Entscheidungsdatum
19.08.2020Norm
Art 11 EMRKText
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich erkennt durch seinen Richter Dr. Zeinhofer über die Beschwerde des Herrn A S, x, x, gegen den Bescheid der Landespolizeidirektion Oberösterreich vom 9. Juli 2020, GZ: PAD/20/1185012/VW, betreffend die Untersagung der für den x, von 12:00-16:00 Uhr, vom x (x)- x (Zufahrt zum S – vor M) angezeigten Versammlung
zu Recht:
Der Beschwerde wird mit der Maßgabe stattgegeben, als der angefochtene Bescheid aufgehoben und darüber hinaus festgestellt wird, dass die Untersagung der angezeigten Versammlung rechtswidrig erfolgte.
Entscheidungsgründe
I.1. Mit Bescheid vom 9. Juli 2020, GZ: PAD/20/1185012/VW, untersagte die Landespolizeidirektion Oberösterreich (im Folgenden: belangte Behörde) die mittels E-Mail Eingabe vom 8. Juli 2020 vom nunmehrigen Beschwerdeführer (im Folgenden: Bf) angezeigte Versammlung zum Thema „S d T - f G u K g C“ am x von 12:00 bis 16:30 Uhr in x, x (x – x – x (Zufahrt zum S – vor M) gemäß § 6 Versammlungsgesetz iVm Art 11 Abs 2 EMRK, da die Abhaltung das öffentliche Wohl gefährden würde. Für eine allfällige Beschwerde wurde die aufschiebende Wirkung ausgeschlossen.
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass die Behörde die Interessen des Veranstalters an der Abhaltung der Versammlung in der geplanten Form gegen die in Art 11 Abs 2 EMRK enthaltenen öffentlichen Interessen am Unterbleiben der Versammlung abzuwägen habe. Diese Entscheidung sei eine Prognoseentscheidung, die aufgrund konkret festgestellter, objektiv erfassbarer Umstände in sorgfältiger Abwägung zwischen dem Schutz der Versammlungsfreiheit und den von der Behörde wahrzunehmenden öffentlichen Interessen zu treffen ist.
Die Behörde sei nur dann zur Untersagung der Versammlung ermächtigt, wenn dies aus einem der in Art 11 Abs 2 EMRK genannten Gründe notwendig ist.
Bei der von der Behörde zu treffenden Prognoseentscheidung komme es nicht nur auf die Absichten des Veranstalters, sondern auch auf die realistische und nachvollziehbare Einschätzung des zu erwartenden Geschehnisablaufes an.
Die Abhaltung der Versammlung würde eine Gefährdung im Hinblick auf das öffentliche Wohl, im Besonderen die Gesundheit, darstellen. Die Covid-19 Maßnahmengesetze und die auf deren Grundlage erlassenen Verordnungen würden zum gemeinsamen Ziel haben, die weitere Verbreitung von Covid-19 möglichst hintanzuhalten.
Das Zulassen der Abhaltung einer Versammlung, welche ihrerseits durch ein Zusammenkommen von Personen in Form einer allgemeinen Zugänglichkeit charakterisiert sei, würde dem verfolgten Gesundheitsziel diametral zuwiderlaufen.
Nach Rücksprache am 9. Juli 2020 mit der Gesundheitsbehörde, Dr. N, sei eine mobile Versammlung mit einer großen Gefahr der Ausbreitung der Pandemie verbunden. Laut Gesundheitsbehörde sei es auf jeden Fall sinnvoll, derzeit höchstens Standkundgebungen zuzulassen. Aus Sicht der Gesundheitsbehörde stelle – insbesondere vor dem Hintergrund wiederum dreistelliger Infektionszahlen in x – eine mobile Demonstration mit 100 Personen eine maßgebliche Gesundheitsgefährdung dar. Im Gegensatz zu stationären Demos sei die Einhaltung der Auflagen kaum überwachbar, käme es zu Kontakten mit nicht beteiligten Personen (ohne Mundschutz), seien die Abstandregeln aufgrund räumlicher Unabwägbarkeiten nicht gesichert und auch sei ein eventuell nachfolgendes Tracing der Gesundheitsbehörde nicht machbar, da nicht nachvollziehbar sei, wer zu welchem Zeitpunkt sich wo aufgehalten hat.
Es müsse auch berücksichtigt werden, dass auch unbeteiligte Personen, also jene, die nicht an der Versammlung teilnehmen, unterwegs sind und einer Gefährdung der Ansteckung ausgesetzt seien.
Einschränkungen im Zuge der Ausübung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit stünden, sofern diese zum Schutz der Gesundheit notwendig sind, explizit im Einklang mit Art 11 Abs 2 EMRK. Covid-19 stelle eine, in diesem Ausmaß noch nie dagewesene Gesundheitsgefährdung dar, welcher global betrachtet bereits tausende Menschen zum Opfer gefallen sind. Das öffentliche Interesse an der Eindämmung dieser Pandemie wiege ungleich schwerer, als das Interesse des Veranstalters auf Ausübung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit.
Die in der Versammlungsanzeige angeführte erwartete Teilnehmeranzahl sei als bloße Schätzung zu verstehen. Da die Versammlung, als eine allgemein zugängliche Zusammenkunft ausgestaltet sei, könne von vorherein nicht ausgeschlossen werden, dass tatsächlich erheblich mehr Personen an deren Abhaltung teilnehmen würden. Davon sei im gegenständlichen Fall auch auszugehen, da vom Veranstalter diese über soziale Medien verbreitet bzw. beworben werde und es sei daher davon auszugehen, dass es zum Zustrom eines Vielfachen der angegebenen Teilnehmerzahl kommen werde.
Bei steigender Personenanzahl an einem Ort steige das Infektionsrisiko deutlich an, da die Teilnahme nur einer infizierten Person eine gefährliche Infektionskette eröffnen würde.
Seitens der österreichischen Bundesregierung würden intensive Bemühungen dahingehend gesetzt werden, die Anzahl sozialer Kontakte in Form von zwischenmenschlichen Begegnungen auf das unbedingte Notwendige einzuschränken. Durch den ganz überwiegenden Teil der österreichischen Bevölkerung würden die verordneten Bewegungsbeschränkungen mit vorbildhafter Disziplin eingehalten werden. Aufgrund dieser Disziplin habe es an 1.5.2020 zu einigen „Lockerungen“ der Covid-19-Maßnahmen kommen können.
Aufgrund der massiven Steigerung der Covid-19 Fälle in den letzten Tagen hätten verschärfte Maßnahmen, in Form einer neuen Covid-19 Verordnung, in Oberösterreich durchgeführt werden müssen.
Das Zulassen der Abhaltung einer mobilen Versammlung würde der Zielsetzung der Viruseindämmung vehement entgegenstehen und wäre zudem geeignet, die Moral für das weitere, ohnehin mühevolle Durchhalten in der österreichischen Bevölkerung erheblich nachteilig zu beeinflussen.
Bei einer sorgfältigen Abwägung der Interessen kam die belangte Behörde zu der Auffassung, dass die Interessen zur Aufrechterhaltung der Gesundheit von Menschen und der Hintanhaltung der Weiterverbreitung des Covid-19 höher bewertet werden müsse, als die Interessen des Veranstalters an der Abhaltung der Versammlung.
In Hinblick auf Art 11 Abs 2 EMRK sei die Untersagung zum Schutz der Gesundheit und Moral notwendig gewesen.
Die aufschiebende Wirkung einer allfälligen Beschwerde gegen diesen Bescheid sei auszuschließen, da ansonsten die Gefahr der Vereitelung des durch die Untersagung beabsichtigten Zwecks bestehe.
I.2. Mit Schriftsatz vom 6. August 2020 erhob der Bf rechtzeitig Beschwerde „gegen die Untersagung einer Versammlung, Geschäftszahl PAD/20/1185012/VW“. Begründend führte der Bf im Wesentlichen aus, dass die Versammlung als mobile Demonstration konzipiert gewesen sei und wegen vermeintlich erhöhtem Infektionsrisiko im Vergleich zu Standkundgebungen untersagten worden wäre. Damit setze die belangte Behörde eine bestehende Praxis der Untersagung mobiler Demonstrationen fort.
Diese Praxis sei nicht verhältnismäßig und zudem ein ungerechtfertigter Eingriff in das Versammlungsrecht. Für die im Untersagungsbescheid genannte „maßgebliche Gesundheitsgefährdung“ werde keine wissenschaftliche Evidenz angeführt. Somit sei, anders als etwa laut VfSlg 5087/1965 erforderlich, gerade nicht auf „konkret, festgestellte, objektiv erfassbare Umstände“ rekurriert.
Eine Stellungnahme des Allgemeinmediziners und Public Health–Experten Dr. M S, M, die sich unmittelbar auf die gegenständliche Untersagung bezieht, betone dies. In mehreren Punkten werde in der Stellungnahme nachgewiesen, dass kein Verweis auf die notwendige wissenschaftliche Evidenz erfolge. Dr. S verweist auf die geringe Anzahl an Covid-19 Erkrankten in x zum Zeitpunkt der Untersagung, welche gegen die behauptete massive gesundheitliche Gefährdung spreche. Gleichzeitig führt Dr. S unter Bezugnahme auf einschlägige wissenschaftliche Literatur aus, dass bei Versammlungen im Freien generell das Infektionsrisiko sehr klein sei und dass aus „gesundheitswissenschaftlicher Sicht nichts gegen die Abhaltung einer mobilen Versammlung“ spreche, sofern Maßnahmen wie der „empfohlene Mindestabstand“ eingehalten werden würden. In expliziter Bezugnahme auf die Untersagung betonte Dr. S in seiner Stellungnahme außerdem, dass auch bei mobilen Versammlungen „so wie bei einer Standkundgebung“ das Infektionsrisiko „extrem gering“ sei.
Einschnitte in das Grundrecht der Versammlungsfreiheit seien außerdem immer wieder neu zu bewerten und es sei ein „verändertes Infektionsgeschehen“ im Vergleich zum Monat März 2020 zu beobachten.
Des Weiteren seien mehrere Richtigstellungen in Bezugnahme auf die Untersagung zu machen:
Im Zusammenhang mit der Behauptung, dass unbeteiligte Personen durch eine mobile Demonstration unbeabsichtigt in Kontakt mit den demonstrierenden Personen kommen und den Sicherheitsabstand nicht mehr einhalten können, sei zu bemerken, dass laut Anzeige der Versammlung einzig und alleine ansonsten befahrene Straßen als Demonstrationsroute gewählt worden wären. Es wäre ein Kontakt mit am Gehsteig gehenden Personen in jedem Fall vermieden worden.
Zur Behauptung, dass die Anzahl an teilnehmenden Personen an der Versammlung signifikant größer als in der Anzeige hätte ausfallen können, wodurch das Infektionsrisiko drastisch gesteigert worden wäre, sei zu bemerken, dass die einzige größere angelegte Bewerbung der Versammlung über ein der Landespolizeidirektion bekanntes Event auf Facebook geschehen sei. Dieses Event habe zum Zeitpunkt der Untersagung null Zusagen und null Interessensbekundungen gehabt. Im Nachhinein hätten sich diese Zahlen, teils durch eine fehlerhafte Eingabe von Interessenten, auf kleine einstellige Werte erhöht. Dies als Beleg für eine zu erwartende tausendfache Anzahl an teilnehmenden Personen zu werten, sei unverhältnismäßig. Zudem hätte aus vergangenen Demonstrationen für Klimaschutz, die der Bf unter seinem Namen angemeldet hatte, etwa eine Versammlung gegen den Ausbau der A26 am 19. Juni 2020 am x Hauptbahnhof mit damals 50 teilnehmenden Personen, darauf geschlossen werden können, dass bei ähnlichen Themensetzungen, mithin großteils gleichen teilnehmenden Personen, ein ähnliches Interesse zu erwarten sei.
Zum Hinweis, dass eine große mobile Versammlung das Risiko bergen würde, die „Moral [...] in der österreichischen Bevölkerung“ – hinsichtlich des Einhaltens aller notwendigen Vorsichtmaßnahmen bezüglich Covid-19 – zu verringern, sei zu sagen, dass (1) die Versammlung in kleinem Rahmen geblieben wäre, (2) aus bisherigen Erfahrungswerten klar hervorging, dass die teilnehmenden Personen an unseren Versammlungen die Sicherheitsmaßnahmen einhalten, somit keinesfalls ein „Gegenbeispiel“ gegen die Covid-19-Sicherheitsmaßnahmen hätte sein können, und (3) mit einem solchen Argument jegliche etwas größere Versammlung untersagt werden könne, unabhängig davon, ob sie stehend oder gehend abgehalten werde. Das würde eklatant gegen die Intention des Art 11 EMRK verstoßen und wäre mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen nicht vereinbar.
Aus der Kommunikation per E-Mail mit der belangten Behörde gehe hervor, dass der Bf dem Besprechungstermin nicht unentschuldigt ferngeblieben sei. Durch seine schriftliche Entschuldigung, auf welche ihm kein alternativer Termin angeboten worden sei, habe er seine Mitwirkungspflichten als Versammlungsanzeiger erfüllt.
Ergänzend merkt der Bf an, dass bei anderen, früher angemeldeten Versammlungen, etwa jener, die er für 19. Juni 2020 angemeldet habe, bei viel geringerer Anzahl an Covid-19 Erkrankten in x bereits ein Untersagung angekündigt worden sei, sofern die Anzeige nicht auf eine Standkundgebung umgeändert werden würde. Wenn die wissenschaftliche Begründung der angeführten Gesundheitsgefährdung schon für x fragwürdig sei, so gelte das in noch viel größerem Ausmaß für 19. Juni 2020. Zu diesem Zeitpunkt sei die Anzahl an mit Covid-19 Infizierten in x im einstelligen oder maximal kleinen zweistelligen Bereich gewesen. Die fortlaufende Praxis der Untersagung mobiler Kundgebungen in Oberösterreich sei somit im Allgemeinen nicht gerechtfertigt und beschneide das für eine Demokratie essentielle Recht der Versammlungs- und darüber hinaus der Meinungsfreiheit. Auch das sei mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen nicht vereinbar.
Die Untersagung der Versammlung sei aus diesen Gründen aufzuheben.
I.3. Mit Schreiben vom 10. August 2020, eingelangt am 14. August 2020, legte die belangte Behörde die Beschwerde samt dem bezughabenden Verwaltungsakt dem Landesverwaltungsgericht OÖ zur Entscheidung vor. Eine Beschwerdevorentscheidung wurde nicht erlassen.
Das Landesverwaltungsgericht OÖ hat Beweis erhoben durch die Einsichtnahme in die Beschwerde und den vorgelegten Verwaltungsakt. Von der Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung konnte abgesehen werden, da der Akt erkennen lässt, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt. Ferner steht dem Entfall der Verhandlung weder Art 6 EMRK noch Art 47 GRC entgegen (vgl VwGH 15.6.2010, 2009/22/0347).
I.4. Es steht folgender entscheidungsrelevanter S a c h v e r h a l t fest:
Mit E-Mail Eingabe vom 8. Juli 2020 meldete der Bf eine Versammlung für den x von 12:00 bis 16:30 Uhr im x Stadtgebiet (Route: x (x) – x – x (Zufahrt zum S – vor M)) unter dem Motto „S d T - f G u K g C“ an. Dabei wurde der geplante Zeitplan wie folgt dargestellt: 12:00 Uhr Standortkundgebung, 13:15 Uhr Start des Demonstrationszuges, 14:00 Uhr Ankommen beim S/x und anschließend eine weitere Standortkundgebung. Die Teilnehmerzahl an dieser Veranstaltung wurde auf rund 100 Personen geschätzt. Entsprechend der Anmeldung hätten Schilder und Transparente verwendet werden sollen. In der E-Mail Eingabe des Bf wurde festgehalten, dass die Covid-19-Sicherheitsmaßnahmen (Sicherheitsabstand der TeilnehmerInnen von mindestens einem Meter, auch bei Zu- und Abgängen; Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes; kein direkter Körperkontakt; Mitnahme von Desinfektionsmittel) eingehalten werden. Weiters wurde durch den Bf hervorgehoben, dass die beim Start hergestellte Positionierung während des Demonstrationszuges beibehalten wird und die Gehzeit aufgrund der zügigen Bewegung der Gruppe unter einer Dreiviertelstunde bleiben wird.
Bei einer Besprechung der Versammlungsbehörde am 9. Juli 2020 nahm der Bf –trotz Erforderlichkeitshinweis durch die belangte Behörde – aus beruflichen Gründen nicht teil.
II. Der festgestellte Sachverhalt ergibt sich widerspruchsfrei aus dem vorgelegten Verwaltungsakt und der Beschwerde.
III. Gemäß Art 11 Abs 1 EMRK haben alle Menschen das Recht, sich friedlich zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschließen.
Gemäß Art 11 Abs 2 EMRK darf die Ausübung dieser Rechte keinen anderen Einschränkungen unterworfen werden, als den vom Gesetz vorgesehenen, die in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen und öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral oder des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind. Dieser Artikel verbietet nicht, dass die Ausübung dieser Rechte durch Mitglieder der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwaltung gesetzlichen Einschränkungen unterworfen wird.
Gemäß § 6 Versammlungsgesetz - VersG sind Versammlungen, deren Zweck den Strafgesetzen zuwiderläuft oder deren Abhaltung die öffentliche Sicherheit oder das öffentliche Wohl gefährdet, von der Behörde zu untersagen.
IV. In rechtlicher Hinsicht ist Folgendes auszuführen:
IV.1. In Art 11 Abs 1 EMRK wird zunächst allen Menschen ein Versammlungsrecht eingeräumt. Dieses unterliegt nach Art 11 Abs 2 EMRK gewissen Schranken, die gesetzlich ausgestaltet sein müssen. Eine derartige einfachgesetzliche Determinierung wurde insbesondere in § 6 VersG getroffen.
Ein Eingriff in das durch Art 11 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende Entscheidung ohne Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art 11 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet wurde; ein solcher Fall liegt vor, wenn die Entscheidung mit einem so schweren Fehler belastet ist, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise ein verfassungswidriger, insbesondere ein dem Art 11 Abs 1 EMRK widersprechender und durch Art 11 Abs 2 EMRK nicht gedeckter Inhalt unterstellt wurde (vgl VfSlg 19.818/2013).
Gemäß § 6 VersammlungsG sind Versammlungen, deren Zweck den Strafgesetzen zuwiderläuft oder deren Abhaltung die öffentliche Sicherheit oder das öffentliche Wohl gefährdet, von der Behörde (§ 16 leg.cit.) - bescheidmäßig - zu untersagen. Die Behörde ist hierzu jedoch nur dann ermächtigt, wenn dies aus einem der in Art 11 Abs 2 EMRK genannten Gründe notwendig ist. Die Behörde hat, wenn sie eine Untersagung der Versammlung in Betracht zieht, die Interessen des Veranstalters an der Abhaltung der Versammlung in der geplanten Form gegen die in Art 11 Abs 2 EMRK aufgezählten öffentlichen Interessen am Unterbleiben der Versammlung abzuwägen (vgl zB VfSlg 10.443/1985, 12.257/1990).
Die Frage, ob die Voraussetzungen für eine Untersagung der Versammlung vorliegen, ist in einer sogenannten "Prognoseentscheidung" zu beantworten. Die Behörde hat nämlich auf Grund konkret festgestellter, objektiv erfassbarer Umstände zu prognostizieren, ob und weshalb bei Abhaltung der Versammlung etwa die öffentliche Sicherheit oder das öffentliche Wohl gefährdet werden (vgl zB VfSlg 5087/1965 und 16.054/2000).
Dass diese Verpflichtung des Staates nach Lage des Falles nach der gemäß Art 11 Abs 2 EMRK verpflichtend vorgesehenen Durchführung der Interessensabwägung auch zur Untersagung einer Versammlung bzw Kundgebung führen kann, steht ebenfalls außer Streit. Bei widerstreitenden Interessen haben die zuständigen Behörden eine Interessensabwägung verpflichtend durchzuführen.
Wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Erkenntnis im Fall Öllinger und in darauf folgenden Entscheidungen (vgl zB EGMR 4.12.2014, Fall Navalnyy ua., Appl. 76.204/11) hervorgehoben hat, sind bei der Untersagung von Versammlungen zudem auch sämtliche Aspekte des Einzelfalles zu prüfen. Dann und nur dann kann die Untersagung gerechtfertigt sein.
IV.2. § 10 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 ergriffen wurden (COVID-19-Lockerungsverordnung – COVID-19-LV), BGBl II Nr. 197/2020 idF BGBl II Nr. 342/2020, regelt die Covid-19 Sicherheitsmaßnahmen im Zusammenhang mit der Durchführung von Veranstaltungen. Gemäß § 10 Abs 11 Z 3 leg cit. gelten die Absätze 1 bis 9 nicht für Versammlungen nach dem Versammlungsgesetz 1953. Diese sind unter den Voraussetzungen des genannten Bundesgesetzes zulässig, mit der Maßgabe, dass Teilnehmer eine den Mund- und Nasenbereich abdeckende mechanische Schutzvorrichtung zu tragen haben, wenn der Abstand von mindestens einem Meter gemäß § 1 Abs. 1 COVID-19-LV nicht eingehalten werden kann.
IV.3. Der Bf gibt in der Beschwerde an, dass die durch die COVID-19-LV zum Zeitpunkt der geplanten Abhaltung der Demonstration vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnahmen durch die teilnehmenden Personen eingehalten werden. Eine Versammlung nach dem VersammlungsG 1953 ist daher zulässig, wenn die Voraussetzungen des genannten Bundesgesetzes vorliegen.
IV.3. § 6 VersammlungsG sieht vor, dass Versammlungen, deren Zweck den Strafgesetzen zuwiderläuft oder deren Abhaltung die öffentliche Sicherheit oder das öffentliche Wohl gefährdet, von der Behörde zu untersagen sind. Für die Auflösung der Versammlung selbst und mehr noch für eine auf § 6 VersammlungsG gestützte Untersagung im Vorfeld des Stattfindens einer Versammlung ist (ebenso wie bei der Frage, ob eine Versammlung iSd Art 11 EMRK vorliegt) eine strengere Kontrolle geboten. Diese Maßnahmen beinträchtigen die Freiheit der Versammlung in besonders gravierender Weise und berühren den Kernbereich des Grundrechts. Sie sind daher nur zulässig, wenn sie zur Erreichung der in Art 11 Abs 2 EMRK genannten Ziele zwingend notwendig sind, sodass die Untersagung einer Versammlung stets nur ultima ratio sein kann (vgl VfSlg 19.741/2013; VfGH 4.3.2014, B 1008/2013).
§ 6 VersG normiert drei Alternativen, bei deren Vorliegen eine Versammlung zu untersagen ist, also in die verfassungsmäßige Grundfreiheit eingegriffen werden muss.
- Erstens betrifft dies Fälle, in denen der Zweck einer Versammlung Strafgesetzen zuwiderlaufen würde.
- Zweitens muss durch die Abhaltung der Versammlung die öffentliche Sicherheit oder
- Drittens die öffentliche Ordnung gefährdet werden.
IV.4. Eine strafrechtliche Relevanz des Versammlungszwecks ist nicht zu erkennen und daher im Weiteren unbeachtlich.
Im Rahmen der gebotenen Prognoseentscheidung ist auf die Feststellungen des Sachverhalts zu verweisen, wonach die nach COVID-19-LV gebotenen Sicherheitsmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung des Virus bei der Durchführung der Demonstration eingehalten werden sollen. Die belangte Behörde stützte den angefochtenen Bescheid auf die mögliche Verbreitung des Virus durch eine mobile/gehende Demonstration. Wie bereits dargelegt, können Versammlungen nach der COVID-19-LV stattfinden, sofern die Teilnehmer eine den Mund- und Nasenbereich abdeckende mechanische Schutzvorrichtung zu tragen haben, wenn der Abstand von mindestens einem Meter gemäß § 1 Abs. 1 COVID-19-LV nicht eingehalten werden kann. Die Versammlung entspricht daher jener Norm, welche das Ziel verfolgt, die Verbreitung von Covid-19 möglichst hintanzuhalten. Weitere Gründe für eine Untersagung gem § 6 VersG wurden von der belangten Behörde nicht genannt.
Die belangte Behörde muss die Prognoseentscheidung auf einer realistischen und nachvollziehbaren Einschätzung des zu erwartenden Geschehnisablaufes treffen. Laut E-Mail Eingabe und in der Beschwerde des Bf wurde eine Teilnehmerzahl von ca 100 Personen angeben. Nachvollziehbare Gründe für eine Übersteigerung dieser Anzahl wurden von der belangten Behörde nicht vorgebracht. Verstärkend kommt hier hinzu, dass gem § 10 Abs 3 COVID-19-LV ab 1. Juli 2020 Veranstaltungen bis zu 500 Personen im Freiluftbereich zulässig gewesen wären.
IV.6. Die Bestimmung des § 6 VersG ist angesichts des materiellen Gesetzesvorbehalts in Art 11 Abs 2 EMRK im Einklang mit dieser Verfassungsnorm zu interpretieren. Die Behörde ist daher zur Untersagung nur dann ermächtigt, wenn dies aus einem der in Art 11 Abs 2 EMRK genannten Gründe notwendig ist (s. etwa VfSlg. 10.443/1985, 12.155/1989, 12.257/1990). Nachdem in Art 11 Abs 2 EMRK als Schutzgüter ua das Interesse der öffentlichen Sicherheit und der Aufrechterhaltung der Ordnung sowie der Schutz der Gesundheit von Menschen angeführt sind, findet sich eine rechtliche Deckung für den Eingriff in das Grundrecht der Versammlungsfreiheit. Allerdings bedarf es dazu auch einer Interessensabwägung bzw Verhältnismäßigkeitsprüfung, um diesen – dem Grunde nach zulässigen – Eingriff zu rechtfertigen.
Im Rahmen dieser Interessensabwägung ist das unbestritten bedeutende Interesse des Bf auf Ausübung der Versammlungsfreiheit mit dem Interesse der öffentlichen Sicherheit und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung sowie dem Schutz der Gesundheit von Menschen abzuwägen.
Hinsichtlich des ggst Falls ist dazu festzuhalten, dass die Durchführung der ggst angezeigten Versammlung, ein gewisses Risiko zur Verbreitung des Corona-Virus birgt. Ein öffentliches Interesse an der Untersagung der Demonstration kann daher bejaht werden. Jedoch muss die Untersagung iSd Verhältnismäßigkeitsprüfung mit den Interessen des Bf an der Ausübung seines Rechts auf Versammlungsfreiheit abgewogen werden. Die Behörden müssen – um das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat zu wahren – auf Basis der bestehenden Rechtsvorschriften handeln. Wie bereits oben ausgeführt, war zum Zeitpunkt der Eingabe der Versammlung bei der belangten Behörde eine solche jedenfalls unter den nach VersG vorgegebenen Voraussetzungen zulässig. Die Abwägung des Einschnitts in die geSte Grundrechtsphäre des Bf im Vergleich zu konkret zu befürchtenden Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Gesundheit durch die Abhaltung einer Versammlung mit ca. 100 Teilnehmern unter Einhaltung der Sicherheitsmaßnahmen, führt zum Schluss, dass dem Interesse der Abhaltung der Versammlung in dieser Konstellation höheres Gewicht beizumessen ist.
IV.7. Im Ergebnis überwiegt das Interesse an der Abhaltung der angezeigten Versammlung den im Art 11 Abs 2 EMRK genannten Interessen, weshalb der Beschwerde stattzugeben war.
V. Der Vollständigkeit halber sei angemerkt: Die behördliche Untersagung sowie die Auflösung einer Versammlung sind, so wie die Beurteilung der Frage, ob eine Versammlung überhaupt unter den Versammlungsbegriff subsumiert werden kann, Entscheidungen, die den Kernbereich der Versammlungsfreiheit betreffen (vgl. etwa VfSlg 19.961/2015). Eine Entscheidung darüber obliegt dem eine strenge Kontrolle anhand der einfachgesetzlichen Bestimmungen vornehmenden Verfassungsgerichtshof. Eine Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes ist somit nicht gegeben (vgl. etwa VwGH 27.2.2018, Ra 2017/01/0105), weshalb sich auch der ansonsten gemäß § 25a Abs. 1 VwGG notwendige Abspruch über die Zulässigkeit einer Revision erübrigt.
Schlagworte
Versammlung; Untersagung; Interessenabwägung; COVID-19; Prognoseentscheidung; VerhältnismäßigkeitAnmerkung
Alle Entscheidungsvolltexte sowie das Ergebnis einer gegebenenfalls dazu ergangenen höchstgerichtlichen Entscheidung sind auf der Homepage des Oö LVwG www.lvwg-ooe.gv.at abrufbar.European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:LVWGOB:2020:LVwG.750874.6.MZ.MaHZuletzt aktualisiert am
15.12.2020