TE Bvwg Beschluss 2020/9/30 L503 2233594-1

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Veröffentlicht am 30.09.2020
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Entscheidungsdatum

30.09.2020

Norm

BBG §42
BBG §45
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch

L503 2233594-1/4E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. DIEHSBACHER als Vorsitzenden und die Richterin Mag.a JICHA sowie den fachkundigen Laienrichter RgR PHILIPP über die Beschwerde von XXXX , vertreten durch Wagner Rechtsanwälte GmbH, gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Oberösterreich, vom 18.11.2019, XXXX , beschlossen:

A.) In Erledigung der Beschwerde wird der bekämpfte Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs 3 VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Sozialministeriumservice, Landesstelle Oberösterreich, zurückverwiesen.

B.) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Begründung:

I. Verfahrensgang

1. Der nunmehrige Beschwerdeführer (im Folgenden kurz: „BF“) verfügt seit 29.11.2010 über einen Behindertenpass mit einem Grad der Behinderung im Ausmaß von 50 v. H. Ausschlaggebend dafür war laut Gutachten von Dr. U. H. vom 11.11.2010 ein Zustand nach Implantation einer Schultergelenks-Prothese rechts (40 v H.), Psychogene Krampfanfälle (30 v. H.) sowie Migräne (10 v. H.), wobei insgesamt eine Erhöhung um eine Stufe, somit auf 50 v. H., stattfand.

2. Am 27.6.2019 beantragte der BF beim Sozialministeriumservice (im Folgenden kurz: „SMS“) die Ausstellung eines Ausweises gemäß § 29b Straßenverkehrsordnung 1960 (Parkausweis) und damit gleichzeitig die Ausstellung eines Behindertenpasses mit der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel“.

3. Am 12.9.2019 wurde der BF im Auftrag des SMS von Dr. D. M., Arzt für Allgemeinmedizin, untersucht und führte der Gutachter in seinem Gutachten vom 15.10.2019 auszugsweise wie folgt aus:

„Anamnese:

Vorgutachten von 2010: GdB 50%

es geht darum: hat am rechten Arm eine Prothese, Epilepsie, hatte zuletzt Herzinfakrt, Anfälle wurden häufiger, am linken Bein hat er ein Kitzeln sodass er das Bein nicht recht spürt, macht Probleme beim Gehen und Stiegensteigen, Gehen auf Ebene ca 250 m möglich

Derzeitige Beschwerden:

mit Arm eingeschränkt, fühlt sich als gesamter schwach, Schlafstörungen,

[…]

Klinischer Status – Fachstatus:

Caput: Sicht und Gehör ausreichend, SD palp ob,

cor, pulmo:

HT rein rhythmisch, Card. comp., VA,

Abdomen: Abdomen frei, kein DS;

Wirbelsäule:

HWS frei beweglich, Ws im Lot, keine sicheren Paresen, FBA 15 cm

Extremitäten:

freie Abduktion-Kreuz-Nackengriff links über vollen Radius, rechts: rechte Schulter - Deltoidatrophie, freie Abduktion-ca 30 Grad, Faustschluss vollständig, Kreuz-Nackengriff nicht möglich, Faustschluss vollständig, beide Hüft-und Kniegelenke im Liegen frei beweglich, Fersen-Spitzen-Einbeinstand beiderseits möglich

Gesamtmobilität – Gangbild:

langsam sicher aufrecht raumgreifend ohne Hilfsmittel

Zusammengefasst wurde als Ergebnis der durchgeführten Begutachtung sodann im Gutachten wie folgt festgehalten:

Lfd. Nr.

Funktionseinschränkung

01

Bewegungseinschränkungen der rechten Schulter

02

Psychogene Anfälle

03

Migräne

04

Zustand nach Herzinfarkt

05

chronifizierte Depression

06

Magengeschwür

07

Bluthochdruck

Im Hinblick auf die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wurde lediglich ausschließlich wörtlich wie folgt ausgeführt: „Kurze Wegstrecken können überwunden werden, das Ein- und Aussteigen ist möglich, öffentliche Verkehrsmittel können benutzt werden.“

4. Mit Schreiben zur Wahrung des Parteiengehörs vom 16.10.2019 teilte das SMS dem BF mit, dass die Voraussetzungen für die beantragte Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel“ nicht vorliegen würden. Dem BF werde die Gelegenheit eingeräumt, dazu binnen zwei Wochen Stellung zu nehmen. Beigelegt wurde dem Schreiben das Gutachten von Dr. D. M. vom 15.10.2019.

5. Mit Schreiben seines nunmehrigen rechtsfreundlichen Vertreters vom 30.10.2019 gab der BF eine Stellungnahme ab. Darin wurde betont, es sei dem BF nicht zumutbar, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Der BF habe eine Prothese am rechten Schultergelenk. Die Beweglichkeit im Halsbereich sei zufolge dessen stark eingeschränkt. Der BF sei auch „massiv gehbehindert“, weil er starke Abnützungen im Kniebereich, aber auch im Bereich der gesamten beiden Beine habe. Am problematischsten seien die regelmäßig, jedoch unangekündigt auftretenden Anfälle. Ob diese epileptischer oder psychischer Natur sind, sei nicht von Relevanz. Faktum sei, dass der BF in regelmäßigen Abständen zusammenfällt und mit Krampfattacken am Boden liegt. Diese unerwartet auftretenden Anfälle würden es nicht zulassen, dass der BF ein öffentliches Verkehrsmittel nutzt. Beim Auftreten eines Anfalles in einem öffentlichen Verkehrsmittel bestehe die evidente Befürchtung, dass nicht rechtzeitig ärztliche Hilfe vor Ort sein kann, sodass in diesem Fall für den BF sogar Lebensgefahr bestehe. Zudem leide der BF auch an schwersten Magenbeschwerden; der Herzinfarkt im Jahr 2018 sei dem SMS bereits bekannt. Das Zurücklegen einer Wegstrecke von nur wenigen Metern bereite dem BF bereits massive Beschwerden. Darauf hinzuweisen sei zudem, dass die nächste Bahnstrecke vom Wohnort des BF mehrere Kilometer entfernt sei.

Beigelegt wurden der Stellungnahme zahlreiche medizinische Unterlagen den BF betreffend.

6. Wie aus einem im Akt befindlichen Aktenvermerk des SMS hervorgeht, wurde seitens des SMS am 5.11.2019 mit dem rechtsfreundlichen Vertreter des BF telefonisch vereinbart, dass dieser weitere Befunde betreffend Knie- und Wirbelsäule sowie über die vorgebrachten Anfälle des BF sowie eine Medikamentenliste vorlegt.

7. Mit dem nunmehr bekämpften Bescheid vom 18.11.2019 wies das SMS den Antrag des BF auf Vornahme der Zusatzeintragung in den Behindertenpass „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel“ gemäß §§ 42 und 45 BBG ab.

Begründend wurde – neben Darstellung der rechtlichen Grundlagen - ausgeführt, im Ermittlungsverfahren sei ein Gutachten eingeholt worden; nach diesem Gutachten würden die Voraussetzungen für die begehrte Zusatzeintragung nicht vorliegen. Die wesentlichen Ergebnisse der ärztlichen Begutachtung seien der Beilage, die einen Bestandteil der Begründung bilde, zu entnehmen. Das Sachverständigengutachten sei als schlüssig erkannt und der Entscheidung im Rahmen der freien Beweiswürdigung zugrunde gelegt worden. Dem BF sei mit Schreiben vom 16.10.2019 Gelegenheit gegeben worden, zum Ergebnis des Ermittlungsverfahrens Stellung zu nehmen; da innerhalb der gesetzten Frist keine Stellungnahme eingelangt sei, habe vom Ergebnis des Ermittlungsverfahrens nicht abgegangen werden können. Beigelegt wurde dem Bescheid das Sachverständigengutachten von Dr. D. M. vom 15.10.2019.

8. Wie aus einem Aktenvermerk des SMS ebenso vom 18.11.2019 hervorgeht, wurde dem rechtsfreundlichen Vertreter des BF mitgeteilt, dass der eben abgefertigte Bescheid versehentlich (gemeint: ohne die vereinbarte Vorlage weiterer Unterlagen abzuwarten) erlassen wurde.

9. Mit Schriftsatz seines rechtsfreundlichen Vertreters vom 17.12.2019 erhob der BF fristgerecht Beschwerde gegen den Bescheid vom 18.11.2019. Darin wurde zunächst das bereits im Rahmen der Stellungnahme vom 30.10.2019 erstattete Vorbringen wiederholt. Ergänzend wurde ausgeführt, dass der BF bei den Fachärzten für innere Medizin, Orthopädie und dem Hausarzt vorstellig werden wird. Eine aktuelle Krankengeschichte dieser Fachärzte werde, wie mit der Sachbearbeiterin des SMS telefonisch besprochen, nachgereicht. Ebenso werde eine Medikamentenliste, erstellt vom Hausarzt, nachgereicht.

Aus diesen, insbesondere noch nachzureichenden Unterlagen werde sich ergeben, dass dem BF die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung sehr wohl unzumutbar sei.

10. Mit Urkundenvorlage vom 29.1.2020 legte der rechtsfreundliche Vertreter des BF einen Arztbrief vom 8.5.2019 (Obere Gastrointestinaltraktblutung bei Ulcera ventriculi am Pyloris), einen Auszug aus der Patientenkartei vom 10.10.2019 sowie eine Medikamentenliste (Verordnung vom 23.12.2019) vor.

11. Mit weiterer Urkundenvorlage vom 28.2.2020 legte der rechtsfreundliche Vertreter des BF einen Audiometriebefund vom 24.2.2020 (Schallempfindungsschwerhörigkeit bilat) vor.

12. Am 13.7.2020 wurde der BF im Auftrag des SMS von Dr. A. K., Arzt für Allgemeinmedizin und Facharzt für Neurologie, untersucht und führte der Gutachter in seinem Gutachten vom 31.7.2020 auszugsweise wie folgt aus:

„Anamnese:

Vorgutachten Dr. D. M. 12.09.2019 (Antrag auf Unzumutbarkeit nicht vorliegend)

Einspruch gegen Vorgutachten.

Derzeitige Beschwerden:

Der Antragsteller kommt in Begleitung seines Neffen, der als Dolmetscher fungiert, da der Antragsteller nur über unzureichende Deutschkenntnisse verfügt.

Bereits seit den 90er Jahren kommt es beim Antragsteller zu Bewusstseinsverlusten im Rahmen von sogenannten psychogenen Anfällen. Zuletzt wurde er 2017 im Neuromed Campus abgeklärt. Dort wurde ihm dann eine weiterführende psychosomatische Betreuung nahe gelegt, die bis dato nicht wahrgenommen wurde. Er ist in regelmäßiger psychiatrischer Betreuung und erhält Medikamente, allerdings keine spezifische Therapie für diese sogenannten psychogenen Anfälle.

Die Anfälle treten derzeit etwa 3x pro Monat auf. Aus Angst vor diesen Bewusstseinsverlusten verlässt er alleine nicht die Wohnung, er kommt auch in Begleitung des Neffen zur Begutachtung. Bei Z.n. Schulterprothese rechts bestehen anhaltend starke Schmerzen im Bereich der rechten Schulter sowie im Bereich des Nackens. Eine Kopf-Dreh-Wendung nach rechts sei bei ihm nur eingeschränkt möglich. Darüber hinaus berichtet er über Knieschmerzen beim Gehen, welche ihm nur eine verkürzte Wegstrecke möglich machen. Hilfsmittel werden nicht verwendet.

[…]

Gesamtmobilität – Gangbild:

Gangbild rechtsseitig diskret hinkend.

Zehen- und Fersenstand bds. sowie Einbeinstand bds. mit Anhalten möglich. Erhaltene posturale Stabilität im Push and Pull Test.

Status Psychicus:

Stimmungslage soweit beurteilbar gedrückt, lebt zurückgezogen, aktuell soweit beurteilbar keine suizidalen Gedanken.“

Zusammengefasst wurde als Ergebnis der durchgeführten Begutachtung sodann im Gutachten wie folgt festgehalten:

Lfd. Nr.

Funktionseinschränkung

01

Schwergradige Funktionseinschränkung der rechten Schulter

02

Psychogene Anfälle

03

Chronische Depression

04

Zustand nach Herzinfarkt

05

Bluthochdruck

06

Schwerhörigkeit bds.

07

Migräne

08

Magengeschwür

Im Hinblick auf die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wurde wörtlich wie folgt ausgeführt: „Trotz der angegebenen Kniebeschwerden, wo keine Befunde vorgelegt werden können, ist eine Wegstrecke von 400m möglich. Diese kann er ohne zur Zuhilfenahme von Hilfsmittel zurücklegen. Es besteht darüber hinaus auch die Möglichkeit zum sicheren Ein- und Aussteigen in öffentliche Verkehrsmittel unter Verwendung der üblichen Einstiegshilfen. Er kann sich mit dem linken Arm ausreichend absichern während des Transports. Bez. der angegebenen psychogenen Anfälle liegt keine ausreichende Therapie vor, insbesondere keine Psychotherapie in Muttersprache. Darüber hinaus besteht auch nur eine geringfügige psychopharmakologische Therapie mit Venlafaxin. Die bereits aus einem Arztbrief des Neuromed Campus aus dem Jahr 2017 empfohlene Psychotherapie in Muttersprache bzw. die Behandlung an einer Psychosomatik wurde bis dato nicht wahrgenommen.“

13. Am 31.7.2020 legte das SMS den Akt dem BVwG vor und wies darauf hin, dass das aktuelle Sachverständigengutachten von Dr. A. K. vom 31.7.2020 bereits vorliege und dass die Frist für die Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung bereits abgelaufen sei.

14. Mit Schreiben vom 24.8.2020 übermittelte das BVwG dem rechtsfreundlichen Vertreter des BF das Gutachten von Dr. A. K. vom 31.7.2020 und räumte ihm die Möglichkeit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen ein. Eine Stellungnahme wurde nicht abgegeben.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Am 27.6.2019 beantragte der BF die Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel“ in den Behindertenpass.

Dieser Antrag wurde insbesondere damit begründet, dass der BF an psychogenen Anfällen nicht-epileptischer Genese leide, bei deren Auftreten er unter Krampfattacken bzw. Bewusstlosigkeit am Boden liege.

1.2. Das vom SMS eingeholte Gutachten von Dr. D. M. vom 15.10.2019 führt diesbezüglich unter Lfd. Nr. 2 – ohne weitere Ausführungen des Gutachters dazu – „Psychogene Anfälle“ aus. Die Ausführungen des Gutachters im Hinblick auf die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel lauten lediglich ausschließlich wörtlich wie folgt: „Kurze Wegstrecken können überwunden werden, das Ein- und Aussteigen ist möglich, öffentliche Verkehrsmittel können benutzt werden.“

1.3. In dem vom SMS weiters eingeholten Gutachten von Dr. A. K. vom 31.7.2020 wird unter „Derzeitige Beschwerden“ wie folgt ausgeführt: „Bereits seit den 90er Jahren kommt es beim Antragsteller zu Bewusstseinsverlusten im Rahmen von sogenannten psychogenen Anfällen. Zuletzt wurde er 2017 im Neuromed Campus abgeklärt. Dort wurde ihm dann eine weiterführende psychosomatische Betreuung nahe gelegt, die bis dato nicht wahrgenommen wurde. Er ist in regelmäßiger psychiatrischer Betreuung und erhält Medikamente, allerdings keine spezifische Therapie für diese sogenannten psychogenen Anfälle. Die Anfälle treten derzeit etwa 3x pro Monat auf. Aus Angst vor diesen Bewusstseinsverlusten verlässt er alleine nicht die Wohnung, er kommt auch in Begleitung des Neffen zur Begutachtung.“

Unter Lfd. Nr. 2 dieses Gutachtens werden wiederum „Psychogene Anfälle“ angeführt.

Im Hinblick auf die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wurde - betreffend die psychogenen Anfälle - wörtlich wie folgt ausgeführt: „Bez. der angegebenen psychogenen Anfälle liegt keine ausreichende Therapie vor, insbesondere keine Psychotherapie in Muttersprache. Darüber hinaus besteht auch nur eine geringfügige psychopharmakologische Therapie mit Venlafaxin. Die bereits aus einem Arztbrief des Neuromed Campus aus dem Jahr 2017 empfohlene Psychotherapie in Muttersprache bzw. die Behandlung an einer Psychosomatik wurde bis dato nicht wahrgenommen.“

Weitere Ausführungen zur Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wurden diesbezüglich nicht getätigt.

1.4. Weder wurde in den vorliegenden Gutachten die hier relevante dauernde Gesundheitsschädigung des BF (psychogene Anfälle) konkret dargestellt (nur im Gutachten vom 31.7.2020 werden lediglich die diesbezüglichen Schilderungen des BF wiedergegeben), noch wurden die Auswirkungen dieser Gesundheitsschädigung auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel dargestellt. Ein brauchbarer Sachverhalt im Hinblick auf die Beurteilung der Frage, ob dem BF die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel unter dem Gesichtspunkt seiner psychogenen Anfälle zumutbar ist, liegt somit nicht vor.

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde erhoben durch den Inhalt des vorliegenden Verwaltungsaktes des SMS.

Die getroffenen Feststellungen ergeben sich unmittelbar aus dem Akteninhalt.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) Zurückverweisung

3.1. Allgemeine rechtliche Grundlagen

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Gemäß § 45 Abs 3 BBG hat in Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen. Gemäß § 45 Abs 4 BBG hat bei Senatsentscheidungen in Verfahren gemäß Abs 3 eine Vertreterin oder ein Vertreter der Interessenvertretung der Menschen mit Behinderung als fachkundige Laienrichterin oder fachkundiger Laienrichter mitzuwirken. Die fachkundigen Laienrichterinnen oder Laienrichter (Ersatzmitglieder) haben für die jeweiligen Agenden die erforderliche Qualifikation (insbesondere Fachkunde im Bereich des Sozialrechts) aufzuweisen.

Gegenständlich liegt somit die Zuständigkeit eines Senats vor.

Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache gem. § 28 Abs 1 VwGVG durch Erkenntnis zu erledigen.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I 2013/33 i.d.F. BGBl. I 2013/122, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

§ 28 VwGVG lautet auszugsweise:

(2) Über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn

1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

(3) Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

[...]

3.2. Im konkreten Fall bedeutet dies:

Wie aus dem Akteninhalt, insbesondere auch den Eingaben des rechtsfreundlichen Vertreters des BF, hervorgeht, wird der Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel“ vor allem darauf gestützt, dass der BF an psychogenen Anfällen nichtepileptischer Genese leide, bei deren Auftreten er unter Krampfattacken bzw. Bewusstlosigkeit am Boden liege. Dass der BF dem Grunde nach ein derartiges Leiden hat, geht auch aus zahlreichen, aktenkundigen medizinischen Unterlagen hervor (z. B. Befund von Dr. B.-L. vom 22.11.2016: „dissoziative Anfälle … Da der letzte Anfall sehr schwerwiegend war, er aus dem Bett fiel und sich die Schulter verletzte, wurde vom Neurologen nochmals eine Abklärung mittels Video-EEG empfohlen“, Arztbrief vom 5.3.2017: „Psychogene nicht-epileptische Anfälle“, Befund von Dr. B.- L. vom 14.6.2018: „nicht-epileptische Anfälle“, ärztlicher Entlassungsbericht SKA-RZ S. vom 11.12.2018: „Psychogene, nicht epileptische Anfälle, keine antikonvulsive Therapie indiziert, … letzter dokumentierter Anfall am 21.11.2018“, Arztbrief vom 8.5.2019: „Der Patient kommt mit dem Notarzt in die Ambulanz. Bei ihm war zu Hause ein Schwächeanfall aufgetreten. Psychogene Anfälle nicht-epileptischer Genese sind beim Patienten vorbekannt“).

Um die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel beurteilen zu können, hat die Behörde zu ermitteln, ob der Antragsteller dauernd an seiner Gesundheit geschädigt ist und wie sich diese Gesundheitsschädigung nach ihrer Art und ihrer Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt. Sofern nicht die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auf Grund der Art und der Schwere der Gesundheitsschädigung auf der Hand liegt, bedarf es in einem Verfahren über einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung“ regelmäßig eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, in dem die dauernde Gesundheitsschädigung und ihre Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in nachvollziehbarer Weise dargestellt werden (vgl. z. B. VwGH vom 18.12.2006, Zl. 2006/11/0211).

Im vorliegenden Fall führt einerseits das vom SMS eingeholte Gutachten von Dr. D. M. vom 15.10.2019 unter Lfd. Nr. 2 – ohne weitere Ausführungen des Gutachters dazu – „Psychogene Anfälle“ an. Die Ausführungen des Gutachters im Hinblick auf die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel lauten lediglich ausschließlich wörtlich wie folgt: „Kurze Wegstrecken können überwunden werden, das Ein- und Aussteigen ist möglich, öffentliche Verkehrsmittel können benutzt werden.“ Dass daraus weder die hier relevante Gesundheitsschädigung konkret dargestellt, noch ihre Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel dargelegt werden, liegt auf der Hand.

Aber auch dem weiteren Gutachten von Dr. A. K. vom 31.7.2020 ist Derartiges nicht zu entnehmen: So gibt dieser Gutachter zwar die diesbezüglich vom BF selbst geschilderten Beschwerden wieder (Seit den 90er Jahren Bewusstseinsverluste im Rahmen von sogenannten psychogenen Anfällen, eine dem BF nahe gelegte psychosomatische Betreuung sie bis dato nicht wahrgenommen worden, er sei in regelmäßiger psychiatrischer Betreuung und erhalte Medikamente, die Anfälle würden derzeit etwa 3x pro Monat auftreten), stellt und Lfd. Nr. 2 dieses Gutachtens wiederum (bloß) „Psychogene Anfälle“ fest und führt im Hinblick auf die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel - betreffend die psychogenen Anfälle - wörtlich wie folgt aus: „Bez. der angegebenen psychogenen Anfälle liegt keine ausreichende Therapie vor, insbesondere keine Psychotherapie in Muttersprache. Darüber hinaus besteht auch nur eine geringfügige psychopharmakologische Therapie mit Venlafaxin. Die bereits aus einem Arztbrief des Neuromed Campus aus dem Jahr 2017 empfohlene Psychotherapie in Muttersprache bzw. die Behandlung an einer Psychosomatik wurde bis dato nicht wahrgenommen.“

Damit legt auch dieser Gutachter aber einerseits nicht entsprechend dar, von welchem konkreten Leidensumfang des BF nun auszugehen sei und er beantwortet andererseits vor allem aber wiederum in keiner Weise, welche Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel bestehen. Den diesbezüglichen Ausführungen des Gutachters – nämlich, dass die psychogenen Anfälle des BF, insbesondere auch aufgrund von Sprachproblemen, nicht ausreichend therapiert würden – ist tatsächlich keinerlei Informationsgehalt für die Beantwortung der hier relevanten Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zu entnehmen.

Dem BVwG liegt somit kein brauchbarer Sachverhalt im Sinne der Erkenntnisse des VwGH vom 10.09.2014, Zl. Ra 2014/08/0005 und vom 26.06.2014, Zl. Ro 2014/03/0063, vor. Im Übrigen steht der gegenständlichen Entscheidung auch § 28 Abs 2 Z 2 VwGVG nicht entgegen, zumal das SMS die erforderlichen Ermittlungsschritte und damit die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes rascher und nicht mit höheren Kosten als das BVwG bewerkstelligen wird können. Das SMS wird im Folgeverfahren somit ein Gutachten einzuholen haben, das sich schlüssig und nachvollziehbar – insbesondere auch unter Berücksichtigung der psychogenen Anfälle des BF – mit der Frage auseinandersetzt, ob dem BF die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zumutbar ist oder nicht.

Aus den dargestellten Gründen war spruchgemäß mit einer Behebung und Zurückverweisung vorzugehen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Gemäß Art 133 Abs 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig, da es zur Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Verwaltungsgericht kassatorisch entscheiden darf, eine klare und aktuelle (siehe insbesondere die Erkenntnisse des VwGH vom 10.09.2014, Zl. Ra 2014/08/0005 und vom 26.06.2014, Zl. Ro 2014/03/0063) höchstgerichtliche Rechtsprechung gibt.

Absehen von einer Beschwerdeverhandlung:

Gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG kann eine Verhandlung entfallen, wenn der das vorangegangene Verwaltungsverfahren einleitende Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist, oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt oder die angefochtene Weisung für rechtswidrig zu erklären ist. Aufgrund der Aufhebung des angefochtenen Bescheides konnte eine Verhandlung gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG entfallen.

Schlagworte

Behindertenpass Ermittlungspflicht Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Sachverständigengutachten Zusatzeintragung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:L503.2233594.1.00

Im RIS seit

16.12.2020

Zuletzt aktualisiert am

16.12.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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