TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/30 L503 2235187-1

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Veröffentlicht am 30.09.2020
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Entscheidungsdatum

30.09.2020

Norm

Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen §1
BBG §40
BBG §41
BBG §42
BBG §43
BBG §45
B-VG Art133 Abs4

Spruch

L503 2235187-1/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. DIEHSBACHER als Vorsitzenden und die Richterin Maga JICHA sowie den fachkundigen Laienrichter RgR PHILIPP über die Beschwerde von XXXX gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Salzburg, vom 29.05.2020, OB XXXX , zu Recht erkannt:

A.) Der Beschwerde wird gemäß § 28 Abs 1 VwGVG stattgegeben und ausgesprochen, dass der Grad der Behinderung 60 v. H. beträgt.

Die Voraussetzungen für die Eintragung des Zusatzes „Gesundheitsschädigung gemäß § 2 Abs. 1 dritter Teilstrich der Verordnung des Bundesministers für Finanzen über außergewöhnliche Belastungen, BGBl. Nr. 303/1996“ in den Behindertenpass liegen vor.

Die Voraussetzungen für die Eintragung des Zusatzes „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass liegen ebenfalls vor.

B.) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

1. Der nunmehrige Beschwerdeführer (im Folgenden kurz: „BF“) verfügte seit 12.8.2019 über einen Behindertenpass mit einem Grad der Behinderung von 50 v. H. und der Zusatzeintragung „Gesundheitsschädigung gem. § 2 Abs. 1 dritter Teilstrich VO 303/1996 liegt vor“. Grund dafür war ein Rektumkarzinom (ED: 10/2018, Neoadjuvante Chemotherapie-Rektumresektion), eingeschätzt mit 50 v. H. nach Position 13.01.03.

2. Am 17.12.2019 beantragte der BF beim Sozialministeriumservice (im Folgenden kurz: „SMS“) die Neufestsetzung des Grades der Behinderung im Behindertenpass sowie die Ausstellung eines Ausweises gemäß § 29b StVO (Parkausweis) und somit die Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel“ in den Behindertenpass.

3. Daraufhin holte das SMS ein Sachverständigengutachten ein und wurde der BF am 20.02.2020 von Dr. H. H., Arzt für Allgemeinmedizin und Facharzt für Chirurgie, untersucht.

In dem in weiterer Folge von Dr. H. H. am 28.2.2020 erstellten medizinischen Sachverständigengutachten wird eingangs auszugsweise wie folgt ausgeführt:

„Derzeitige Beschwerden:

Der Patient kommt alleine und ohne Gehbehelfe zur Untersuchung. Er berichtet, dass er 4-6x/Tag flüssige Stühle habe. Der Stuhldrang wird verspürt. Weiters berichtet er über eine Einschränkung der körperlichen Leistungsbreite-Leistungsfähigkeit ist stark reduziert. Weiters leide er auch an Schlaflosigkeit. Ebenso verspüre er ein Taubheitsgefühl an der rechten Zehe. Die Gehstrecke ist nicht eingeschränkt - 1 Stockwerk kann er überwinden. Weitere funktionelle Einschränkungen werden auch auf Nachfrage nicht angegeben.“

Zusammengefasst wurde als Ergebnis der durchgeführten Begutachtung wie folgt festgehalten:

Lfd. Nr.

Funktionseinschränkung

Position

GdB

01

Rektumkarzinom-ED: 10/2018-Neoadjuvante Chemotherapie-Z.n. Rektumresektion-Z.n. Dünndarm-Ileus.

Einstufung der Erkrankung mit dem unteren Wert des Rahmensatzes von 50 %-Derzeit in Observanz-Kein Rezidivhinweis-Schutzileostoma bereits rückoperiert-4-6x Diarrhoe/Tag.

13.01.03

50 vH

 

Gesamtgrad der Behinderung

50 vH

 

Begründend für den Gesamtgrad der Behinderung wurde ausgeführt, Position 1 als Hauptdiagnose (das Rektumkarzinom) ergebe auch den Gesamtgrad der Behinderung von insgesamt 50 %. Im Vergleich zum Vorgutachten vom 10.09.2019 hätten sich keine wesentlichen gesundheitlichen Veränderungen ergeben.

Im Hinblick auf die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wurde wie folgt ausgeführt: „Die Eintragung der Unzumutbarkeit bzw. Ausstellung eines Parkausweises wird anamnestisch mit 4-6x flüssigen Stühlen/Tag begründet. Von Seiten des Bewegungsapparates gibt es für den Patienten keine Einschränkungen. Eine Gehstrecke von 300-400m ist möglich, Ein-und Aussteigen aus einem öffentlichen Verkehrsmittel nicht eingeschränkt und die Standsicherheit zur gefahrlosen Beförderung ist gegeben. Auch die angegebene Stuhlfrequenz ist keine Indikation zur Eintragung der Unzumutbarkeit bzw. Ausstellung eines Parkausweises.“

4. Mit Schreiben zur Wahrung des Parteiengehörs vom 2.3.2020 führte das SMS aus, die Ermittlungen hätten ergeben, dass der Grad der Behinderung weiterhin mit 50 v. H. betrage. Wie dem Sachverständigengutachten zu entnehmen sei, könne die beantragte Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ nicht vorgenommen werden. Deshalb seien auch die Voraussetzungen für den Ausweis gemäß § 29b StVO (Parkausweis) nicht gegeben. Es bestehe die Möglichkeit, innerhalb von zwei Wochen eine schriftliche Stellungnahme einzubringen. Beigelegt wurde das Gutachten von Dr. H. H. vom 28.2.2020.

Eine Stellungnahme des BF ist nicht aktenkundig.

5. Mit dem nunmehr bekämpften Bescheid vom 29.5.2020 sprach das SMS aus, dass mit einem Grad der Behinderung von 50% keine Veränderung des bisherigen Grades der Behinderung des BF eingetreten sei; sein Antrag vom 17.12.2019 auf Neufestsetzung des Grades der Behinderung werde daher abgewiesen. Die Voraussetzungen für folgende Zusatzeintragung liege vor: „Gesundheitsschädigung gem. § 2 Abs.1 dritter Teilstrich VO 303/1996 liegt vor“. Die Voraussetzungen für folgende Zusatzeintragung liege nicht vor: „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“.

Begründend wurde – neben Darstellung der rechtlichen Grundlagen - ausgeführt, im Ermittlungsverfahren sei ein Gutachten eingeholt worden; nach diesem Gutachten betrage der Grad der Behinderung 50%. Nach diesem Gutachten würden zudem die Voraussetzungen für die Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ nicht vorliegen. Die wesentlichen Ergebnisse des ärztlichen Begutachtungsverfahrens seien der Beilage, die einen Bestandteil der Begründung bilde, zu entnehmen. Dem BF sei mit Schreiben vom 2.3.2020 Gelegenheit gegeben worden, zum Ergebnis des Ermittlungsverfahrens Stellung zu nehmen. Da eine Stellungnahme innerhalb der gesetzten Frist nicht eingelangt sei, habe vom Ergebnis des Ermittlungsverfahrens nicht abgegangen werden können. Beigelegt wurde dem Bescheid das Sachverständigengutachten von Dr. H. H. vom 28.2.2020.

6. Mit Schreiben vom 5.6.2020 erhob der BF fristgerecht Beschwerde gegen den Bescheid vom 29.5.2020. Darin führte er aus, im Gutachten seien vier bis sechs tägliche, flüssige und unkontrollierbare Stühle angeführt; diese würden die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel unzumutbar machen. Darüber hinaus sei er mittlerweile an einer massiven Darmverschlingung operiert worden und habe sich sein Allgemeinzustand stark reduziert. Er ersuche um nochmalige Überprüfung. Beigelegt wurden vom BF ein Entlassungsbrief des Uniklinikums Salzburg (Notaufnahme) vom 25.4.2020 sowie ein Entlassungsbrief des Uniklinikums Salzburg vom 28.4.2020 (Aufnahmegrund: Bridenileus [Anmerkung des BVwG: Darmverschluss] bei z.N. roboterassistierte Rektumresektion mit Anlage eines Schutzileostomas bei neoadjuvant vorbehandeltem tiefen Rektumkarzinom; durchgeführte Maßnahmen: Laparoskopische Bridenlösung und Adhäsiolyse).

7. Im Gefolge der Beschwerde des BF holte das SMS ein weiteres Sachverständigengutachten ein und wurde der BF am 13.7.2020 von Dr. S. B., Ärztin für Allgemeinmedizin, untersucht. In ihrem Gutachten vom 28.8.2020 führte die Gutachterin eingangs auszugsweise wie folgt aus:

„Derzeitige Beschwerden:

Der Antragsteller kommt zur weiteren Untersuchung nach Einwendung, es besteht seit 10/18 ein Rektumkarzinom mit Z.n Stoma und Z.n Rückoperation, weiters Z.n Chemotherapie und Bestrahlung. Eine Schlafstörung besteht seither noch immer, sowie sehr unregelmäßige Stuhlgänge, rund 3-6x pro Tag oft auch in der Nacht kommt es zu Durchfällen, er kann den Stuhl generell nicht halten und benötigt rund 4-6 Einlagen pro Tag seit der letzten Operation. Die letzte Nachsorge erfolgte 02/20 mit keinem Hinweis auf Rezidiv. Weiters besteht auch ein Gewichtsverlust von 10 kg. Seit rund 1 Monat leidet er an unabgeklärten Leisten- und Hodenschmerzen. Seit der Op mit Kreuzstich besteht eine leichte Gefühllosigkeit im rechten Bein, er knicke immer wieder ein. 20 Minuten Gehdauer ist möglich.“

[…]

Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):

Notaufnahme, LKH Salzburg, 04/20:

Koprostase

- Z.n. Appendektomie in der Kindheit

- Z.n. Roboter assistierte Rektumresektion mit Anlage eines Schutzileostomas bei neoadjuvant vorbehandeltem tiefem Rektumkarzinom bei 5 cm ab ano ypT2, pNO (0/23), L0, V0, R0, MO, UICC-Stadium: I. (BHB, 18.02.2019)

- Z.n. Laparoskopie, Laparotomie, Adhäsiolyse, Dünndarmübernähungen, linksgestilte Netzplombe ins kleine Becken bei hohem Dünndarmileus (BHB, 03/2019)

- z-n- Anastomosenstenose nach Rektumresektion mit Z. n. Bougierungstherapie (BHB 08/2019)

- Z.n. Ileostomarückoperation (BHB, 08/2019)

Chirugie, PMU 04/20:

Bridenileus bei Z.n. roboterassistierte Rektumresektiom mit Anlage eines Schutzileostomas bei neoadjuvant vorbehandeltem tiefen Rektumkarzinom

Bridenileus

- Z.n. Roboter assistierte Rektumresektion mit Anlage eines Schutzileostomas bei neoadjuvant vorbehandeltem tiefem Rektumkarzinom bei 5 cm ab ano ypT2, pNO (0/23), L0, V0, R0, MO, UICC-Stadium: I. (BHB, 18.02.2019)

- Z.n. Laparoskopie, Laparotomie, Adhäsiolyse, Dünndarmübernähungen, linksgestilte Netzplombe ins kleine Becken bei hohem Dünndarmileus (BHB, 03/2019)

- z-n- Anastomosenstenose nach Rektumresektion mit Z. n. Bougierungstherapie (BHB 08/2019)

- Z.n. Ileostomarückoperation (BHB, 08/2019)“

Zusammengefasst wurde als Ergebnis der durchgeführten Begutachtung wie folgt festgehalten:

Lfd. Nr.

Funktionseinschränkung

Position

GdB

01

Rektumkarzinom (ED 10/2018)

eine Stufe über unterem RSW bei Z.n neoadjuvanter Chemotherapie-Z.n. Rektumresektion-Z.n. Dünndarm-Ileus, Z.n rückoperiertem Schutzileostoma, derzeit ohne Rezidivhinweis, erschwerend 4-6x Diarrhoen/Tag, mit 4-6 Einlagen pro Tag, sowie leichte Gefühllosigkeit im rechten Bein postoperativ

13.01.03

60 vH

 

Gesamtgrad der Behinderung

60 vH

 

Begründend für den Gesamtgrad der Behinderung wurde ausgeführt, der Gesamt-GdB betrage 60 v.H und ergebe sich alleine durch Positionsnummer 1.

Als Stellungnahme zu gesundheitlichen Änderungen im Vergleich zum Vorgutachten wurde wie folgt ausgeführt: „Seit dem VGA Anheben des GdB von 50 auf 60 v.H. aufgrund erhöhten Leidensdruckes bei Durchfällen und abdominellen Beschwerden bei Z.n Bridenileus.“

Im Hinblick auf die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wurde wie folgt ausgeführt: „Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ist gegeben, da keine erheblichen Einschränkungen der Funktion der unteren Extremitäten, der körperlichen Belastbarkeit, psychischer, neurologischer oder intellektueller Fähigkeiten und Funktionen vorliegen, noch eine schwere anhaltende Erkrankung des Immunsystems vorhanden ist. Eine Gehdauer von 20 Minuten ist bewältigbar, ebenso ist die Inkontinenz unter Verwendung handelsüblicher Inkontinenzprodukte (4-6 Stück pro Tag) bei 3 bis 6 Durchfällen beherrschbar. Daher das Zurücklegen kurzer Wegstrecken, das für das Ein- und Aussteigen notwendige Überwinden geringer Niveauunterschiede, sowie das Fahren in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht beeinträchtigt.“

8. Am 18.9.2020 legte das SMS den Akt dem BVwG vor und wies darauf hin, dass die Erstellung des Sachverständigengutachtens nicht innerhalb von 12 Wochen möglich gewesen sei.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der BF ist 1965 geboren, von Beruf Lkw-Fahrer und in Österreich wohnhaft.

1.2. Beim BF bestehen folgende Funktionseinschränkungen und daraus resultierend folgender Gesamtgrad der Behinderung:

Lfd. Nr.

Funktionseinschränkung

Position

GdB

01

Rektumkarzinom (ED 10/2018)

eine Stufe über unterem RSW bei Z.n neoadjuvanter Chemotherapie-Z.n. Rektumresektion-Z.n. Dünndarm-Ileus, Z.n rückoperiertem Schutzileostoma, derzeit ohne Rezidivhinweis, erschwerend 4-6x Diarrhoen/Tag, mit 4-6 Einlagen pro Tag, sowie leichte Gefühllosigkeit im rechten Bein postoperativ

13.01.03

60 vH

 

Gesamtgrad der Behinderung

60 vH

 

1.3. Der BF hat 4 bis 6 nicht beeinflussbare Diarrhoen pro Tag und muss diesbezüglich mit ebenso vielen Einlagen täglich vorsorgen.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Beweis wurde erhoben durch den Inhalt des vorliegenden Verwaltungsaktes des SMS.

2.2. Die getroffenen Feststellungen zur Person des BF ergeben sich unmittelbar aus dem Akt.

2.3. Die getroffenen Feststellungen zu den beim BF bestehenden Funktionseinschränkungen beruhen auf dem vom SMS - aufgrund der Einwände des BF gegen das Vorgutachten - eingeholten (weiteren) Sachverständigengutachten von Dr. S. B. vom 28.8.2020.

Dazu ist zunächst zu betonen, dass dieses Sachverständigengutachten, was die Funktionseinschränkungen des BF anbelangt, ausführlich begründet, schlüssig und nachvollziehbar ist. Die getroffenen Einschätzungen, basierend auf dem im Rahmen der klinischen Untersuchung am 13.7.2020 erhobenen Befund, entsprechen den festgestellten Funktionseinschränkungen.

Konkret ist zu diesem Gutachten anzumerken, dass sämtlichen Einwänden des BF gegen die Einschätzung im Vorgutachten Rechnung getragen wurde: So verwies der BF in seiner Beschwerde einerseits auf seine bis zu 6 täglichen, flüssigen und unkontrollierbaren Stühle und andererseits auf einen mittlerweile erlittenen Darmverschluss, welcher operativ habe beseitigt werden müssen und wodurch sich sein Zustand weiter verschlechtert habe. Diese – zuvor noch nicht berücksichtigten Umstände – veranlassten Dr. S. B. dazu – unter Berücksichtigung sämtlicher vom BF vorgelegter Befunde -, den Grad der Behinderung von 50% auf 60% zu erhöhen (vgl. dazu auch die expliziten Ausführungen von Dr. S. B. in ihrem Gutachten: „Seit dem VGA Anheben des GdB von 50 auf 60 v.H. aufgrund erhöhten Leidensdruckes bei Durchfällen und abdominellen Beschwerden bei Z.n Bridenileus“ [Darmverschluss, Anmerkung des BVwG]). Dr. S. B. ging zudem explizit von 4 bis 6 Diarrhoen pro Tag aus.

Somit ist, dem Gutachten vom 28.8.2020 folgend, von einem Grad der Behinderung im Ausmaß von nunmehr 60 v. H. auszugehen, zumal sich der Zustand des BF seit dem Vorgutachten tatsächlich verschlechtert hatte.

2.4. Was nun die für die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel relevanten Feststellungen anbelangt, so ist hier wiederum auf die von Dr. S. B. zugrunde gelegten 4 bis 6 Diarrhoen pro Tag zu verweisen.

Dr. S. B. gelangte in weiterer Folge zum Ergebnis, dass dem BF die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zumutbar sei, zumal seine Durchfälle (nur) mit handelsüblichen Inkontinenzprodukten (konkret: 4-6 Stück pro Tag) „beherrschbar“ seien. Insoweit die Gutachterin daraus die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ableitet, kann ihr gegenständlich nicht gefolgt werden: Als entscheidungswesentlicher Sachverhalt ist (nur) die von der Gutachterin festgestellte, entsprechende Häufigkeit der Durchfälle sowie der sich aus den Ausführungen der Gutachterin unzweifelhaft ergebende Umstand, dass diese vom BF nicht beeinflusst bzw. kontrolliert werden können, anzusehen (arg. insbesondere auch am Beginn ihres Gutachtens: „er kann den Stuhl generell nicht halten“), wobei das BVwG diesbezüglich den Ausführungen der Gutachterin gänzlich folgt; nachvollziehbar verwies die Gutachterin auch auf den Leidensdruck, den die zahlreichen Durchfälle beim BF bewirken würden und der sie auch ihren expliziten Ausführungen zufolge um die Anhebung des Gesamtgrades der Behinderung um eine Stufe veranlasste. Beim in weiterer Folge von der Gutachterin gezogenen Schluss, dass – aufgrund der Verwendbarkeit von handelsüblichen Inkontinenzprodukten – von einer Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auszugehen ist, handelt es sich hingegen mehr um eine Frage der rechtlichen Beurteilung, die vom BVwG anhand der einschlägigen Rechtsprechung vorzunehmen ist; siehe diesbezüglich weiter unten.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) Stattgabe der Beschwerde

3.1. Allgemeine rechtliche Grundlagen

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Gemäß § 45 Abs 3 BBG hat in Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen. Gemäß § 45 Abs 4 BBG hat bei Senatsentscheidungen in Verfahren gemäß Abs 3 eine Vertreterin oder ein Vertreter der Interessenvertretung der Menschen mit Behinderung als fachkundige Laienrichterin oder fachkundiger Laienrichter mitzuwirken. Die fachkundigen Laienrichterinnen oder Laienrichter (Ersatzmitglieder) haben für die jeweiligen Agenden die erforderliche Qualifikation (insbesondere Fachkunde im Bereich des Sozialrechts) aufzuweisen.

Gegenständlich liegt somit die Zuständigkeit eines Senats vor.

Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache gem. § 28 Abs 1 VwGVG durch Erkenntnis zu erledigen.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I 2013/33 i.d.F. BGBl. I 2013/122, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

3.2. Die hier einschlägigen Bestimmungen des BBG lauten:

§ 40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpass auszustellen, […]

§ 42. (1) […] Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig. Die Eintragung ist vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen vorzunehmen.

[…]

§ 45. (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluss der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.

(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht stattgegeben, das Verfahren eingestellt (§ 41 Abs. 3) oder der Pass eingezogen wird. […]

§ 47. Der Bundesminister für Arbeit und Soziales ist ermächtigt, mit Verordnung die näheren Bestimmungen über den nach § 40 auszustellenden Behindertenpass und damit verbundene Berechtigungen festzusetzen.

3.3. § 1 Abs 4 Z 3 der Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen, BGBl. II Nr. 495/2013 idF BGBl. II Nr. 263/2016, lautet:

[…] (4) Auf Antrag des Menschen mit Behinderung ist jedenfalls einzutragen: […]

3. die Feststellung, dass dem Inhaber/der Inhaberin des Passes die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung nicht zumutbar ist; die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist insbesondere dann nicht zumutbar, wenn das 36. Lebensmonat vollendet ist und

- erhebliche Einschränkungen der Funktionen der unteren Extremitäten oder

- erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit oder

- erhebliche Einschränkungen psychischer, neurologischer oder intellektueller Fähigkeiten, Funktionen oder

- eine schwere anhaltende Erkrankung des Immunsystems oder

- eine hochgradige Sehbehinderung, Blindheit oder Taubblindheit nach Abs. 4 Z 1 lit. b oder d

vorliegen.

[…]

3.4. Im konkreten Fall bedeutet dies:

3.4.1. Wie bereits dargelegt, ist Dr. S. B. in ihrem Gutachten vom 28.8.2020 nachvollziehbar zum Ergebnis gelangt, dass sich der Gesundheitszustand des BF verschlechtert hat und beim BF (nunmehr) ein Grad der Behinderung in Höhe von 60 v. H. besteht. Somit hat das SMS den Antrag des BF auf Neufestsetzung des Grades der Behinderung zu Unrecht abgewiesen und ist der Beschwerde spruchgemäß stattzugeben und auszusprechen, dass der Grad der Behinderung 60 v. H. beträgt.

3.4.2. Was die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel anbelangt, so ist zunächst auf die obigen Feststellungen zu verweisen, wonach der BF vier bis sechs nicht beeinflussbare Diarrhoen pro Tag hat und diese mit ebenso vielen Einlagen täglich vorsorgen muss.

Zu derartigen Leiden und der damit in Zusammenhang stehenden Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel besteht eine umfangreiche höchstgerichtliche Rechtsprechung: Eine offenkundige Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel erblickte der VwGH etwa in einem Fall, in dem die Revisionswerberin an einer Durchfallerkrankung „mit häufigem und imperativem Stuhlgang“ (nach ihren unwidersprochenen Angaben mindestens 20mal pro Tag und mit Flatulenzen verbunden) litt, wobei die Zeitpunkte des Stuhlganges für sie in der Regel weder vorhersehbar noch beeinflussbar waren (VwGH 21.4.2016, Zl. Ra 2016/11/0018), und wies der VwGH explizit darauf hin, dass die im Handel erhältlichen, vom BVwG angesprochenen Inkontinenzprodukte (saugfähige Einmalhosen) daran nichts zu ändern vermögen. Eine offenkundige Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel erblickte der VfGH etwa auch in einem Fall, in dem der Beschwerdeführer infolge einer Morbus Crohn Erkrankung an chologener Diarrhö mit 5-10 täglichen, auch nächtlichen Stühlen bei Dranginkontinenz, litt (VfGH vom 23.9.2016, Zl. E 439/2016). In diesem Sinne bemängelte etwa auch der VwGH in seinem Erkenntnis vom 9.11.2016, Zl. Ra 2016/11/0137, die Abweisung des Antrags auf Vornahme der Zusatzeintragung bei 5 bis 8 täglichen, nicht kontrollierbaren Stuhlgängen.

Legt man diese Rechtsprechung auf den vorliegenden Fall um, so ist gegenständlich von der Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auszugehen: Der BF leidet an bis zu 6 – unkontrollierbaren (arg. „er kann den Stuhl generell nicht halten“) – (flüssigen) Stühlen pro Tag und kann diese nur mit zahlreichen Einlagen versorgen. Dr. S. B. verwies in ihrem Gutachten vom 28.8.2020 nachvollziehbar auf den dermaßen „erhöhten Leidensdruck“, der sich durch die Durchfälle ergebe, sodass aus diesem Grunde sogar eine Stufenerhöhung um 10% bewirkt werde. Die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel kann hierbei – wie sich aus der eben dargestellten Rechtsprechung ergibt – nicht mit dem Hinweis auf die Verwendbarkeit von Inkontinenzprodukten argumentiert werden.

Folglich ist der Beschwerde auch in diesem Punkt stattzugeben und auszusprechen, dass die Voraussetzungen für die Eintragung des Zusatzes „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass vorliegen.

3.4.3. Was den weiteren Ausspruch anbelangt, dass die Voraussetzungen für die Eintragung des Zusatzes „Gesundheitsschädigung gemäß § 2 Abs. 1 dritter Teilstrich der Verordnung des Bundesministers für Finanzen über außergewöhnliche Belastungen, BGBl. Nr. 303/1996“ in den Behindertenpass ebenso vorliegen, so wurde dieser nur der Vollständigkeit halber getätigt: Der BF verfügt bereits über eine derartige Zusatzeintragung und war niemals strittig, dass der BF - bei einem Malignom des Verdauungstraktes im Sinne des Abschnittes 13 der Anlage zur Einschätzungsverordnung und einem festgestellten Grad der Behinderung von mindestens 20% (vgl. § 1 Abs 4 Z 1 lit g der Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen, BGBl. II Nr. 495/2013 idF BGBl. II Nr. 263/2016) – einen Anspruch auf diese Zusatzeintragung hat.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Gemäß Art 133 Abs 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem BVwG hervorgekommen. Das BVwG konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des VwGH bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage betreffend Verfahren und Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses bzw. betreffend Feststellung des Grades der Behinderung und betreffend Vornahme der Zusatzeintragung „Dem Inhaber des Passes ist die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung nicht zumutbar“ stützen.

Absehen von einer Beschwerdeverhandlung:

Gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG kann eine Verhandlung entfallen, wenn der das vorangegangene Verwaltungsverfahren einleitende Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist, oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt oder die angefochtene Weisung für rechtswidrig zu erklären ist.

Gemäß § 24 Abs 4 VwGVG kann das Verwaltungsgericht, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt und einem Entfall der Verhandlung weder Art 6 Abs 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, [EMRK] noch Art 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010 S. 389 [GRC] entgegenstehen.

Die Zulässigkeit des Unterbleibens einer mündlichen Verhandlung ist am Maßstab des Art 6 EMRK zu beurteilen. Dessen Garantien werden zum Teil absolut gewährleistet, zum Teil stehen sie unter einem ausdrücklichen (so etwa zur Öffentlichkeit einer Verhandlung) oder einem ungeschriebenen Vorbehalt verhältnismäßiger Beschränkungen (wie etwa das Recht auf Zugang zu Gericht). Dem entspricht es, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung für gerechtfertigt ansieht, etwa wenn der Fall auf der Grundlage der Akten und der schriftlichen Stellungnahmen der Parteien angemessen entschieden werden kann (vgl. EGMR 12.11.2002, Döry / S, RN 37). Der Verfassungsgerichtshof hat im Hinblick auf Art 6 EMRK für Art 47 GRC festgestellt, dass eine mündliche Verhandlung vor dem Asylgerichtshof im Hinblick auf die Mitwirkungsmöglichkeiten der Parteien im vorangegangenen Verwaltungsverfahren regelmäßig dann unterbleiben könne, wenn durch das Vorbringen vor der Gerichtsinstanz erkennbar werde, dass die Durchführung einer Verhandlung eine weitere Klärung der Entscheidungsgrundlagen nicht erwarten lasse (vgl. VfGH 21.02.2014, B1446/2012; 27.06.2013, B823/2012; 14.03.2012, U466/11; VwGH 24.01.2013, 2012/21/0224; 23.01.2013, 2010/15/0196).

Im gegenständlichen Fall ergab sich aus der Aktenlage, dass von einer mündlichen Erörterung keine weitere Klärung des Sachverhalts zu erwarten war. Der entscheidungswesentliche Sachverhalt erweist sich aufgrund der Aktenlage als geklärt.

Schlagworte

Behindertenpass Grad der Behinderung Neufestsetzung Sachverständigengutachten Unzumutbarkeit Zusatzeintragung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:L503.2235187.1.00

Im RIS seit

16.12.2020

Zuletzt aktualisiert am

16.12.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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