Entscheidungsdatum
30.10.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W155 2206933-1/7E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. KRASA über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX alias XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Asyl in Not, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
1. Der zunächst unbegleitete minderjährige Beschwerdeführer, Staatsangehöriger der islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam, stellte am 09.12.2015 nach schlepperunterstützter illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen seiner Erstbefragung am folgenden Tag gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen an, dass er in Afghanistan Schwierigkeiten gehabt habe. Sein Bruder habe für ein englisches Unternehmen in Helmand gearbeitet und sei vor ca. 6 bis 7 Monaten legal nach England ausgewandert. Deswegen seien sie 3-mal zu Hause beschossen und mit Granaten angegriffen worden. Sein kleiner Bruder sei dabei getötet worden. Er sei 2 bis 3 Tage später geflüchtet. Wann die Angriffe gewesen seien, könne er nicht angegeben.
2. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (belangte Behörde) stellte am 04.02.2016 im Hinblick auf die „Dublin II-VO“ ein Wiederaufnahmeersuchen an Bulgarien, dem die bulgarischen Behörden ausdrücklich zustimmten und unter einem mitteilten, dass der Beschwerdeführer in Bulgarien unter der Identität XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, in Erscheinung getreten sei.
3. Aufgrund der bei der Erstbefragung aufgetretener Zweifel bezüglich des vom Beschwerdeführer behaupteten Geburtsdatums wurde dieser einer medizinischen multifaktoriellen Untersuchung zur Altersfeststellung zugeführt. Bei einer Gesamtschau der erhobenen Befunde wurde zusammenfassend im Gutachten der Medizinischen Universität Wien vom 10.06.2016 ausgeführt, dass das höchstmögliche Mindestalter des Beschwerdeführers zum Untersuchungszeitpunkt mit 18,6 Jahren anzunehmen sei und das errechnete fiktive Geburtsdatum XXXX laute, es könne damit zum Zeitpunkt der Asylantragstellung am 09.12.2015 von einem Mindestalter mit 18,25 Jahren ausgegangen werden.
4. Mit Verfahrensanordnung vom 19.06.2016 wurde seitens der belangten Behörde festgestellt, dass es sich beim Beschwerdeführer um eine (bereits zum Zeitpunkt der Asylantragstellung) volljährige Person handelt, als Geburtsdatum für das Mindestalter wurde der XXXX festgesetzt.
5. Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde am 06.07.2016 gab der Beschwerdeführer nach Vorhalt der erfolgten Altersfeststellung an, dass er das Ergebnis nicht akzeptiere. Er wolle seine Tazkira vorlegen, der zufolge er minderjährig sei. Hinsichtlich der ihm beabsichtigten Überstellung nach Bulgarien gab der Beschwerdeführer an, dass Bulgarien kein sicheres Land sei und er dort keinen Schutz und keine Sicherheit hätte.
6. Mit Beschluss des Bezirksgerichtes Hernals vom 25.04.2016, XXXX , wurde die Obsorge für den Beschwerdeführer auf den Kinder- und Jugendhilfeträger übertragen und damit begründet, dass der Beschwerdeführer als unbegleiteter Minderjähriger nach Österreich gekommen sei.
7. Mit Stellungnahme vom 06.07.2016 wurde zusammenfassend vorgebracht, dass das bulgarische Asylsystem unter schwerwiegenden Mängeln leide und dem Beschwerdeführer bei einer Überstellung nach Bulgarien drohe, inhaftiert zu werden. Da ihm bei einer Überstellung eine Verletzung seiner Rechte gemäß Art. 3 EMRK drohe, werde der Selbsteintritt Österreichs in das Asylverfahren beantragt.
8. Mit Stellungnahme vom 08.07.2016 wurde ergänzend darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer seitens der bulgarischen Sicherheitskräfte wiederholt misshandelt worden sei und wurde erneut der Selbsteintritt Österreichs beantragt.
9. Mit Stellungnahme des Magistrates der Stadt Wien vom 12.07.2016 wurde bezüglich des eingeholten Gutachtens zur Altersfeststellung ausgeführt, dass dieses in sich grob unschlüssig sei und daher keinesfalls zweifelsfrei die Volljährigkeit des Beschwerdeführers festgestellt werden könne. Das Gutachten habe nämlich in keiner der vier durchgeführten Untersuchungen und den daraus resultierenden Befunden eine Minderjährigkeit des Beschwerdeführers ausschließen können. Weiters wurden Ausführungen zur beabsichtigten Ausweisung nach Bulgarien getätigt.
10. Mit Verfügung vom 19.01.2018 wurde dem BG Hernals mitgeteilt, dass für den Beschwerdeführer aufgrund des Antrages des Jugendwohlfahrtsträgers das Geburtsdatum XXXX festgelegt worden sei. Aufgrund einer durchgeführten Altersdiagnose sei das Geburtsdatum des Beschwerdeführers mit XXXX festgesetzt worden und sei daher von einer falschen Angabe durch die Verfahrenspartei auszugehen. Es werde auch auf die OGH-Entscheidung vom 07.06.2017 bezüglich der Korrektur des Geburtsdatums verwiesen.
11. Mit Beschluss des BG Hernals vom 25.01.2018, Zl. XXXX , wurde das Geburtsdatum des Beschwerdeführers in der Folge auf den XXXX berichtigt.
12. Gegen den genannten Beschluss brachte der Magistrat der Stadt Wien einen mit 06.02.2018 datierten Rekurs ein und wurde begründend darauf verwiesen, dass der Beschwerdeführer eine Tazkira vorgelegt habe, der zufolge er im Jahr 2015 15 Jahre alt gewesen sei. Damit würde sich das von ihm angegebene Geburtsdatum XXXX bestätigen. Erneut wurde darauf hingewiesen, dass das Gutachten bei keiner einzigen der vier durchgeführten Untersuchungen eine Minderjährigkeit des Beschwerdeführers habe ausschließen können. Trotzdem habe der Gutachter schlussendlich das „Mindestalter“ und die Volljährigkeit des Beschwerdeführers festgestellt. Das Gutachten wäre grob unschlüssig und könne keinesfalls die Volljährigkeit des Beschwerdeführers festgestellt werden.
12. In der Folge wurde ein Gegengutachten („Stellungnahme zum Rekurs vom 06.02.2018“ von Dr. R. vom 21.02.2018) seitens der belangten Behörde eingeholt und kam der beauftragte Gutachter unter Heranziehung der bereits erhobenen Befundergebnisse zusammenfassend zum Ergebnis, dass der Beschwerdeführer zum Untersuchungsdatum vom 14.04.2016 zumindest 18,6 Jahre sowie zum Asylantragsdatum 18,25 Jahre alt gewesen sei. Das gegenständlich festgestellte, höchstmögliche Mindestalter der Befundlage von 17,5 Jahren zum Asylantragsdatum entspreche dem 14.10.1998 als spätest möglichem „fiktiven“ Geburtsdatum und dem 13.10.2016 als spätest möglichem „fiktiven“ 18. Geburtstag. Bezüglich des Vorbringens im Rekurs, wonach die vorgelegte Tazkira die Minderjährigkeit des Beschwerdeführers belegen würde, führte der Gutachter aus, dass eine Tazkira ein zweifelhaftes Dokument wäre, zumal in Afghanistan weder die Ausstellungsmodalitäten noch das Formular selbst eindeutig standardisiert seien. Zudem würde selbst das BVwG darauf hinweisen, dass in Afghanistan ebenso auch Dokumente unwahren Inhaltes gegen entsprechendes Entgelt ohne großen Aufwand hergestellt werden könnten. Bezüglich des Gutachtens v. Prof. G. wurde ausgeführt, dass aufgrund der verunklärenden, distalen Sklerosierungszonen kein zweifelsfreies „Stadium Schmerling 5“ bestehe, sondern „Schmerling 4“.
Zusammenfassend führte der Gutachter Dr. R. aus, dass es nicht naheliegend erscheine, das Geburtsdatum beim vom Beschwerdeführer angegebenen Geburtsdatum XXXX zu belassen, zumal die im Gutachten dokumentierten Befunde mit dem Altersvorbringen des Beschwerdeführers nicht vereinbar seien. Die entsprechende Abweichung betrage 1,55 Jahre.
13. Mit Beschluss des Landesgerichts für ZRS Wien vom 02.05.2018, Zl. XXXX , wurden der Rekurs und die Stellungnahme der belangten Behörde zurückgewiesen.
Begründend wurde ausgeführt, dass der Rekurs unzulässig sei. Es fehle ein Rechtschutzinteresse, weil die mit dem angefochtenen Beschluss verbundene Beendigung der Obsorge infolge der jedenfalls spätestens mit 01.05.2018 eingetretenen Volljährigkeit mittlerweile ohnedies unstrittig Rechtsfolge des selbst vom Beschwerdeführer angegebenen Geburtsdatums XXXX sei.
14. Im Rahmen der am 28.08.2018 erfolgten Einvernahme vor der belangten Behörde gab der Beschwerdeführer hinsichtlich seiner Fluchtgründe zusammenfassend an, dass sein Bruder in Helmand mit Briten zusammengearbeitet habe. Als sein Bruder von der Arbeit nach Hause gekommen sei, sei ihr Haus 20 Tage später angegriffen worden. Ungefähr zwei bis drei Monate später sei es zu einem zweiten Angriff gekommen. Dann seien wieder zwei bis drei Monate vergangen und es wäre erneut zu einem Angriff gekommen, hierbei sei sein kleiner Bruder getötet worden. Zwei oder drei Tage später sei er ausgereist. Es habe seit seiner Ausreise sechs weitere Angriffe gegeben. Beim fünften Angriff habe sein Vater bemerkt, dass ein Angreifer sein Nachbar gewesen sei. Beim sechsten Angriff sei sein Vater getötet worden. Sie wüssten aber nicht, ob die drei Angriffe zuvor ebenfalls von diesen Leuten durchgeführt worden seien. Er habe bei der Erstbefragung nichts von der privaten Feindschaft gewusst. Zu der Feindschaft sei es gekommen, da seine Familie keine Autozufahrt zum Haus gehabt habe. Um eine Zufahrt zu bekommen, hätten sie einen Teil vom Nachbargrundstück erhalten sollen. Aus diesem Grund sei es zur Feindschaft mit den Nachbarn gekommen. Die Regierung habe die Zufahrt zwar genehmigt, jedoch sei es den Nachbarn egal gewesen. Er habe zuerst nicht gewusst, dass es die Nachbarn gewesen seien, die auf ihr Haus geschossen hätten.
15. Mit dem angefochtenen Bescheid vom XXXX wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab. Dem Beschwerdeführer wurde gemäß § 57 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Des Weiteren wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Es wurde ausgeführt, dass für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine Frist von 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung besteht (Spruchpunkt VI.).
Begründend wurde unter Darlegung näherer Details im Wesentlichen ausgeführt, dass es dem Beschwerdeführer nicht gelungen sei, eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung glaubhaft zu machen. Es sei nicht davon auszugehen, dass er in Afghanistan asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt gewesen sei bzw. eine solche Verfolgung zukünftig zu befürchten hätte. Aus den Länderfeststellungen gehe hervor, dass er sich als afghanischer Staatsangehöriger in jedem Teil seines Heimatlandes niederlassen könnte und somit auch die Möglichkeit hätte, z. B. in Kabul sesshaft zu werden. Der Beschwerdeführer sei jung, lern- und arbeitsfähig und leide an keiner schwerwiegenden Erkrankung. Bei einer Rückkehr sei er keiner aussichtslosen Lage ausgesetzt.
16. Mit Verfahrensanordnung vom XXXX wurde dem Beschwerdeführer ein Rechtsberater gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG für ein allfälliges Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.
17. Mit Schriftsatz vom 27.09.2018 erhob der Beschwerdeführer durch seinen Rechtsberater gegen den oben genannten Bescheid fristgerecht in vollem Umfang Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Begründend wurde darauf verwiesen, dass die belangte Behörde es unterlassen habe, sich mit dem gesamten Vorbringen des Beschwerdeführers auseinandersetzen. Es habe keine ausreichende Auseinandersetzung mit der vom Beschwerdeführer vorgebrachten Verfolgungsgefahr in Afghanistan stattgefunden. Das Vorbringen des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen sei, entgegen der Ansicht der belangten Behörde vor dem Hintergrund der derzeitigen Situation in Afghanistan plausibel und glaubwürdig. Ihm drohe in Afghanistan Verfolgung durch private Dritte, da er diese bei der Regierung aufgrund eines Grundstückstreits angezeigt habe und den Fall gewonnen habe. Aufgrund dessen sowie basierend auf der Tätigkeit seines Bruders für die Engländer würde ihn die Unterstützung der Regierung unterstellt. Die belangte Behörde habe es unterlassen, diesbezügliche Ermittlungen anzustellen. Weiters habe er keine Möglichkeit gehabt, zu den in den Bescheid eingeflossenen Länderfeststellungen Stellung zu nehmen. Hinsichtlich der seitens der belangten Behörde festgestellten innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul sei auszuführen, dass UNHCR davon ausgehe, dass in Kabul generell eine inländische Fluchtalternative nicht verfügbar sei. Weiters sei zu betonen, dass sich der Beschwerdeführer in Österreich nach bestem Wissen integriert habe. Er habe den Basisbildungskurs bei „ XXXX “ erfolgreich absolviert und in der Folge den Pflichtschulabschlusskurs beginnen dürfen. Zusätzlich absolviere er in Wien bei „Start Wien“ zahlreiche Integrationsmaßnahmen. Der Beschwerdeführer und seine österreichische Partnerin, Frau XXXX , hätten sich vor etwa einem Jahr kennengelernt und habe sich aus dieser Freundschaft eine tiefe Verbundenheit entwickelt. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung erscheine in casu unvermeidlich, um sein Vorbringen ganzheitlich zu würdigen.
Vorgelegt wurden unter einem folgende Unterlagen:
? Verschiedene Empfehlungsschreiben
? Besuchsbestätigung XXXX Bildungsinstitut betr. Kurs „Bildung für Flüchtlinge“
? Teilnahmebestätigungen XXXX Bildungsinstitut betr. Pflichtschulabschlusskurs
? Wiener Infopass
? Teilnahmebestätigung betr. des Info-Moduls Bildung der Stadt Wien
? Teilnahmebestätigung des Stadt-Wien-Charta Workshops
? Sozialbericht des Samariterbundes Wien
? Bestätigung betr. des Rückkehrberatungsgesprächs der CARITAS-Rückkehrhilfe Niederösterreich Ost
? Kopie des britischen Visums des Bruders
? Behördliches Schreiben vom 03.06.2013
? Urteil des Landesgerichts XXXX vom 05.07.2013
? Urteil des Ältestenrates vom 26.01.2014
18. Die gegenständliche Beschwerde und die bezughabenden Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 01.10.2018 vorgelegt und langten beim Bundesverwaltungsgericht am 03.10.2018 ein.
19. Mit Verfügung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 20.05.2020 wurde für den 20.07.2020 eine mündliche Beschwerdeverhandlung anberaumt und der Beschwerdeführer hierzu geladen. Unter einem wurde ein Konvolut an Unterlagen zur aktuellen Situation in Afghanistan dem Beschwerdeführer übermittelt und wurde dem Beschwerdeführer die Gelegenheit eingeräumt, dazu binnen einer Woche vor der mündlichen Verhandlung eine schriftliche Stellungnahme zu übermitteln.
20. Mit Schriftsatz vom 09.07.2020 beantragte der Beschwerdeführer durch seinen Rechtsberater die zeugenschaftliche Einvernahme seines Bruders XXXX zum Beweis dafür, dass dieser für die britische Armee in Afghanistan als Dolmetscher gearbeitet habe. Ausgeführt wurde in dem Zusammenhang, dass der Beschwerdeführer somit nach den UNHCR Richtlinien Stand August 2018 zur Risikogruppe der Zivilsten gehöre, die mit den internationalen Streitkräften verbunden seien oder diese vermeintlich unterstütze sowie zur Risikogruppe der Familienangehörigen von Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen. Allein aufgrund der Tatsache, dass der Vater des Beschwerdeführers beim fünften Angriff auf das Familienhaus erkannt habe, dass einer der Angreifer der Sohn des Nachbarn gewesen sei, könne ohne zu ermitteln nicht ausgeschlossen werden, dass die früheren Angriffe mit der Dolmetschertätigkeit des Bruders für die britischen Truppen in Verbindungen gestanden seien. Fakt sei, dass es neun Angriffe auf die Familie des Beschwerdeführers gegeben habe, bei denen der Vater und der Bruder des Beschwerdeführers ums Leben gekommen seien. Wie aus den vorgelegten Beweismitteln (behördliches Schreiben, Urteil des Landesgerichts XXXX , Urteil der Jirga, Schreiben der Jirga) ersichtlich sei, habe die Familie alle Maßnahmen ergriffen, die ihr zur Verfügung gestanden seien. Trotzdem hätten alle männlichen Familienmitglieder durch die Grundstücksstreitigkeit ihr Leben verloren. Von den Familienangehörigen sei nur noch die Mutter des Beschwerdeführers am Leben. Da es keine Verwandten mehr in dem Ort gebe, kümmere sich ein Freund des Beschwerdeführers um die Mutter. Unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände und vor allem angesichts der Verschlechterung der bereits prekären Lebensverhältnisse aufgrund der Corona-Pandemie sei ihm eine Rückkehr weder nach Kabul, noch nach Mazar-e Sharif oder Herat zumutbar.
Vorgelegt wurden unter einem folgende Unterlagen:
? Teilnahmebestätigung der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Wien betr. die Teilnahme des Beschwerdeführers an der Studie „Re-Define“
? Zeugnis zur Integrationsprüfung Sprachniveau B1
? Schulbesuchsbestätigung Sommersemester 2020, Abend AHS
21. Mit Stellungnahme vom 27.07.2020 brachte der Beschwerdeführer durch seinen Rechtsberater vor, dass er sich im Rahmen seines bisherigen Aufenthalts in Österreich außerordentlich gut integriert habe. Er bemühe sich um den Ausbau seiner Deutschkenntnisse und habe schon den Pflichtschulabschluss. Er besuche die Abendschule und wolle die Matura machen. Er verfüge über einen breiten Freundeskreises in Österreich und besuche in seiner Freizeit regelmäßig mehrere Gruppenaktivitäten, um seine sozialen Netzwerke zu erweitern. Nach einer Gesamtbetrachtung wäre eine Rückkehrentscheidung jedenfalls ein ungerechtfertigter Eingriff in sein Privatleben gemäß Art. 8 EMRK und daher unzulässig.
22. Am 20.07.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht unter der Beiziehung eines Dolmetschers für Paschtu eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an welcher der Beschwerdeführer und sein Rechtsberater teilnahmen. Die belangte Behörde blieb entschuldigt der Verhandlung fern. Weiters nahmen drei Vertrauenspersonen an der Verhandlung teil.
Im Rahmen der Beschwerdeverhandlung reichte der Beschwerdeführer ergänzend folgende Unterlagen nach:
? Weitere Empfehlungsschreiben
? Bewerbungsschreiben des Beschwerdeführers als Mitarbeiter der SOKO-Einsatztruppe vom 24.01.2019
? Bestätigung betr. die Teilnahme am Integrationsprojekt „Start with a Friend in Austria“
? Stellungnahme COVID-19 zu Afghanistan vom 28.07.2020
? Zertifikat der KF-Universität Graz betr. die Teilnahme des Beschwerdeführers an der Lehrveranstaltung „Projektorganisation“ Fußball u. Krafttraining vom 25.06.2018
? Bestätigung des Lehrgangs Übergangsstufe an BMHS für Jugendliche mit geringen Kenntnissen der Unterrichtssprache Deutsch vom 29.06.2018
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen
Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer stellte nach illegaler Einreise nach Österreich am 09.12.2015 als unbegleiteter Minderjähriger einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Der zum Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung jedenfalls volljährige Beschwerdeführer wurde spätestens am XXXX in XXXX in Afghanistan geboren, er ist Staatsangehöriger von Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Paschtunen sowie der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Seine Identität steht nicht zweifelsfrei fest.
Der Beschwerdeführer lebte im Familienverband mit seinen Eltern sowie seinen zwei Brüdern im Heimatdorf. Er besuchte für drei Jahre die Grundschule und verfügt über Arbeitserfahrung als Landwirt.
Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Paschtu. In Afghanistan leben die Mutter sowie die Tante des Beschwerdeführers sowie deren Kinder. Der Beschwerdeführer steht mit seiner Mutter nicht in direktem Kontakt.
Beim Beschwerdeführer handelt es sich um einen alleinstehenden und leistungsfähigen Mann im berufsfähigen Alter. Der Beschwerdeführer ist arbeitsfähig und gesund.
Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Der Beschwerdeführer hält sich seit seiner Antragstellung am 09.12.2015 durchgehend auf Grund des vorläufigen Aufenthaltsrechts in seinem Asylverfahren rechtmäßig im Bundesgebiet auf, bestreitet den Lebensunterhalt im Rahmen der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig.
Der Beschwerdeführer verfügt im Bundesgebiet nicht über verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte. Er führt aktuell keine Lebensgemeinschaft, ist kinderlos und ledig. Der Beschwerdeführer hat in Österreich Deutschkurse bis zu dem Niveau B1 erfolgreich abgeschlossen. Er nimmt aktiv am Integrationsprojekt „start with friends“ teil und ist Mitglied in dem namensgleichen Verein. Er hat an zahlreichen über das Bildungsinstitut „ XXXX “ angebotenen Bildungskursen für Flüchtlinge, darunter auch am Pflichtschulabschlusskurs teilgenommen.
Der Beschwerdeführer war bisher nicht ehrenamtlich tätig. Er ist unbescholten.
Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer war in seiner Heimat keiner konkret und gezielt gegen seine Person gerichteten Verfolgung ausgesetzt. Im Fall der Rückkehr nach Afghanistan ist der Beschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner wie immer gearteten Verfolgung ausgesetzt.
Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz XXXX ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde.
Dem Beschwerdeführer steht aber eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative in einer der großen Städte Afghanistans, nämlich Mazar-e Sharif oder Herat zur Verfügung; diesbezüglich wird auch auf die nachfolgenden Ausführungen im Rahmen der rechtlichen Beurteilung verwiesen.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr nach Mazar-e Sharif oder Herat Gefahr liefe, aufgrund seines derzeitigen Gesundheitszustandes in einen unmittelbar lebensbedrohlichen Zustand zu geraten.
Es kann auch nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr nach Mazar-e Sharif oder Herat ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde.
Seine Existenz in Mazar-e Sharif oder Herat könnte er - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern.
Er ist auch in der Lage in den genannten Städten eine einfache Unterkunft zu finden. Der Beschwerdeführer hat zunächst auch die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr nach Mazar-e Sharif oder Herat Gefahr liefe, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Der Beschwerdeführer kann Mazar-e Sharif und Herat von Österreich aus sicher mit dem Flugzeug erreichen.
Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit Stand 29.06.2020 (LIB),
- UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),
- EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)
- ecoi.net Themendossier zu Afghanistan: „Sicherheitslage und die soziökonomische Lage in Herat und in Masar-e Scharif“ vom 26.05.2020 (ECOI Herat und Masar-e Sharif)
- ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Masar-e Sharif)
- ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.04.2020 (ACCORD Herat)
Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).
Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 4).
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).
Aktuelle Entwicklungen
Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 1).
Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2).
Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1).
Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).
Zivile Opfer
Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) – dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September – im Gegensatz zu 2019 – von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl – Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) – 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):
Taliban
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).
Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).
Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Kapitel 2).
Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).
Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach "fehlverhalten", unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen. (Landinfo 1, Kapitel 4)
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).
Berichten zufolge, besteht der ISKP in Pakistan hauptsächlich aus ehemaligen Teherik-e Taliban Mitgliedern, die vor der pakistanischen Armee und ihren militärischen Operationen in der FATA geflohen sind (CRS 12.2.2019; vgl. CTC 12.2018). Dem Islamischen Staat ist es gelungen, seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan dadurch zu stärken, dass er Partnerschaften mit regionalen militanten Gruppen einging. Seit 2014 haben sich dem Islamischen Staat mehrere Gruppen in Afghanistan angeschlossen, z.B. Teherik-e Taliban Pakistan (TTP)-Fraktionen oder das Islamic Movement of Uzbekistan (IMU), während andere ohne formelle Zugehörigkeitserklärung mit IS-Gruppierungen zusammengearbeitet haben, z.B. die Jundullah-Fraktion von TTP oder Lashkar-e Islam (CTC 12.2018).
Der islamische Staat hat eine Präsenz im Osten des Landes, insbesondere in der Provinz Nangarhar, die an Pakistan angrenzt (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). In dieser sind vor allem bestimmte südliche Distrikte von Nangarhar betroffen (AAN 27.9.2016; vgl. REU 23.11.2017; AAN 23.9.2017; AAN 19.2.2019), wo sie mit den Taliban um die Kontrolle kämpfen (RFE/RL 30.10.2017; vgl. AAN 19.2.2019). Im Jahr 2018 erlitt der ISKP militärische Rückschläge sowie Gebietsverluste und einen weiteren Abgang von Führungspersönlichkeiten. Einerseits konnten die Regierungskräfte die Kontrolle über ehemalige IS-Gebiete erlangen, andererseits schwächten auch die Taliban die Kontrolle des ISKP in Gebieten in Nangarhar (UNSC 13.6.2019; vgl. CSR 12.2.2019). Aufgrund der militärischen Niederlagen war der ISKP dazu gezwungen, die Anzahl seiner Angriffe zu reduzieren. Die Gruppierung versuchte die Provinzen Paktia und Logar im Südosten einzunehmen, war aber schlussendlich erfolglos (UNSC 31.7.2019). Im Norden Afghanistans versuchten sie ebenfalls Fuß zu fassen. Im August 2018 erfuhr diese Gruppierung Niederlagen, wenngleich sie dennoch als Bedrohung in dieser Region wahrgenommen wird (CSR 12.2.2019). Berichte über die Präsenz des ISKP könnten jedoch übertrieben sein, da Warnungen vor dem Islamischen Staat laut einem Afghanistan-Experten „ein nützliches Fundraising-Tool“ sind: so kann die afghanische Regierung dafür sorgen, dass Afghanistan im Bewusstsein des Westens bleibt und die Auslandshilfe nicht völlig versiegt (NAT 12.1.2017). Die Präsenz des ISKP konzentrierte sich auf die Provinzen Kunar und Nangarhar. Außerhalb von Ostafghanistan ist es dem ISKP nicht möglich, eine organisierte oder offene Präsenz aufrechtzuerhalten (UNSC 13.6.2019).
Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele, verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit (CSR 12.2.2019; vgl. UNAMA 24.2.2019; AAN 24.2.2019; CTC 12.2018; UNGASC 7.12.2018; UNAMA 10.2018). Im Jahr 2018 war der ISKP für ein Fünftel aller zivilen Opfer verantwortlich, obwohl er über eine kleinere Kampftruppe als die Taliban verfügt (AAN 24.2.2019). Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt (UNAMA 24.2.2019), nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab (UNAMA 30.7.2019).
Der ISKP verurteilt die Taliban als "Abtrünnige", die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019).
Allgemeine Menschenrechtslage
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).
Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).
Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).
Allgemeine Wirtschaftslage
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).
Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).
In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt. Dem Lock down Folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen:
In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei welchem bedürftigen Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden. In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes. Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern. Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).
Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.).
Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Medizinische Versorgung
Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).
90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).
Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).
Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt, mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
Ethnische Minderheiten
In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).
Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments – jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in ANA und der ANP repräsentiert (LIB, Kapitel 16.1).
Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden, und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen (LIB, Kapitel 16.1).
Religionen
Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 30.4.2019; vgl. AA 2.9.2019). Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als ein Prozent der Bevölkerung aus (AA 2.9.2019; vgl. CIA 30.4.2019, USDOS 21.6.2019); in Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan (UP 16.8.2019; vgl. BBC 11.4.2019). Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (USDOS 21.6.2019; vgl. FH 4.2.2019, MPI 2004). Die Abkehr vom Islam gilt als Apostasie, die nach der Scharia strafbewehrt ist (USODS 21.6.2019; vgl. AA 9.11.2016). Im Laufe des Untersuchungsjahres 2018 gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen aufgrund von Blasphemie oder Apostasie (USDOS 21.6.2019). Auch im Berichtszeitraum davor gab es keine Berichte zur staatlichen Strafverfolgung von Apostasie und Blasphemie (USDOS 29.5.2018).
Schiiten
Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 - 19% geschätzt. Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die Jafari-Schiiiten (Zwölfer-Schiiten). 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten, die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen (LIB, Kapitel 15.1).
Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Einige schiitische Muslime bekleiden höhere Regierungsposten. Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25-30%. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel 15.1).
Bewegungsfreiheit und Meldewesen
Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).
In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden. In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
Die großen COVID-19 bedingten Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen. Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wiederaufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird. Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wiederaufgenommen. Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wiederaufgenommen. Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich. Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu er