Entscheidungsdatum
03.11.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W128 2212272-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Michael FUCHS-ROBETIN als Einzelrichter über die Beschwerde des afghanischen Staatsangehörigen XXXX , geboren am XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 27.11.2018, Zl. 17-1172158507-171216637, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 28.07.2020 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der (mittlerweile) volljährige Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger sunnitischen Glaubens und Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken, stellte am 27.10.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen seiner Erstbefragung gab der Beschwerdeführer Folgendes an: Er stamme aus der Provinz Baghlan, Afghanistan. Afghanistan habe er vor etwa dreieinhalb Jahren verlassen, da seine Familie ständig von Feinden bedroht worden sei. Diese Feinde hätten seine Schwester und drei Onkel getötet. Gemeinsam mit seinem Bruder sei er deshalb aus Afghanistan geflüchtet. Im Falle einer Rückkehr fürchte er um sein Leben.
2. Bei seiner Einvernahme vor dem BFA am 10.09.2018 gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen Folgendes an:
Er stamme aus XXXX , Distrikt XXXX , Provinz Baghlan und habe gemeinsam mit seiner Familie in einem Wohnhaus gelebt. Sein Vater sei Rikscha-Fahrer und seine Mutter Hausfrau. Der Beschwerdeführer habe keine Schule besuchen können, da seine Familie von Feinden bedroht worden sei. Diese Feindschaft beruhe auf Grundstücksstreitigkeiten. Drei Onkel und eine Tante väterlicherseits seien von diesen Feinden getötet worden. Ein Onkel sei mit einer Mistgabel getötet worden. Der andere Onkel hätte sich aufgrund des Todes seines Bruders an diesen Feinden rächen wollen. Da die Feinde dies jedoch herausgefunden hätten, sei auch dieser Onkel getötet worden. Zu diesem Zeitpunkt sei der Beschwerdeführer gemeinsam mit seiner Mutter zuhause gewesen. Als sie die Schüsse gehört hätten, hätten sie Angst bekommen und sich versteckt. Nachdem diese Personen das Haus schließlich verlassen hätten, hätten sie die Leiche des Onkels entdeckt. Der dritte Onkel sei von den Feinden vergiftet worden, als er in der Arbeit gewesen sei. Die Feinde hätten ihr Wohnhaus „immer wieder“ attackiert und beschossen.
Der Beschwerdeführer sei einmal persönlich verfolgt worden. Bei diesem Vorfall sei er von den unbekannten Personen verfolgt worden. Er sei jedoch geflohen und habe sich in einem Haus versteckt. Eine Frau, die sich in diesem Haus befunden habe, habe den Beschwerdeführer wieder zu seinen Eltern gebracht. Nach diesem Vorfall habe sein Vater in Erfahrung gebracht, dass es sich bei diesen Personen um die Feinde der Familie gehandelt habe. Die Feinde hätten „geschworen“, dass sie die ganze Familie töten würden. Sein Vater habe sich auch an die Polizei gewendet, allerdings seien keine Ermittlungen durchgeführt worden bzw. hätten diese zu nichts geführt.
Überdies seien sie von den Taliban bedroht worden. Sie hätten verlangt, dass sein Bruder die Arbeit bei der Armee – er sei damals in Helmand stationiert gewesen – aufgeben müsse. Die Feinde hätten seinen Bruder in Helmand töten wollen. Die Taliban hätten nicht nur Drohbriefe geschickt, sondern auch das Wohnhaus der Familie des Beschwerdeführers überfallen und beschossen. Die Taliban hätten auch den Beschwerdeführer rekrutieren wollen. Als sein Vater schließlich davon erfahren habe, habe er entschieden, dass der Beschwerdeführer und sein Bruder Afghanistan verlassen sollten. Nach seiner Ausreise habe er dreieinhalb Jahre in der Türkei gelebt und dort als Fabrikarbeiter gearbeitet.
In Österreich besuche er einen Deutschkurs und wohne in der Flüchtlingsunterkunft XXXX . In Folge legte er Fotos vom beschossenen Haus in Afghanistan, eine Deutschkursbestätigung, ein Empfehlungsschreiben sowie ein Wehrdienstvollendungszeugnis seines Bruders vor.
3. Mit Stellungnahme vom 13.09.2018 wies die gesetzliche Vertreterin des Beschwerdeführers daraufhin, dass der Beschwerdeführer jünger sei, als das Alter, welches er derzeit führe. Da eine Altersdiagnose immer eine röntgenologische Untersuchung miteinschließe und dies einen Eingriff in die körperliche Integrität des Minderjährigen darstelle, müsse die Zustimmung zur Altersdiagnose verweigert werden. Im Hinblick auf die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Angaben des Beschwerdeführers, sei nach gängiger Rechtsprechung auf das junge Alter des Beschwerdeführers Bedacht zu nehmen. Der vom Beschwerdeführer vorgebracht Fluchtgrund sei subjektiv sowie in Anbetracht der Situation in Afghanistan objektiv wohlbegründet und knüpfe an mehrere Konventionsgründe an, weshalb eine asylrelevante Verfolgung vorliege. Ungeachtet einer Beurteilung des Fluchtvorbringens und einer allfälligen Asylrelevanz wäre dem Beschwerdeführer jedenfalls der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, da ihm eine Rückkehr aufgrund der individuellen Lage und der allgemeinen Sicherheitslage unzumutbar wäre.
4. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchteil I.) als auch des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchteil II.) ab. Unter einem sprach das BFA aus, dass dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt werde (Spruchteil III.), gegen ihn gestützt auf § 52 Abs. 2 Z 2 FPG, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG und § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) eine Rückkehrentscheidung erlassen werde (Spruchteil IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt werde, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchteil V.). Weiters sprach das BFA aus, dass gemäß § 55 Abs. 1a FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchteil VI.).
In seiner Begründung stellte das BFA zunächst fest, dass die Identität des Beschwerdeführers nicht zweifelsfrei feststehe. Der minderjährige Beschwerdeführer sei afghanischer Staatsangehöriger, sunnitischen Glaubens und Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken. Er sei arbeitsfähig, verfüge über Berufserfahrung und leide an keiner lebensbedrohenden Erkrankung. Seine Eltern befänden sich nach wie vor in Afghanistan.
Es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan konkreten Verfolgungshandlungen ausgesetzt gewesen sei oder solche für die Zukunft zu befürchten habe.
Dem Beschwerdeführer drohe keine asylrelevante Verfolgung in Afghanistan: Er habe nicht glaubhaft vorgebracht, dass die Taliban tatsächlich an seiner Person interessiert gewesen seien bzw. ihn bedroht hätten. Eine solches Vorbringen habe der Beschwerdeführer im Rahmen der Erstbefragung mit keinem Wort erwähnt. Überdies besitze der Beschwerdeführer keine persönlichen Merkmale (Kampferfahrung, Kenntnisse im Umgang mit Waffen und Sprengstoff etc.), die ihn für die Taliban interessant machen würden. Zu der vom Beschwerdeführer ins Treffen geführten Feindschaft sei festzuhalten, dass er – trotz mehrmaliger Nachfrage – nichts Genaues über „jene verfeindeten Personen“ erzählen hätte können. Es widerspreche jeglicher Lebenserfahrung, dass ein Mensch derartig geringes Interesse an solch „gravierenden und lebenseinschneidenden“ Informationen zeige. Auch wenn der Beschwerdeführer zum damaligen Zeitpunkt sehr jung gewesen sei, sei es nicht nachvollziehbar, weshalb er bis dato nichts über die näheren Umstände dieser Feindschaft in Erfahrung gebracht habe. Zum Vorbringen des Beschwerdeführers, dass er von den verfeindeten Personen verfolgt worden sei, sei festzuhalten, dass seine Angaben diesbezüglich stets vage geblieben seien und er nicht nachvollziehbar darlegen habe können, weshalb er gewusst habe, dass es sich bei den Personen um die Feinde der Familie gehandelt habe.
Überdies erscheine es auch höchst unglaubwürdig, dass die Taliban fünf bis sechs Mal an die Familie des Beschwerdeführers herangetreten seien und ihnen mehrmals Drohbriefe zugestellt hätten. Wäre der Bruder des Beschwerdeführers tatsächlich im Fokus der Terroristen gestanden, so hätten diese mit Sicherheit wesentlich effizientere Mittel eingesetzt. Überdies sei es auch unglaubwürdig, dass der Beschwerdeführer nichts Näheres über den Verbleib der Drohbriefe wisse bzw. diese nicht vorlegen könne. Der Beschwerdeführer sei zudem nicht in der Lage gewesen, den Zeitraum anzugeben, über welchen die Bedrohungen durch die Taliban stattgefunden hätten. Ein weiterer Hinweis, dass seine Angaben unglaubwürdig seien, sei die Tatsache, dass sich die Familie des Beschwerdeführers nach wie vor in Afghanistan aufhalte. Da laut Angaben des Beschwerdeführers der gesamten Familie die Gefahr einer Verfolgung drohe, könne dies nicht nachvollzogen werden.
Zur Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten sei festzuhalten, dass sich der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr als arbeitsfähiger, junger Mann selbst versorgen könne. Er könne zukünftig in Mazar-e Sharif leben und dort seinen Lebensunterhalt bestreiten. Überdies habe er familiäre und soziale Anknüpfungspunkte in Afghanistan. Seine Verwandten könnten ihn daher – unbeschadet der örtlichen Trennung – jedenfalls finanziell unterstützen. Abgesehen davon könne der Beschwerdeführer auch auf Zuwendungen von Hilfsorganisationen und anderen karitative Stellen zugreifen. Es bestehe somit keine sonstige, wie auch immer geartete, besondere Gefährdung des Beschwerdeführers in der Stadt Mazar-e Sharif. Mazar-e Sharif sei über den internationalen Flughafen erreichbar. Es habe somit nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer im Fall einer Rückkehr in eine existenzgefährdende Notlage geraten würde, weshalb ihm kein subsidiärer Schutz zu gewähren sei. Darüber hinaus sei festzuhalten, dass der Beschwerdeführer sein bisheriges Leben in Afghanistan verbracht habe und daher mit den Gegebenheiten vor Ort in Afghanistan vertraut sei.
Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen sei dem Beschwerdeführer nicht zu erteilen, da keiner der in § 57 AsylG genannten Gründe zutreffen würde.
Zur Rückkehrentscheidung sei festzuhalten, dass keine Integrationsverfestigung in Österreich festgestellt werden habe können. Der Beschwerdeführer habe auch keine Verwandte, Freunde und Bekannte in Österreich und verfüge somit über kein schützenswertes Privat- und Familienleben. Es würden weiters keine besonderen Bemühungen erkannt, dass sich der Beschwerdeführer in den letzten zwei Jahren in die österreichische Gesellschaft gut eingegliedert hätte. Das öffentliche Interesse an einem geordneten Fremdenwesen überwiege daher sein privates Interesse an einem Verbleib in Österreich, weshalb eine Rückkehrentscheidung zulässig sei.
Eine Abschiebung nach Afghanistan sei zulässig, da keine der in Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte oder die Protokolle Nr. 6 und 13 zur EMRK verletzt würden.
Sohin sei der Beschwerdeführer zu einer freiwilligen Ausreise binnen 14 Tagen ab Rechtskraft des Bescheides verpflichtet.
5. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde, in welcher er zusammengefasst Folgendes vorbringt:
Zunächst sei darauf hinzuweisen, dass das BFA aufgrund der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers einer erhöhten Ermittlungspflicht unterliege. Das BFA hätte daher etwaige Widersprüche aufzeigen müssen und dem Beschwerdeführer die Gelegenheit geben müssen, diese aufklären zu können. Dies beziehe sich insbesondere auf den Vorwurf, er hätte in Bezug auf die Verfolgung durch die Feinde sowie die Bedrohung durch die Taliban nur ungenaue Angaben gemacht. Das vom BFA durchgeführte Ermittlungsverfahren sei daher grob mangelhaft. Es sei auch nicht ersichtlich, auf welches „Amtswissen“ das BFA seine Ausführungen stütze, dass die Taliban bei tatsächlichem Interesse eine „schärfere“ Vorgehensweise gewählt hätten. Wenn dem Beschwerdeführer überdies vorgeworfen werde, dass er aufgrund der familiären Feinde ausreisen habe müssen, während seine Eltern sich weiterhin in Afghanistan befänden, sei dem zu entgegnen, dass es der allgemeinen Lebenserfahrung entspreche, dass die Eltern vorerst ihre Kinder in Sicherheit bringen würden. Überdies sei der Vorwurf, dass der Beschwerdeführer im Rahmen der Erstbefragung eine von den Taliban ausgehende Verfolgung noch nicht angeführt habe, haltlos. So solle die Erstbefragung vielmehr zu Ermittlung der Identität des Fremden und seiner hingelegten Reiseroute dienen. Auch wenn das BFA – trotz der Ausführungen des Beschwerdeführers – davon ausgehe, dass keine persönliche Verfolgung vorliege, sei dem zu entgegnen, dass es für die Glaubhaftmachung asylrelevanter Verfolgung nicht notwendig sei, dass tatsächlich bereits Verfolgungshandlungen stattgefunden hätten. Stattdessen reiche auch die maßgebliche Wahrscheinlichkeit von Verfolgungshandlungen im Rahmen einer Rückkehr.
Das BFA habe überdies die finanzielle Situation des minderjährigen Beschwerdeführers sowie die Fähigkeit seiner Familie, ihn unterstützen zu können, nicht ausreichend ermittelt. So habe der Beschwerdeführer vorgebracht, dass er schon lange keinen Kontakt mehr zu seiner Familie gehabt habe und im Falle einer Rückkehr auch nicht bei seinen Eltern wohnen könne, da sein Vater sehr wenig verdiene. Daraus könne geschlossen werden, dass die Eltern des Beschwerdeführers nicht fähig sein würden, ihm – im Falle einer Rückkehr in andere Landesteile Afghanistans – eine finanzielle Unterstützung zur Verfügung zu stellen. Auch der Faktor, dass sich der Beschwerdeführer nunmehr seit längerer Zeit in Europa aufhalte, bleibe unberücksichtigt. Wäre das BFA seiner Pflicht zur amtswegigen Ermittlung des entscheidungswesentlichen Sachverhalts nachgekommen und hätte es eine ganzheitliche Würdigung des Vorbringens des minderjährigen Beschwerdeführers unter Heranziehung aktueller Länderberichte und den besonderen Verfahrensgarantien für Minderjährige vorgenommen, hätte es zu dem Ergebnis gelangen müssen.
Überdies sei das Familien- und Privatleben des Beschwerdeführers in Österreich nicht ausreichend berücksichtigt worden. Der Beschwerdeführer sei gewillt die deutsche Sprache zu erlernen, besuche Deutschkurse und pflege zahlreiche sozialen Kontakte. Aufgrund seiner Einbindung in die österreichische Gesellschaft werde der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan in seinem Recht auf Familien- und Privatleben iSd Art. 8 EMRK verletzt.
6. Mit Schreiben vom 30.07.2020 legte der Beschwerdeführer seinen Tiroler Integrations-Kompass, eine Teilnahmebestätigung über den „Alpha-Kurs“ der Akademie der Tiroler Sozialen Dienste GmbH vom 27.08.2018, eine Bestätigung über einen Behandlungstermin „Psychotherapie“ vom 27.09.2018 sowie ein Empfehlungsschreiben vor.
7. In der Folge fand am 28.07.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt, an der sowohl der Beschwerdeführer als auch das BFA teilnahmen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger sunnitischen Glaubens und Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken. Seine Muttersprache ist Paschtu. Er ist ledig und kinderlos.
Der Beschwerdeführer wurde in XXXX , Distrikt XXXX , Provinz Baghlan geboren und wuchs dort gemeinsam mit seinen Eltern, seiner Schwester und seinem Bruder auf. Der Beschwerdeführer besuchte keine Schule. Er verließ Afghanistan im Jahr 2013 und hielt sich danach etwa drei Jahre in der Türkei auf, wo er als Fabrikarbeiter tätig war. Der Beschwerdeführer ist (mittlerweile) jedenfalls volljährig. Er ist gesund, befindet sich nicht in medikamentöser Behandlung und leidet an keiner der für COVID-19 notorischen Vorerkrankungen, weshalb er nicht zur einschlägigen Risikogruppe für COVID-19 zählt.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers
Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan jemals von verfeindeten Personen aufgrund von Grundstückstreitigkeiten verfolgt wurde. Ebenso konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer von den Taliban individuell bedroht wurde bzw. aufgefordert wurde, sich ihnen anzuschließen.
Eine Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung konnte daher nicht festgestellt werden. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität.
1.3. Zum Privatleben der Beschwerdeführer in Österreich
Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein, stellte am 27.10.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz und hält sich seitdem durchgehend in Österreich auf.
Der Beschwerdeführer besucht regelmäßig Deutschkurse, absolvierte allerdings noch keine Integrationsprüfung. Der Beschwerdeführer lebt von der Grundversorgung, er hat bloß wenige Tage für eine österreichische Gemeinde gearbeitet, ist somit am österreichischen Arbeitsmarkt nicht integriert und geht keiner Erwerbstätigkeit nach. Der Beschwerdeführer verfügt weder über Verwandte noch über sonstige enge soziale Bindungen, wie Ehefrau oder Kinder in Österreich. Der Beschwerdeführer hat keine Sorgepflichten.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat
Dem Beschwerdeführer könnte bei einer Rückkehr in die Provinz Baghlan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.
Die Familie des Beschwerdeführers befindet sich nach wie vor in XXXX , Distrikt XXXX , Provinz Baghlan. Der Vater des Beschwerdeführers arbeitet dort als Rikscha-Fahrer und seine Mutter ist Hausfrau. Sein Bruder hält sich in der Türkei auf. Die Familie des Beschwerdeführers wohnt in einem Eigentumshaus mit Hof, Grundstücke befinden sich nicht mehr in ihrem Besitz. Die Familie des Beschwerdeführers kann ihn bei einer Rückkehr nach Afghanistan zumindest vorübergehend finanziell unterstützen. Der Beschwerdeführer ist anpassungsfähig und kann einer regelmäßigen Arbeit nachgehen.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in die Städte Herat oder Mazar-e Sharif kann der Beschwerdeführer grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und in Herat oder Mazar-e Sharif einer Arbeit nachgehen und sich selbst erhalten.
Es ist dem Beschwerdeführer möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in den Städten Stadt Herat oder Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Zusätzlich kann er auch Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.
1.5. Zur hier relevanten Situation in Afghanistan
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 (LIB), letzte Kurzinformation eingefügt am 21.07.2020
- UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR)
- EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)
- Arbeitsübersetzung Landinfo Report "Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne" vom 23.08.2017 (Landinfo 1)
- Arbeitsübersetzung Landinfo Report "Afghanistan: Rekrutierung durch die Taliban“ vom 29.06.2017 (Landinfo 2)
- ecoi.net Themendossier zu Afghanistan: „Sicherheitslage und die soziökonomische Lage in Herat und in Masar-e Scharif“ vom 15.01.2020 (ECOI Herat und Masar-e Sharif)
- EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Stand Jänner 2018
- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan vom 13.09.2019: „Afghanistan – Sicherheitslage für Angehörige von US-Kollaborateuren“ (Anfragebeantwortung des BFA zu Afghanistan vom 13.09.2018)
- Kurzinformation der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan „COVID-19“ vom 09.04.2020 (vgl. Kurzinformation des BFA zu Afghanistan vom 09.04.2020)
1.5.1. Allgemeine Sicherheitslage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).
Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 3). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).
Für die Sicherheit in Afghanistan sind verschiedene Organisationseinheiten der afghanischen Regierungsbehörden verantwortlich. Die Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die Afghan National Police (ANP) und die Afghan Local Police (ALP). Die Afghan National Army (ANA) ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA. Die ALP wird durch die USA finanziert und schützt die Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gebieten vor Angriffen durch Aufständische (LIB, Kapitel 5).
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 3).
1.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 21).
Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 21).
In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses Systemfunktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 21).
Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bietet die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Kapital 4.2.).
Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
1.5.3. COVID-19
Berichten zufolge, haben sich in Afghanistan mehr als 35.000 Menschen mit COVID-19 angesteckt, mehr als 1.280 sind daran gestorben. Aufgrund der begrenzten Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der begrenzten Testkapazitäten sowie des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt zu wenig gemeldet. 10 Prozent der insgesamt bestätigten COVID-19-Fälle entfallen auf das Gesundheitspersonal. Kabul ist hinsichtlich der bestätigten Fälle nach wie vor der am stärksten betroffene Teil des Landes, gefolgt von den Provinzen Herat, Balkh, Nangarhar und Kandahar. Beamte in der Provinz Herat sagten, dass der Strom afghanischer Flüchtlinge, die aus dem Iran zurückkehren, und die Nachlässigkeit der Menschen, die Gesundheitsrichtlinien zu befolgen, die Möglichkeit einer neuen Welle des Virus erhöht haben, und dass diese in einigen Gebieten bereits begonnen hätte. Am 18.07.2020 wurde mit 60 neuen COVID-19 Fällen der niedrigste tägliche Anstieg seit drei Monaten verzeichnet – wobei an diesem Tag landesweit nur 194 Tests durchgeführt wurden.
Krankenhäuser und Kliniken berichten weiterhin über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19. Diese Herausforderungen stehen im Zusammenhang mit der Bereitstellung von persönlicher Schutzausrüstung (PSA), Testkits und medizinischem Material sowie mit der begrenzten Anzahl geschulter Mitarbeiter - noch verschärft durch die Zahl des erkrankten Gesundheitspersonals. Es besteht nach wie vor ein dringender Bedarf an mehr Laborequipment sowie an der Stärkung der personellen Kapazitäten und der operativen Unterstützung.
Maßnahmen der afghanischen Regierung und internationale Hilfe
Die landesweiten Sperrmaßnahmen der Regierung Afghanistans bleiben in Kraft. Universitäten und Schulen bleiben weiterhin geschlossen. Die Regierung Afghanistans gab am 6.6.2020 bekannt, dass sie die landesweite Abriegelung um drei weitere Monate verlängern und neue Gesundheitsrichtlinien für die Bürger herausgeben werde. Darüber hinaus hat die Regierung die Schließung von Schulen um weitere drei Monate bis Ende August verlängert.
Berichten zufolge werden die Vorgaben der Regierung nicht befolgt, und die Durchsetzung war nachsichtig. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus unterscheiden sich weiterhin von Provinz zu Provinz, in denen die lokalen Behörden über die Umsetzung der Maßnahmen entscheiden. Zwar behindern die Sperrmaßnahmen der Provinzen weiterhin periodisch die Bewegung der humanitären Helfer, doch hat sich die Situation in den letzten Wochen deutlich verbessert, und es wurden weniger Behinderungen gemeldet.
Einwohner Kabuls und eine Reihe von Ärzten stellten am 18.07.2020 die Art und Weise in Frage, wie das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) mit der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie im Land umgegangen ist, und sagten, das Gesundheitsministerium habe es trotz massiver internationaler Gelder versäumt, richtig auf die Pandemie zu reagieren. Es gibt Berichte wonach die Bürger angeben, dass sie ihr Vertrauen in öffentliche Krankenhäuser verloren haben und niemand mehr in öffentliche Krankenhäuser geht, um Tests oder Behandlungen durchzuführen.
Beamte des afghanischen Gesundheitsministeriums erklärten, dass die Zahl der aktiven Fälle von COVID-19 in den Städten zurückgegangen ist, die Pandemie in den Dörfern und in den abgelegenen Regionen des Landes jedoch zunimmt. Der Gesundheitsminister gab an, dass 500 Beatmungsgeräte aus Deutschland angekauft wurden und 106 davon in den Provinzen verteilt werden würden.
Am Samstag den 18.07.2020 kündete die afghanische Regierung den Start des Dastarkhan-e-Milli-Programms als Teil ihrer Bemühungen an, Haushalten inmitten der COVID-19-Pandemie zu helfen, die sich in wirtschaftlicher Not befinden. Auf der Grundlage des Programms will die Regierung in der ersten Phase 86 Millionen Dollar und dann in der zweiten Phase 158 Millionen Dollar bereitstellen, um Menschen im ganzen Land mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die erste Phase soll über 1,7 Millionen Familien in 13.000 Dörfern in 34 Provinzen des Landes abdecken.
Die Weltbank genehmigte am 15.07.2020 einen Zuschuss in Höhe von 200 Millionen US-Dollar, um Afghanistan dabei zu unterstützen, die Auswirkungen von COVID-19 zu mildern und gefährdeten Menschen und Unternehmen Hilfe zu leisten.
In der Provinz Balkh gibt es ein Krankenhaus, welches COVID-19 Patienten behandelt und über 200 Betten verfügt. Es gibt Berichte, dass die Bewohner einiger Distrikte der Provinz mit Wasserknappheit zu kämpfen hatten. Darüber hinaus hatten die Menschen in einigen Distrikten Schwierigkeiten mit dem Zugang zu ausreichender Nahrung, insbesondere im Zuge der COVID-19-Pandemie.
In der Provinz Herat gibt es zwei Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln. Ein staatliches öffentliches Krankenhaus mit 100 Betten, das vor kurzem speziell für COVID-19-Patienten gebaut wurde und ein Krankenhaus mit 300 Betten, das von einem örtlichen Geschäftsmann in einem umgebauten Hotel zur Behandlung von COVID-19-Patienten eingerichtet wurde. Es gibt Berichte, dass 47,6 Prozent der Menschen in Herat unter der Armutsgrenze leben, was bedeutet, dass oft ein erschwerter Zugang zu sauberem Trinkwasser und Nahrung haben, insbesondere im Zuge der Quarantäne aufgrund von COVID-19, durch die die meisten Tagelöhner arbeitslos blieben.
In der Provinz Daikundi gibt es ein Krankenhaus für COVID-19-Patienten mit 50 Betten. Es gibt jedoch keine Auswertungsmöglichkeiten für COVID-19-Tests – es werden Proben entnommen und zur Laboruntersuchung nach Kabul gebracht. Es dauert Tage, bis ihre Ergebnisse von Kabul nach Daikundi gebracht werden. Es gibt Berichte, dass 90 Prozent der Menschen in Daikundi unter der Armutsgrenze leben und dass etwa 60 Prozent der Menschen in der Provinz stark von Ernährungsunsicherheit betroffen sind.
In der Provinz Samangan gibt es ebenso ein Krankenhaus für COVID-19-Patienten mit 50 Betten. Wie auch in der Provinz Daikundi müssen Proben nach Kabul zur Testung geschickt werden. Eine unzureichende Wasserversorgung ist eine der größten Herausforderungen für die Bevölkerung. Nur 20 Prozent der Haushalte haben Zugang zu sauberem Trinkwasser.
Wirtschaftliche Lage in Afghanistan
Verschiedene COVID-19-Modelle zeigen, dass der Höhepunkt des COVID-19-Ausbruchs in Afghanistan zwischen Ende Juli und Anfang August erwartet wird, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft Afghanistans und das Wohlergehen der Bevölkerung haben wird. Es herrscht weiterhin Besorgnis seitens humanitärer Helfer, über die Auswirkungen ausgedehnter Sperrmaßnahmen auf die am stärksten gefährdeten Menschen – insbesondere auf Menschen mit Behinderungen und Familien – die auf Gelegenheitsarbeit angewiesen sind und denen alternative Einkommensquellen fehlen. Der Marktbeobachtung des World Food Programme (WFP) zufolge ist der durchschnittliche Weizenmehlpreis zwischen dem 14. März und dem 15. Juli um 12 Prozent gestiegen, während die Kosten für Hülsenfrüchte, Zucker, Speiseöl und Reis (minderwertige Qualität) im gleichen Zeitraum um 20 – 31 Prozent gestiegen sind. Einem Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) und des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht (MAIL) zufolge sind über 20 Prozent der befragten Bauern nicht in der Lage, ihre nächste Ernte anzubauen, wobei der fehlende Zugang zu landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und die COVID-19-Beschränkungen als Schlüsselfaktoren genannt werden. Darüber hinaus sind die meisten Weizen-, Obst-, Gemüse- und Milchverarbeitungsbetriebe derzeit nur teilweise oder gar nicht ausgelastet, wobei die COVID-19-Beschränkungen als ein Hauptgrund für die Reduzierung der Betriebe genannt werden. Die große Mehrheit der Händler berichtete von gestiegenen Preisen für Weizen, frische Lebensmittel, Schafe/Ziegen, Rinder und Transport im Vergleich zur gleichen Zeit des Vorjahres. Frischwarenhändler auf Provinz- und nationaler Ebene sahen sich im Vergleich zu Händlern auf Distriktebene mit mehr Einschränkungen konfrontiert, während die große Mehrheit der Händler laut dem Bericht von teilweisen Marktschließungen aufgrund von COVID-19 berichtete.
Am 19.07.2020 erfolgte die erste Lieferung afghanischer Waren in zwei Lastwagen nach Indien, nachdem Pakistan die Wiederaufnahme afghanischer Exporte nach Indien angekündigt hatte um den Transithandel zu erleichtern. Am 12.7.2020 öffnete Pakistan auch die Grenzübergänge Angor Ada und Dand-e-Patan in den Provinzen Paktia und Paktika für afghanische Waren, fast zwei Wochen nachdem es die Grenzübergänge Spin Boldak, Torkham und Ghulam Khan geöffnet hatte.
In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden. In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen.
Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge, lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt. Dem Lockdown Folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können.
Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen
In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf.
Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei dem bedürftige Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden. In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes. Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern. Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes.
Weitere Maßnahmen der afghanischen Regierung
Schulen und Universitäten sind nach aktuellem Stand bis September 2020 geschlossen. Über Fernlernprogramme, via Internet, Radio und Fernsehen soll der traditionelle Unterricht im Klassenzimmer vorerst weiterhin ersetzen werden. Fernlehre funktioniert jedoch nur bei wenigen Studierenden. Zum einen können sich viele Familien weder Internet noch die dafür benötigten Geräte leisten und zum Anderem schränkt eine hohe Analphabetenzahl unter den Eltern in Afghanistan diese dabei ein, ihren Kindern beim Lernen behilflich sein zu können.
Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen. Afghanistan hat mit 24.06.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wiederaufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird. Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.06.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wiederaufgenommen. Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wiederaufgenommen. Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich. Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt.
Seit 01.01.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (LIB, Kurzinformation vom 21.07.2020).
1.5.4. Ethnische Minderheiten
In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 17).
Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments – jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (LIB, Kapitel 17.1).
Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden, und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen (LIB, Kapitel 17.1).
1.5.5. Religionen
Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 16).
1.5.6. Allgemeine Menschenrechtslage
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 11).
Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).
Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).
1.5.7. Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).
Taliban
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).
Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).
Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).
Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach "fehlverhalten", unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen (Landinfo 1, Kapitel 4).
Die Regierungsbeamten sind überzeugt, dass die Taliban über alles unterrichtet sind, was geschieht, selbst in Gegenden, in denen sie nur schwach vertreten sind. Natürlich behaupten die Taliban, dass ihre Nachrichtendienste in allen afghanischen Provinzen vertreten sind.
Wenngleich dies bis zu einem gewissen Maß zutrifft, unterschiedet sich diese Präsenz nach Intensität und Qualität außerordentlich stark, denn einige Provinzen sind fast völlig unter der Kontrolle der Taliban und andere kaum betroffen.
Das Ausmaß der Einschüchterungen und Verfolgungen von Zielpersonen haben wahrscheinlich ihren Höhepunkt erreicht, es sei denn, die amerikanische Präsenz in Afghanistan würde nochmals erheblich ansteigen. Die Einschüchterungen und die Verfolgung von Zielpersonen hat an strategischer Bedeutung verloren, da die Taliban nunmehr davon überzeugt sind, dass sie eine direkte Konfrontation mit den Streitkräften Kabuls gewinnen können, weswegen sie immer mehr Ressourcen zu ihren halb-regulären, mobilen Kräften kanalisieren. Der allgemeine Eindruck von Afghanistan ist, dass der Einfluss der Regierung zugunsten der Taliban abnimmt, daher sind Einschüchterungstaktiken nicht mehr so relevant. Außerdem hat sich die Regierung aus vielen ländlichen Gebieten zurückgezogen, die jetzt von den Taliban kontrolliert werden.
Die Liste der Personen, für deren Verfolgung die Taliban in den großen Städten Ressourcen investieren, umfasst einige Dutzend bis höchstens 100 Personen. Für die Taliban weniger bedeutsame Personen und ihre Familien können einer Verfolgung vermutlich durch einen Umzug in eine größere Stadt entgehen, das trifft aber vermutlich nicht auf jene Personen zu, welche auch aufgrund von persönlichen Feindschaften, Rivalitäten oder Auseinandersetzungen verfolgt werden (Anfragebeantwortung des BFA zu Afghanistan vom 13.09.2018)
1.5.8. Provinzen und Städte
1.5.8.1. Herkunftsprovinz Baghlan
Baghlan liegt im Nordosten Afghanistans. Eine knappe Mehrheit der Einwohner von Baghlan sind Tadschiken, gefolgt von Paschtunen und Hazara als zweit- bzw. drittgrößte ethnische Gruppen. Außerdem leben ethnische Usbeken und Tataren in Baghlan. Die Provinz hat 995.814 Einwohner (LIB, Kapitel 3.4).
Baghlan gehört zu den relativ volatilen Provinzen Afghanistans. Aufständische der Taliban sind in gewissen unruhigen Distrikten aktiv, in denen sie oftmals terroristische Aktivitäten gegen die Regierung und Sicherheitsinstitutionen durchführen. Im Jahr 2018 gab es 261 zivile Opfer (68 Tote und 193 Verletzte) in Baghlan. Dies entspricht einer Steigerung von 17% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Bomben (IEDs) und gezielten Tötungen (LIB Kapitel 3.4).
In der Provinz Baghlan kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an Einzelelementen erforderlich ist, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).
1.5.8.2. Mazar-e Sharif/Herat Stadt
Mazar-e Sharif ist die Provinzhauptstadt von Balkh, einer ethnisch vielfältigen Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Sie hat 469.247 Einwohner und steht unter Kontrolle der afghanischen Regierung (LIB, Kapitel 3.5).
Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).
Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel 21). Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen (LIB, Kapitel 21). Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als wirtschaftlich relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Die Unterkunftssituation stellt sich in Mazar-e Sharif, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Mazar-e Sharif besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Die meisten Menschen in Mazar-e Sharif haben Zugang zu erschlossener Wasserversorgung (76%), welche in der Regel in Rohrleitungen oder aus Brunnen erfolgt. 92% der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Während Mazar-e Sharif im Zeitraum Juni 2019 bis September 2019 noch als IPC Stufe 1 „minimal“ (IPC - Integrated Phase Classification) klassifiziert wurde, ist Mazar-e Sharif im Zeitraum Oktober 2019 bis Januar 2020 in Phase 2 „stressed“ eingestuft. In Phase 1 sind die Haushalte in der Lage, den Bedarf an lebensnotwenigen Nahrungsmitteln und Nicht-Nahrungsmitteln zu decken, ohne atypische und unhaltbare Strategien für den Zugang zu Nahrung und Einkommen zu verfolgen. In Phase 2 weisen Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch auf und sind nicht in der Lage, sich wesentliche, nicht nahrungsbezogene Güter zu leisten, ohne dabei irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (ECOI, Kapitel 3.1).
In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es 10 - 15 – teils öffentliche, teils private – Krankenhäuser. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer, jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken die zu 80% öffentlich finanziert sind (LIB, Kapitel 22).
Herat-Stadt ist die Provinzhauptstadt der Provinz Herat. Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert, der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 durch Iran-Rückkehrer und Binnenvertriebene besonders gestiegen. Sie hat 556.205 Einwohner (LIB, Kapitel 3.13).
Herat ist durch die Ring-Road sowie durch einen Flughafen mit nationalen und internationalen Anbindungen sicher und legal erreichbar (LIB, Kapitel 3.13). Der Flughafen Herat (HEA) liegt 13 km südlich der Stadt im Distrikt Gozara. Die Straße, welche die Stadt mit dem Flughafen verbindet wird laufend von Sicherheitskräften kontrolliert. Unabhängig davon gab es in den letzten Jahren Berichte von Aktivitäten von kriminellen Netzwerken, welche oft auch mit Aufständischen in Verbindung stehen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten auszuüben. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Herat so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).
Im Vergleich mit anderen Teilen des Landes weist Herat wirtschaftlich und sicherheitstechnisch relativ gute Bedingungen auf. Es gibt Arbeitsmöglichkeiten im Handel, darunter den Import und Export von Waren mit dem benachbarten Iran, wie auch im Bergbau und Produktion. Die Industrie der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMUs) ist insbesondere im Handwerksbereich und in der Seiden- und Teppichproduktion gut entwickelt und beschäftigt Tagelöhner sowie kleine Unternehmer (LIB, Kapitel 21).
Die Unterkunftssituation stellt sich in Herat, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Herat besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Die meisten Menschen in Herat haben Zugang zu Elektrizität (80 %), zu erschlossener Wasserversorgung (70%) und zu Abwasseranlagen (30%). 92,1 % der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen und 81,22 % zu besseren Wasserversorgungsanlagen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Herat ist im Zeitraum Oktober 2019 bis Januar 2020 als IPC Stufe 2 klassifiziert (IPC - Integrated Phase Classification). In Phase 2, auch „stressed“ genannt, weisen Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch auf und sind nicht in der Lage, sich wesentlich, nicht nahrungsbezogenen Güter zu leisten, ohne dabei irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (ECOI, Kapitel 3.1.).
1.5.9. Blutfehde
Gemäß althergebrachter Verhaltens- und Ehrvorstellungen töten bei einer Blutfehde die Mitglieder einer Familie als Vergeltungsakte die Mitglieder einer anderen Familie. In Afghanistan sind Blutfehden in erster Linie eine Tradition der Paschtunen und im paschtunischen Gewohnheitsrechtssystem Paschtunwali verwurzelt, kommen jedoch Berichten zufolge auch unter anderen ethnischen Gruppen vor. Blutfehden können durch Morde ausgelöst werden, aber auch durch andere Taten wie die Zufügung dauerhafter, ernsthafter Verletzungen, Entführung oder Vergewaltigung verheirateter Frauen oder ungelöster Streitigkeiten um Land, Zugang zu Wasser oder Eigentum. Blutfehden können zu langanhaltenden Kreisläufen aus Gewalt und Vergeltung führen. Nach dem Paschtunwali muss die Rache sich grundsätzlich gegen den Täter selbst richten, unter bestimmten Umständen kann aber auch der Bruder des Täters oder ein anderer Verwandter, der aus der väterlichen Linie stammt, zum Ziel der Rache werden. Im Allgemeinen werden Berichten zufolge Racheakte nicht an Frauen und Kindern verübt, doch soll der Brauch baad, eine stammesübliche Form der Streitbeilegung, in der die Familie des Täters der Familie, der Unrecht geschah, ein Mädchen zur Heirat anbietet, vor allem im ländlichen Raum praktiziert werden, um eine Blutfehde beizulegen. Wenn die Familie, der Unrecht geschah, nicht in der Lage ist, sich zu rächen, dann kann, wie aus Berichten hervorgeht, die Blutfehde erliegen, bis die Familie des Opfers sich für fähig hält, Racheakte auszuüben. Daher kann sich die Rache Jahre oder sogar Generationen nach dem eigentlichen Vergehen ereignen. Die Bestrafung des Täters im Rahmen des formalen Rechtssystems schließt gewaltsame Racheakte durch die Familie des Opfers nicht notwendigerweise aus. Sofern die Blutfehde nicht durch eine Einigung mit Hilfe traditioneller Streitbeilegungsmechanismen beendet wurde, kann Berichten zufolge davon ausgegangen werden, dass die Familie des Opfers auch dann noch Rache gegen den Täter verüben wird, wenn dieser seine offizielle Strafe bereits verbüßt hat. (UNHCR, Kapitel III. A. 14)
1.5.10. Situation für Rückkehrer
In den ersten vier Monaten des Jahres 2019 kehrten insgesamt 63.449 Menschen nach Afghanistan zurück. Im Jahr 2018 kamen 775.000 aus dem Iran und 46.000 aus Pakistan zurück (LIB, Kapitel 23).
Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken sowie politische Netzwerke usw. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institut