandinformationen einzuholen.

7. Das BFA wies den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz mit Bescheid vom 18.12.2018, Zl. 15-1094689302-151751309, gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab und erkannte dem Beschwerdeführer den Status des Asylberechtigten nicht zu (Spruchpunkt I.). Weiters erkannte es ihm gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG und § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der vorgebrachte Fluchtgrund nicht als entscheidungsrelevanter Sachverhalt festgestellt werden könne. Zudem stehe fest, dass der Beschwerdeführer nach der Rückkehr keiner Verfolgung aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention taxativ aufgezählten Gründen unterliegen werde und keine Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK oder Art. 3 EMRL bestehe. Die Sicherheitslage in Mazar-e Sharif sei relativ sicher und ohne besondere Gefährdung erreichbar. Schließlich seien keine Umstände festgestellt worden, die auf ein schützenswertes Familien- oder Privatleben hinweisen würden.

In der Beweiswürdigung führte das BFA aus, dass der vorgebrachte Fluchtgrund für die Behörde weder glaubhaft gewesen sei, noch stelle dieser Anlass einen asylrelevanten Grund der GFK dar. Es seien gravierende Ungereimtheiten und Widersprüche in den Schilderungen des Beschwerdeführers festgestellt worden, die seine Angaben unglaubwürdig erscheinen lassen würden. Zudem habe sich der Beschwerdeführer im Verlauf des Verfahrens gravierend widersprochen und sämtliche Angaben seien vage, pauschal, detaillos und ohne jede Tiefe gewesen. Ungereimtheiten und Konflikte in einem familiären Netz seien als „Normalität“ anzusehen und einer familiären Auseinandersetzung, die mit Streitereien einhergehe, sei keine Asylrelevanz beizumessen. Auch eine emotionale Involvierung, wie es bei traumatischen Ereignissen zu erwarten sei, habe man nicht erkennen können. Zusammengefasst sei dem gesamten Vorbringen die Glaubhaftigkeit zu versagen und dem Beschwerdeführer die Glaubwürdigkeit vollinhaltlich abzusprechen.

8. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften sowie unrichtiger rechtlicher Beurteilung fristgerecht Beschwerde. Darin wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass das von der belangten Behörde durchgeführte Ermittlungsverfahren grob mangelhaft gewesen sei, da eine Auseinandersetzung mit dem jungen Altere des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt der fluchtauslösenden Ereignisse, der Erstbefragung bzw. niederschriftlichen Einvernahme und der Entscheidung nicht zu entnehmen sei, obwohl eine solche in die Beurteilung der Glaubwürdigkeit miteinfließen hätte müssen. Ferner habe es die belangte Behörde, trotz des Ersuchens in der Stellungnahme, verabsäumt, erforderliche Informationen zur Situation von Minderjährigen, die unter häusliche Gewalt stehen würden, sowie zu Unterstützungsmöglichkeiten und zur strafrechtlichen Verfolgung in Afghanistan einzuholen. Weiters sei die Selbsterhaltungsfähigkeit des minderjährigen Beschwerdeführers in einer der größeren Städte angesichts aktueller Berichte jedenfalls stark in Zweifel zu ziehen. Die belangte Behörde habe auch die erforderliche Kindeswohlprüfung iSd Art. 3 UN-Kinderrechtskonvention, die Auseinandersetzung mit dem relevanten Sachverhalt und der tatsächlichen Lage in der Beweiswürdigung zur Selbsterhaltungsfähigkeit im Falle einer Rückkehr gänzlich außer Acht gelassen. In diesem Zusammenhang sei auch auf den eingebrachten Bericht in der Stellungnahme von Frederike STAHLMANN und auf den EASO Country of Origin Information Report Afghanistan (August 2017) verwiesen. Besonders für IDPs und Rückkehrer sei der Zugang zu existenzsichernder Arbeit sehr limitiert, die Armut sei in den Städten extrem hoch und die Wohnsituation entbehre jeder Zumutbarkeit und lege sogar eine Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK nahe. Entgegen den Ausführungen der belangten Behörde habe der Beschwerdeführer ein gleichbleibendes, schlüssiges und detailliertes Vorbringen dargelegt. Die belangte Behörde habe Willkür im Hinblick auf die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers geübt, da sie Teile des Vorbringens nicht nachvollziehbar für unglaubwürdig erachtet habe, andere wiederum für glaubwürdig, ohne dabei die Gründe erläutert zu haben. Schließlich sei aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung auch die rechtliche Beurteilung mangelhaft geblieben und dem minderjährigen Beschwerdeführer hätte in Gesamtschau der Status eines Asylberechtigten bzw. im Falle der Abweisung, zumindest der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt werden müssen. Auch sei das schützenswerte Familien- und Privatleben des Beschwerdeführers in Österreich nicht ausreichend berücksichtigt worden.

9. Die Beschwerde wurde unter Anschluss des Verwaltungsaktes dem Bundesverwaltungsgericht am 05.02.2018 vorgelegt.

10. Am 04.06.2018 wurden dem Bundesverwaltungsgericht Urkunden betreffend die bestandene Pflichtschulabschlussprüfung des Beschwerdeführers in Vorlage gebracht.

11. Am 14.08.2020 langten beim Bundesverwaltungsgericht neben der Vollmachtsbekanntgabe der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers eine Stellungnahme samt Länderinformationen und Integrationsunterlagen (insbesondere Empfehlungsschreiben, Jahreszeugnisse der Handelsschule XXXX , Prüfungszeugnis B2, Lichtbilder) ein. Dabei wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sich der Beschwerdeführer seit mehr als viereinhalb Jahren in Österreich befinde und er diesen Zeitraum nicht nur intensiv dazu genutzt habe, sich in Österreich außergewöhnlich gut zu integrieren, sondern auch, um die österreichische Kultur und den in Österreich vorherrschenden westlich geprägten Lebensstil kennenzulernen und zu übernehmen. Dies zeige sich unter anderem darin, dass der Beschwerdeführer seine Meinung zu Themen wie der Gleichberechtigung von Mann und Frau oder der Religionsfreiheit frei äußere. Er habe für sich selbst einen Weg gefunden, um sich von dem regelmäßigen Beten und strengen Fasten zu distanzieren. Folglich habe er sich vom Religionsunterricht in der Handelsschule abgemeldet, um den Ethikunterricht zu besuchen. Darüber hinaus führe er seit zweieinhalb Jahren eine Beziehung mit XXXX , ohne mit ihr verheiratet zu sein. Auch kleide er sich, so wie er möchte und wie sich alle jungen Menschen in Österreich kleiden, und habe Pläne, wie er seine Zukunft in privater und beruflicher Hinsicht gestalten könnte. Der Beschwerdeführer lebe daher einen fortschrittlichen, westlich orientierten Lebensstil, der mit den Normen, Werten und Grundsätzen der afghanischen, islamischen Gesellschaft nicht (mehr) vereinbar sei. Es könne weder von ihm verlangt noch davon ausgegangen werden, dass er bei einer Rückkehr diese westlich geprägte Lebenshaltung ablegen würde, weshalb in Anbetracht dieser Umstände nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden könne, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seines nach außen getragenen Lebensstils Bedrohungs- bzw. Verfolgungshandlungen mit maßgeblicher Intensität im Sinne des § 3 AsylG ausgesetzt wäre. Des Weiteren wurde zur sozioökonomischen Lage bzw. zur allgemeinen Versorgungslage in Afghanistan auf aktuelle Berichte verwiesen, die auf einen Zeitpunkt nach dem Ausbruch von Covid-19 datieren. Die prekäre Arbeits-, Wohn- und Nahrungsmittelsituation würde den Beschwerdeführer besonders hart treffen, da dieser nach wie vor an den Langzeitfolgen seiner Diagnose „Closing-Wedge-Osteotomie Cuboid und Lapidusarprodese Fuß rechts bei Ballenhohlfuß“ leide. Aufgrund der bestehenden Schmerzsymptomatik sei zu befürchten, dass nur eine eingeschränkte Möglichkeit des Beschwerdeführers gegeben sei, am Arbeitsmarkt teilzunehmen. In diesem Zusammenhang wurde ein Antrag auf Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens gestellt. Zuletzt wurde ausgeführt, dass ein außergewöhnlich intensives Privat- und Familienleben in Österreich vorliegen würde und zum Beweis dafür die Anträge gestellt, die Freundin und den Cousin des Beschwerdeführers einzuvernehmen.

12. Am 25.08.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, in der der Beschwerdeführer sowie zwei Zeugen einvernommen wurden.

13. Im Anschluss an die mündliche Verhandlung wurde die Entscheidung über den bekämpften Bescheid mündlich verkündet: Der Beschwerde wurde hinsichtlich Spruchpunkt I. stattgegeben und festgestellt, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

14. Das BFA beantragte mit Schreiben vom 04.09.2020 eine schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten Erkenntnisses.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zum Beschwerdeführer:

Der Beschwerdeführer ist ein volljähriger, afghanischer Staatsangehöriger und gehört zur Volksgruppe der Sadat. Er stammt aus der Stadt Mazar-e Sharif/Afghanistan, wo er sieben Jahre lang die Schule besuchte. Der Beschwerdeführer sammelte in seinem Herkunftsland keine Berufserfahrung.

Der Beschwerdeführer reiste im Herbst 2015 ohne gültige Reisedokumente in Österreich ein und stellte am 11.11.2015 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Der Vater, die Stiefmütter sowie zwei Halbbrüder, Onkel und Tanten des Beschwerdeführers leben weiterhin in Afghanistan. Seine leibliche Mutter ist bereits bei seiner Geburt verstorben. Der Vater des Beschwerdeführers betreibt eine Kohlefabrik. Seine Familie hat in Afghanistan ein Haus und mehrere Grundstücke. Ihre finanzielle Lage war vor seiner Ausreise sehr gut. Der Beschwerdeführer hat seit seiner Ausreise keinen Kontakt zu seiner Familie.

Der Beschwerdeführer hat am 09.10.2015 Afghanistan gemeinsam mit seiner Freundin verlassen, weil er dort häuslicher Gewalt ausgesetzt war und sein Leben wegen seiner Beziehung zu seiner Freundin in Gefahr war.

Der Beschwerdeführer besuchte in Österreich mehrere Deutschkurse und erwarb zuletzt ein B2-Deutschzertifikat. Weiters nahm er an mehreren Integrationskursen sowie an Rot-Kreuz-Kursen teil. Er besuchte in Österreich ein Jahr lang eine Polytechnische Schule als außerordentlicher Schüler und sodann einen Vorbereitungskurs zum Pflichtschulabschluss. Der Beschwerdeführer hat die Pflichtschulabschlussprüfung bestanden und besucht als ordentlicher Schüler seit Herbst 2019 die Handelsschule XXXX . Er leistete vereinzelt freiwillige Tätigkeiten. Dem Beschwerdeführer wurden seitens seines sozialen Umfeldes mehrfach besonders Höflichkeit, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft sowie die Bereitschaft zur Integration bescheinigt. Im Übrigen verfügt der Beschwerdeführer über eine Einstellungszusage der XXXX vom 13.08.2020. Des Weiteren hat der Beschwerdeführer Freunde aus der Schule, auch türkische Freunde, die in Österreich geboren sind, und jugoslawische Freunde. Er trifft sich zudem regelmäßig mit seiner Freundin XXXX und steht in engem Kontakt zu XXXX , dem Cousin seiner leiblichen Mutter, der ihm gleichsam in einer Mentor-Funktion zur Seite steht und ihn auch finanziell unterstützt.

Der Beschwerdeführer war schiitischer Moslem, hat sich in Österreich jedoch von diesem Glauben abgewandt und verweigert, den Islam zu praktizieren. Er lehnt die konservative islamische Lehre und die strengen Zwänge des Korans (insbesondere die Stellung der Frau, die Bestrafung vorehelicher Beziehungen, den Zwang zum täglich mehrmaligen Gebet, das Verbot des Alkoholkonsums) ab. Er scheut sich nicht, diese Ansichten in Österreich offen zu vertreten und hat nicht nur ein klares Bild von der Zukunft, sondern auch entsprechende Schritte gesetzt, um sich in die österreichische Gesellschaft zu integrieren und für sich selbst zu sorgen. Der Beschwerdeführer betet und fastet nicht und trinkt gelegentlich Alkohol. Er hat sich in der Schule vom Religionsunterricht abgemeldet, um den Ethikunterricht zu besuchen. Er führt in Österreich seit zweieinhalb Jahren mit XXXX eine Liebesbeziehung und beabsichtigt, diese in Zukunft zu heiraten. Der Beschwerdeführer will sein Leben auf seine Weise führen. Er hat den Abfall vom islamischen Glauben im Sinne einer westlichen Lebensweise so weit verinnerlicht, dass er sein weiteres Leben – auch im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan – nicht mehr an den islamischen Glaubensregeln ausrichten wird.

Im Falle einer Verbringung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat ist es wahrscheinlich, dass dieser aufgrund einer Kumulation seiner Denk- und Verhaltensweise (den Islam und überhaupt jeden Zwang in Verbindung mit Religion ablehnend, modern denkend, moderne Interessen, nach selbstbestimmtem Leben trachtend) und seiner Vergangenheit (Afghanistan im Alter von 15 Jahren verlassen; nie wesentlich im muslimischen Glauben verfestigt; Ausgrenzung und Bedrohung seitens seiner Familie und der Nachbarschaft wegen einer unehelichen Liebesbeziehung) sowohl in seiner Herkunftsstadt Mazar-e Sharif als auch in anderen Großstädten wie Herat oder Kabul psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt ist.

Insbesondere aufgrund seiner Ablehnung des Islam und der Vorfälle, die dazu führten, dass der Beschwerdeführer aus seinem Familienverband ausgeschlossen wurde, könnte er auch nicht auf allenfalls vorhandene traditionelle Unterstützungsnetzwerke durch Familienmitglieder oder Mitglieder seiner ethnischen Gruppe in den angeführten Städten zurückgreifen, sondern würde ihm als vom Islam abgefallener Muslim mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit drohen, sondern sogar der Tod.

Der afghanische Staat ist diesbezüglich weder schutzfähig noch schutzwillig. Der Islam ist Staatsreligion in Afghanistan. Die sunnitisch-hanafitische Rechtsprechung gilt für alle afghanischen Bürger/innen unabhängig von ihrer Religion. Für Apostasie, in der klassischen Scharia als „Weggehen vom Islam“ verstanden, droht Männern die Todesstrafe (vgl. Art. 2 der Verfassung und die unten angeführten Länderinformationen).

Der Beschwerdeführer hat seit seiner Kindheit gesundheitliche Beschwerden aufgrund einer Parese am rechten Fuß. Diesbezüglich war der Beschwerdeführer erst in Österreich in fachärztlicher Behandlung und wurde im April 2018 operiert. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan wäre der Beschwerdeführer wegen seiner gesundheitlichen Beeinträchtigung an der Erwirtschaftung seines notdürftigen Lebensunterhalts längerfristig gehindert. Außerdem befindet sich der Beschwerdeführer in der Grundversorgung.

Zum Herkunftsstaat:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019 (zuletzt aktualisiert am 18.05.2020), das mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichts vom 14.07.2020 in das Verfahren eingebracht wurde:

Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 4).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).

Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 1).

Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2).

Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1).

Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).

Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).

Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).

Medizinische Versorgung

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments – jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in ANA und der ANP repräsentiert (LIB, Kapitel 16.1).

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden, und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen (LIB, Kapitel 16.1).

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan, sie macht etwa 27-30% der afghanischen Gesellschaft aus und hat deutlichen politischen Einfluss im Land. In der Hauptstadt Kabul ist sie knapp in der Mehrheit. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien vertreten, sie sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der ANA und der ANP repräsentiert (LIB, Kapitel 17.2) Tadschiken sind allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit in Afghanistan weder psychischen noch physischen Bedrohungen ausgesetzt (LIB, Kapitel 16.2).

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9-10% der Bevölkerung aus. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihre ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ihre Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Es bestehen keine sozialen oder politischen Stammesstrukturen (LIB, Kapitel 16.3).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB Kapitel 16.3).

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, dies steht im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – halten an (LIB, Kapitel 16.3).

Die usbekische Minderheit ist die viertgrößte Minderheit Afghanistans und umfasst etwa 9% der Gesamtbevölkerung. Usbeken sind Sunniten und leben vorwiegend im Norden des Landes, wo sie gemeinsam mit den Turkmenen den größten Teil des landwirtschaftlich genutzten Bodens kontrollieren. Sie siedeln sowohl im ländlichen Raum, wie auch in urbanen Zentren (Mazar-e Sharif, Kabul, Kandahar, Lashkargah u.a.), wo ihre Wirtschafts- und Lebensformen kaum Unterschiede zu Dari-sprachigen Gruppen aufweisen. In den Städten und in vielen ländlichen Gegenden beherrschen Usbeken neben dem Usbekischen in der Regel auch Dari auf nahezu muttersprachlichem Niveau. Heiratsbeziehungen zwischen Usbeken und Tadschiken sind keine Seltenheit. Die usbekische Minderheit ist im nationalen Durchschnitt mit etwa 8% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (LIB, Kapitel 16.4).

Ethnisch gesehen ist der Großteil der Kutschi paschtunisch und stammen vorwiegend aus dem Süden und Osten Afghanistans. Sie sind eher eine soziale Gruppe, obwohl sie einige Charakteristiken einer eigenen ethnischen Gruppe aufweisen. Während des Taliban-Regimes wurden viele Kutschi in den usbekisch und tadschikisch dominierten Gebieten im Nordwesten des Landes sesshaft. Die größte Kutschi-Population findet sich in der Wüste im Süden des Landes (Registan). Viele Kutschi leben in informellen Siedlungen am Stadtrand von Kabul. Ein Großteil der Nomaden zieht während des Sommers in Richtung der Weideflächen des Hazarajat (zentrales Hochland). Nur mehr wenige tausend Personen führen ein Leben als nomadische Viehhirten (LIB, Kapitel 16.5).

Kutschi sind benachteiligt beim Zugang zu Bildung, Gesundheit und Arbeit. Angehörige der Nomadenstämme sind aufgrund bürokratischer Hindernisse dem Risiko der (faktischen) Staatenlosigkeit ausgesetzt. Sie gelten aufgrund ihres nomadischen Lebensstils als Außenseiter. Kutschi berichten über erzwungene Sesshaftmachungen durch die Regierung. Da viele sesshafte Kutschis unter prekären Bedingungen in informellen Siedlungen am Rande der Großstädte leben, werden sie zunehmend negativ wahrgenommen, was deren sozialen Status im Land weiter unterminiert. Nomaden werden öfter als andere Gruppen auf bloßen Verdacht hin einer Straftat bezichtigt und verhaftet, sind aber oft auch rasch wieder auf freiem Fuß (LIB, Kapitel 16.5).

Einzelne Kutschi sind als Parlamentsabgeordnete oder durch politische und administrative Ämter Teil der Führungselite Afghanistans. Zehn Sitze im Unterhaus der Nationalversammlung sind für die Kutschi-Minderheit reserviert und vom Präsidenten müssen zwei Kutschi zu Mitgliedern für das Oberhaus ernannt werden. Diese Sitze werden jedoch in der Regel von sesshaften Kutschi eingenommen, wodurch die Interessen der erst kürzlich sesshaft gewordenen, in informellen Siedlungen lebenden oder semi-nomadischen Kutschi weitgehend vernachlässigt werden (LIB, Kapitel 16.5).

Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15).

Schiiten

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 - 19% geschätzt. Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die Jafari-Schiiiten (Zwölfer-Schiiten). 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten, die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen (LIB, Kapitel 15.1).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Einige schiitische Muslime bekleiden höhere Regierungsposten. Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25-30%. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel 15.1).

Christen - Konvertiten:

Ausländische Christen und die wenigen Afghanen, die originäre Christen und nicht vom Islam konvertiert sind, werden normal und fair behandelt. Afghanische Christen sind in den meisten Fällen vom Islam zum Christentum konvertiert (LIB, Kapitel 15.2).

Bei der Konversion vom Islam zum Christentum wird in erster Linie nicht das Christentum als problematisch gesehen, sondern die Abkehr vom und der Austritt aus dem Islam. Laut islamischer Rechtsprechung soll jeder Konvertit drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum der Abtrünnigen konfiszieren und deren Erbrecht einschränken. Konvertiten vom Islam zum Christentum werden von der Gesellschaft nicht gut behandelt, weswegen sie sich meist nicht öffentlich bekennen. In den meisten Fällen versuchen die Behörden Konvertiten gegen die schlechte Behandlung durch die Gesellschaft zu unterstützen, zumindest um potenzielles Chaos und Misshandlung zu vermeiden. Missionierungen sind illegal. Die öffentliche Meinung stehe Christen und der Missionierung weiterhin feindselig gegenüber (LIB, Kapitel 15.2).

Apostaten (Abfall vom Islam):

Die Abkehr vom Islam (Apostasie) wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht. Es gibt keine Berichte über die Verhängung der Todesstrafe aufgrund von Apostasie oder der Strafverfolgung bei Blasphemie. Gefahr bis hin zur Ermordung droht Konvertiten hingegen oft aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld. Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden. Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, sind Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren. Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (LIB, Kapitel 15.5).

Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).

Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).

Taliban:

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).

Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Kapitel 2).

Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Haqani-Netzwerk:

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida. Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und ist für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich (LIB, Kapitel 2).

Islamischer Staat (IS/DaesH) – Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP):

Die Stärke des ISKP variiert zwischen 1.500 und 3.000, bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern bzw. ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Der IS ist seit Sommer 2014 in Afghanistan aktiv. Durch Partnerschaften mit militanten Gruppen konnte der IS seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan stärken. Er ist vor allem im Osten des Landes in der Provinz Nangarhar präsent (LIB, Kapitel 2).

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen. Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (LIB, Kapitel 2).

Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele, verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit. Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt, nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab. Die Taliban und der IS sind verfeindet. Während die Taliban ihre Angriffe überwiegend auf Regierungszeile bzw. Sicherheitskräfte beschränken, zielt der IS darauf ab konfessionelle Gewalt zu fördern und Schiiten anzugreifen (LIB, Kapitel 2).

Al-Qaida:

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen (LIB, Kapitel 2).

Herkunftsprovinz Mazar-e Sharif

Mazar-e Sharif ist die Provinzhauptstadt von Balkh, einer ethnisch vielfältigen Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Sie hat 469.247 Einwohner und steht unter Kontrolle der afghanischen Regierung (LIB, Kapitel 2.5).

Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel 21).

Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen (LIB, Kapitel 21).

In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es 10 - 15 – teils öffentliche, teils private – Krankenhäuser. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer, jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken die zu 80% öffentlich finanziert sind (LIB, Kapitel 21).

Situation für Rückkehrer/innen

Im Zeitraum vom 01.01.2019 bis 04.01.2020 kehrten insgesamt 504.977 Personen aus dem Iran und Pakistan nach Afghanistan zurück: 485.096 aus dem Iran und 19.881 aus Pakistan. Seit 01.01.2020 sind 279.738 undokumentierter Afghan/innen aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt. Im Jahr 2018 kamen 775.000 aus dem Iran und 46.000 aus Pakistan zurück (LIB, Kapitel 22).

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken sowie politische Netzwerke usw. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (LIB, Kapitel 22).

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Es gibt jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (LIB, Kapitel 22).

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Es sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (LIB, Kapitel 22).

Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab. Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch (LIB, Kapitel 22).

Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (LIB, Kapitel 22).

Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, können verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Rückkehrer erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) (LIB, Kapitel 22).

Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit in Afghanistan Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer. Der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer aus Europa kehrt direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Es befinden sich viele Rückkehrer in Gebieten, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (LIB, Kapitel 22).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:

-        Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)

-        Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Die „Reception Assistance“ umfasst sofortige Unterstützung oder Hilfe bei der Ankunft am Flughafen: IOM trifft die freiwilligen Rückkehrer vor der Einwanderungslinie bzw. im internationalen Bereich des Flughafens, begleitet sie zum Einwanderungsschalter und unterstützt bei den Formalitäten, der Gepäckabholung, der Zollabfertigung, usw. Darüber hinaus arrangiert IOM den Weitertransport zum Endziel der Rückkehrer innerhalb des Herkunftslandes und bietet auch grundlegende medizinische Unterstützung am Flughafen an. 1.279 Rückkehrer erhielten Unterstützung bei der Weiterreise in ihre Heimatprovinz. Für die Provinzen, die über einen Flughafen und Flugverbindungen verfügen, werden Flüge zur Verfügung gestellt. Der Rückkehrer erhält ein Flugticket und Unterstützung bezüglich des Flughafen-Transfers. Der Transport nach Herat findet in der Regel auf dem Luftweg statt (LIB, Kapitel 22).

Familien in Afghanistan halten in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren (LIB, Kapitel 22).

Auszug aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018:

Risikoprofile

UNHCR ist der Auffassung, dass Personen, die einem oder mehreren der folgenden Risikoprofilen entsprechen, abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles möglicherweise internationalen Schutz benötigen:

?        Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung und der internationalen Gemeinschaft einschließlich der internationalen Streitkräfte verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen

o        Als „verwestlicht“ wahrgenommene Personen

o        Andere Zivilisten, die die Regierung oder die internationale Gemeinschaft tatsächlich oder vermeintlich unterstützen

o        Familienangehörige von Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft verbunden sind, oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen

o        […]

?        Männer im wehrfähigen Alter und Kinder im Kontext der Minderjährigen- und Zwangsrekrutierung

?        Zivilisten, die der Unterstützung regierungsfeindlicher Kräfte verdächtigt werden

?        Angehörige religiöser Minderheiten und Personen, die angeblich gegen die Scharia verstoßen

o        Religiöse Minderheiten

o        Konversion vom Islam

Eine Konversion vom Islam wird als Apostasie, also als Glaubensabfall betrachtet und gemäß den Auslegungen des islamischen Rechts durch die Gerichte mit dem Tode bestraft. Zwar wird Apostasie im afghanischen Strafgesetzbuch nicht ausdrücklich als Straftat definiert, sie fällt jedoch nach allgemeiner afghanischer Rechtsauffassung unter die nicht weiter definierten „ungeheuerlichen Straftaten“, die laut Strafgesetzbuch nach der islamischen Hanafi-Rechtslehre bestraft werden und in den Zuständigkeitsbereich der Generalstaatsanwaltschaft fallen. Damit wird Apostasie als Straftat behandelt, obwohl nach der afghanischen Verfassung keine Handlung als Straftat eingestuft werden darf, sofern sie nicht als solche gesetzlich definiert ist. Geistig zurechnungsfähige männliche Bürger über 18 Jahren und weibliche Bürger über 16 Jahren, die vom Islam konvertieren und ihre Konversion nicht innerhalb von drei Tagen widerrufen, riskieren die Annullierung ihrer Ehe und eine Enteignung ihres gesamten Grundes und sonstigen Eigentums. Außerdem können sie von ihren Familien und Gemeinschaften zurückgewiesen werden und ihre Arbeit verlieren. Personen, die vom Islam zu einer anderen Religion ü

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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