TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/5 W119 2224206-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 05.10.2020
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Entscheidungsdatum

05.10.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §8 Abs1
AVG §68 Abs1
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
IntG §10
IntG §9
VwGVG §28 Abs2 Z1

Spruch

W119 2224206-2/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Eigelsberger als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Robert BITSCHE, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 2.4.2020, Zl. 1080328805/200159380, zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. des bekämpften Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG iVm § 68 Abs. 1 AVG als unbegründet abgewiesen.

II. In Erledigung der Beschwerde gegen die Spruchpunkte III. bis VII. des bekämpften Bescheides wird ausgesprochen, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Fremdenpolizeigesetz 2005 iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig ist.

III. Gemäß § 55 AsylG 2005 iVm § 9 und § 10 Integrationsgesetz wird XXXX der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.




Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 29.7.2015 seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz.

Am 4.1.2017 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden als Bundesamt oder belangte Behörde) niederschriftlich einvernommen und eingehend zu seinen persönlichen Verhältnissen und Fluchtgründen befragt. Diesbezüglich gab er in diesem Verfahren zusammengefasst an, er sei religiöser Sänger bei der afghanischen Nationalarmee gewesen, wo er jedes Jahr bei Muharrem gesungen habe. Im vergangen Jahr sei ein Auto von bewaffneten und maskierten Personen aufgehalten worden und die Passagiere hätten aussteigen und sich hinlegen müssen. Es sei gefragt worden, wer der Lobredner sei. In diesem Moment seien Regierungssoldaten gekommen und die Maskierten geflüchtet. Nach der Befreiung durch die Armee habe ein General erklärt, dass diese Personen den Beschwerdeführer hätten töten wollen. Er sei dann von der Armee nach Hause, nach Kabul, gebracht worden. Dort habe er von seinem Cousin erfahren, dass zwei Männer nach ihm gefragt hätten. Diese Männer seien seinem Cousin verdächtig vorgekommen. Am nächsten Tag habe der Beschwerdeführer Kabul verlassen und sei geflüchtet.

Mit Bescheid des Bundesamtes vom 7.4.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gegen den Beschwerdeführer wurde gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

Die belangte Behörde begründete ihren Bescheid im Wesentlichen damit, dass das Vorbringen zum fluchtauslösenden Ereignis unglaubwürdig sei. So hätte es gravierende Widersprüche zwischen den Angaben bei der Erstbefragung und der Einvernahme vor der belangten Behörde gegeben. Auch bestünden Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit dem angegebenen Zeitpunkt der Ausreise aus Afghanistan. Eine begründete Furcht vor Verfolgung sei nicht gegeben. Es mangle außerdem an Fluchtgründen nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Darüber hinaus mangle es an einer realen Gefahr im Fall der Rückkehr und es würden auch sonst keine Gründe zur Gewährung von subsidiärem Schutz vorliegen. Ein Aufenthaltstitel gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK sei nicht geboten.

Die gegen diesen Bescheid fristgerecht erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 6.6.2018 zu GZ W270 2155119-1/10E abgewiesen.

Am 26.6.2019 stellte der Beschwerdeführer erneut einen Antrag auf internationalen Schutz. Im Rahmen der Erstbefragung am 27.6.2019 gab er an, seine alten Fluchtgründe aufrecht zu erhalten. Hinzu komme, dass er seit seinem zwölften Lebensjahr keine Eltern mehr und in Österreich „Wahleltern" gefunden habe, dazu legte er ein Empfehlungsschreiben vor. Außerdem sei er seit ca. zweieinhalb Jahren mit einer afghanischen Asylberechtigten verlobt. Er habe Angst, nach Afghanistan zurückzukehren, da er dort keine Familienangehörigen hätte.

Am 25.7.2019 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt einvernommen. Er gab an, vor ca. eineinhalb Monaten seine Verlobte zu Hause traditionell geheiratet zu haben. Darüber hinaus brachte er vor, von seinen „Wahleltern", die er seit etwa vier Jahren kenne, unterstützt zu werden. Zu seiner Familie erklärte er, dass sein Onkel und sein Cousin bedroht worden und etwa zwei Monate nach seiner Flucht in den Iran geflüchtet seien. Den neuerlichen Asylantrag begründete er wie folgt: „Seitdem ich nach Österreich gekommen bin, hat sich die Lage in Afghanistan verschlimmert, ich hatte Angst, abgeschoben zu werden. Jetzt habe ich geheiratet, meine Ehefrau lebt hier und meine Eltern leben auch hier, die mich unterstützen. Meine Zukunft ist hier." Zur Lage in Afghanistan führte er an, dass eine Rückkehr unmöglich sei und er in keiner Provinz sicher leben könne. Der Beschwerdeführer gab weiter an, gelegentlich zur Freikirche zu gehen, jedoch Moslem zu sein. Zu seinen Deutschkenntnissen erklärte er, seit dem abweisenden Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes keinen weiteren Deutschkurs absolviert zu haben.

Mit Bescheid des Bundesamtes vom 20.9.2019, Zl 15-1080328805-190646662, wurde der zweite Antrag des Beschwerdeführers vom 26.6.2019 auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf das Herkunftsland Afghanistan gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkt I. und II). Eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.), festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.) und keine Frist für die freiwillige Ausreise besteht (Spruchpunkt VI.) sowie gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 FPG ein auf die Dauer von einem Jahr befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer keinen nach rechtskräftigem Abschluss des Erstverfahrens neu entstandenen und asylrelevanten Sachverhalt vorgebrachte habe, ergebe sich daraus, dass er selbst angegeben habe, bereits im Vorverfahren alle Fluchtgründe genannt zu haben und sich nur die Lage verschlechtert hätte. Zu den weiteren gemäß § 8 AsylG 2005 zu berücksichtigenden Aspekten merkte die belangte Behörde an, dass sich im Verfahren ebenso kein Hinweis auf einen seit Rechtskraft des Erstverfahrens entscheidungsrelevant geänderten Sachverhalt ergeben habe, weder im Hinblick auf die persönliche Situation, noch im Hinblick auf die allgemeine Sicherheitslage im Heimatland. Ein neuer Sachverhalt liege im Ergebnis nicht vor.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung fristgerecht Beschwerde, stellte u.a. einen Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung und erstattete im Wesentlichen folgendes Vorbringen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt habe sich maßgeblich verändert. Er sei aus Afghanistan entwurzelt und es bestehe Gefahr, dass er bei einer Rückkehr in eine existenzbedrohende Notlage gerate. Zur Asylrelevanz seines Vorbringens sei festzustellen, dass weder eine Schutzwilligkeit, noch eine Schutzfähigkeit der afghanischen Behörden gegeben sei. Die Sicherheitslage in Afghanistan sei wesentlich schlechter und die persönliche Situation des Beschwerdeführers eine völlig andere, da er keine relevanten Anknüpfungspunkte in der Heimat mehr habe und darüber hinaus in Österreich bestens integriert sei. Er sei selbsterhaltungsfähig und habe umfangreiche soziale und familiäre Kontakte in Österreich.

Am XXXX legte der Beschwerdeführer eine übersetzte „Islamische Heiratsurkunde" der „Organisation für islamische Kultur" vom 30.9.2019 vor.

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 16.10.2019, GZ W262 2224206-1/4E, wurde die Beschwerde gemäß § 68 Abs. 1 AVG, §§ 10 Abs. 1 Z 3 und 57 AsylG, § 9 BFA-VG, §§ 46, 52, 53 und 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, eine maßgebliche Änderung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstadt seit rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens über den letzten Antrag auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers könne ebenso wenig festgestellt werden, wie das Vorliegen einer maßgeblichen Bedrohung des Beschwerdeführers in Afghanistan.

Der Beschwerdeführer sei in der Provinz Parwan (Afghanistan) geboren worden, habe diese im Alter von ca. zehn Jahren verlassen und bis zu seiner Ausreise etwa vierzehn Jahre in Kabul gelebt. Er sei in einem afghanischen Familienverband aufgewachsen, mit den afghanischen Sitten und Traditionen vertraut und dort fünf Jahre zur Schule gegangen. Beruf habe er keinen erlernt, sei jedoch in der Stadt XXXX zwei Jahre bei einem Tischler und zwei Jahre bei einem Schweißer als Hilfsarbeiter tätig gewesen und so für seinen Lebensunterhalt aufgekommen.

Die Eltern des Beschwerdeführers und eine Schwester seien bereits verstorben, im Iran lebten ein Bruder und ein Onkel sowie ein Cousin des Beschwerdeführers. Eine Schwester des Beschwerdeführers lebe in Norwegen.

Der Beschwerdeführer sei gesund und leide an keinen schweren physischen oder psychischen, akut lebensbedrohlichen und im Herkunftsstadt nicht behandelbar Erkrankungen, die einer Rückführung entgegenstehen würden.

Der Beschwerdeführer sei arbeitsfähig. Er habe von September bis Dezember 2017 einen Kurs zur Qualifizierung als Gastronomiehilfskraft erfolgreich absolviert und ein Praktikum als Koch gemacht. Der Beschwerdeführer gehe in Österreich keiner Beschäftigung nach, beziehe Leistungen aus der Grundversorgung und sei nicht selbsterhaltungsfähig.

Er habe sich am XXXX mit einer in Wien lebenden afghanischen Asylberechtigten verlobt und am XXXX eine „Islamische Heiratsurkunde" der „Organisation für islamische Kultur" vom XXXX vorgelegt. Der Beschwerdeführer sei kinderlos. Seine Lebensgefährtin wohne bei ihren Eltern; sie hätten keinen gemeinsamen Haushalt und würden sich derzeit zweimal in der Woche sehen.

Der Beschwerdeführer habe keine in Österreich lebende Familienangehörige oder Verwandte. Er habe „Wahleltern" in Österreich gefunden, die er regelmäßig treffe, mit denen er aber in keiner Haus- oder Wirtschaftsgemeinschaft lebe.

Der Beschwerdeführer sei strafrechtlich unbescholten. Er habe Deutsch- und Integrationskurse besucht, eine Deutschprüfung Niveau A1 absolviert, im November und Dezember 2017 ehrenamtlich in XXXX in einem Seniorenwohnheim gearbeitet, im Februar 2017 einen Erste-Hilfe-Kurs sowie im April 2017 einen Erste-Hilfe-Auffrischungskurs in Salzburg besucht.

Am 11.2.2020 stellte der Beschwerdeführer den gegenständlichen und somit dritten Antrag auf internationalen Schutz (Folgeantrag).

Diesen begründete er im Rahmen seiner Erstenbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag folgendermaßen:

„Meine ursprünglichen Asylgründe sind noch aufrecht.

Ich habe außerdem am 16.01.2020 meine Ehefrau […] am Standesamt XXXX geheiratet. Sie verfügt über den Status einer Asylberechtigten. Ich möchte nun denselben Status wie meine Frau erhalten. Zudem bin ich am 10.02.2020 aus dem Islam ausgetreten und bin seitdem Atheist. Ich möchte in Österreich bei meiner Frau bleiben, ich habe in Afghanistan keine Familie mehr.“

Aufgrund seines Austrittes würde ihm die Todesstrafe in Afghanistan drohen. Die Änderungen seiner Situation seien ihm seit Jänner bzw. Februar 2020 bekannt.

Am 2.3.2020 wurde der Beschwerdeführer vor der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen und erklärte eingangs, gesund zu sein und sich derzeit weder in ärztlicher Betreuung noch in Behandlung oder Therapie zu befinden. Er nehme auch keine Medikamente.

Seine bisher angegebenen Daten seien korrekt.

In seiner Heimat habe er Probleme gehabt, weil er bei religiösen Veranstaltungen Gebete vorgelesen habe. Einmal sei er auch bei der Volksarmee eingeladen gewesen und auf dem Weg dorthin von Taliban aufgehalten worden. Danach habe er überall erzählt, dass die Polizei sowie das Militär mit den Taliban zusammenarbeiteten. Deshalb werde er von Polizei und Militär verfolgt, bei einer Rückkehr würde er getötet. Dies hätte er in seinem bisherigen Verfahren deshalb nicht geschildert, weil er nicht detailliert gefragt worden wäre. Zudem hätte er es vergessen und wäre gestresst gewesen.

Auch habe er keinen Glauben mehr und würde bei einer Rückkehr deswegen getötet. Überdies sei seine Frau schwanger, seit acht Monaten würden sie zusammenwohnen. In Afghanistan habe er niemanden mehr, ein Onkel mütterlicherseits und ein Bruder wären im Iran. Eltern und Schwestern habe er keine, niemand mehr würde sich in Afghanistan befinden.

In Österreich habe er sechs Monate als Küchenhilfe und drei Wochen als Tischler und Schweißer gearbeitet und bei seiner zweiten Einvernahme bereits sämtliche Unterlagen eingebracht. Zurzeit arbeite er nicht. Seine Frau unterstütze ihn, auch von den Wahleltern erhalte er finanzielle Unterstützung. Ansonsten gebe es keine Verwandten, zu denen ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis oder eine besonders enge Beziehung bestehe, nur seine Schwiegereltern, seine Gattin und die Pflegeeltern seien hier. Ersparnisse habe der Beschwerdeführer nicht.

Der Beschwerdeführer sei seit November 2019 Atheist. Dies sei er schon vorher gewesen, habe sich aber noch nicht getraut, es zuzugeben, weil er ihm Lager hätte getötet werden können. In der Betreuungsstelle habe er einen Freund kennen gelernt, der auch Atheist sei, im Videos gezeigt und ihm erklärt habe, dass man hier keine Angst haben brauche.

Bezüglich seines Privat- und Familienlebens sei anzugeben, dass seine Frau schwanger sei. Mittlerweile hätten sie standesamtlich geheiratet. Dazu legte der Beschwerdeführer die Heiratsurkunde vom XXXX vor und gab an, dass er seit acht Monaten mit seiner Gattin an der selben Adresse zusammenlebe. Dies habe deshalb so lange gedauert, weil er noch kein anerkannter Flüchtling gewesen sei und sie keinen Job gehabt habe. Nunmehr befinde sich seine Gattin beim AMS auf Jobsuche. Die Wohnung finanziere seine Frau, der Beschwerdeführer wolle in Zukunft selbst arbeiten und auch selbst seinen Unterhalt bezahlen.

In Österreich befinde er sich seit ungefähr fünf Jahren und habe es seit seinem ersten Antrag nicht mehr verlassen. Er habe Deutsch A2 abgeschlossen, eine Erste-Hilfe Ausbildung sowie drei Monate einen Integrationskurs besucht.

Seiner Frau gehe es gut, sie wisse erst seit einer Woche, dass sie schwanger sei, Unterlagen gebe es noch keine.

Seit der rechtskräftigen Entscheidung im Vorverfahren habe sich nur geändert, dass der Beschwerdeführer den Glauben gewechselt und seine Frau geheiratet habe. Außerdem bestünden dieselben Probleme noch immer, inzwischen wüssten seine Freunde und sein Onkel mütterlicherseits im Iran, dass der Beschwerdeführer Atheist wäre.

Den neuen Antrag stelle er deshalb, weil er geheiratet und nun keinen Glauben mehr habe. Er wolle in Österreich bleiben, weil er sich gut auskenne, die Sprache spreche und das Land liebe. In Afghanistan habe er niemanden, seit dem Alter von zwölf Jahren sei er alleine gewesen.

Nachgefragt, wie lange der Beschwerdeführer Atheist sei, antwortete er zuerst, seit 19.11.2012 und korrigierte sich dann auf den 10.11.2019. Dass er erst so spät aus der Glaubensgemeinschaft ausgetreten sei erklärte er damit, er hätte recherchieren müssen. Zu dem Zeitpunkt als er überlegt habe, ob es Gott gebe sei er 24 Jahre alt gewesen. Nachgefragt dass er demnach seit 2016 Atheist sei, bestätigte der Beschwerdeführer dies ausdrücklich.

Am 2.3.2020 wurde die Ehefrau des Beschwerdeführers als Zeugin einvernommen und gab an, derzeit in der ersten Woche schwanger zu sein, nächste Woche habe sie einen weiteren Termin beim Frauenarzt. Die Zeugin wurde aufgefordert, den Mutter Kind Pass bei der Behörde einzubringen, sobald sie ihn erhalten habe.

Weiters erklärte sie, in Österreich einen positiven Asylstatus zu haben und mit dem Beschwerdeführer seit acht Monaten traditionell und seit XXXX standesamtlich verheiratet zu sein. Kennen würden sie sich seit zwei Jahren und seit der standesamtlichen Hochzeit zusammenleben. Die Wohnung gehöre der Zeugin, die sie auch selbst bezahle.

Der Beschwerdeführer hätte überhaupt keinen Glauben und habe ihr erzählt, dass er den Glauben zu Gott verloren habe, als er im Alter von zwölf Jahren seinen Vater verloren und Gott ihm nicht geholfen habe. Ca. Ende November habe er mit seinem Onkel im Iran Kontakt aufgenommen, der ihn aufgefordert habe, regelmäßig zu beten. Daraufhin habe der Beschwerdeführer geantwortet, dass er an keinen Gott mehr glaube, woraufhin der Onkel geantwortet hätte, er dürfe nie wieder anrufen.

Nachgefragt, seit wann genau der Beschwerdeführer keinen Glauben mehr hätte, erwiderte seine Gattin, vermutlich seit Ende November 2019. Davor habe er auch keinen gehabt, dies jedoch nicht erzählt. Sie selbst sei Muslimin, für sie mache das jedoch keinen Unterschied.

Abhängig sei sie von ihrem Gatten nur insofern, als sie ohne ihn psychisch krank und depressiv würde. Genauso sei er auch von ihr abhängig.

Am 5.3.2020 langten beim Bundesamt die Heiratsurkunde samt Auszug aus dem Heiratseintrag sowie eine Religionsaustrittsbescheinigung der Stadt Wien vom 10.2.2020 ein. Am 12.3.2020 folgten ärztliche Unterlagen der Gattin des Beschwerdeführers. Laut ärztlichen Attest vom 11.3.2020 sei diese derzeit schwanger.

Mit gegenständlich bekämpftem Bescheid des Bundesamtes wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 68 Abs. 1 AVG hinsichtlich des Status des Asylberichtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Unter Spruchpunkt III. wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG idgF wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Weiters wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Unter Spruchpunkt VI. wurde gemäß § 55 Abs. 1a FPG ausgeführt, dass keine Frist für eine freiwillige Ausreise bestehe und gegen den Beschwerdeführer gemäß § 53 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Z 6 FPG ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Begründend wurde im Wesentlichen festgestellt, dass es im Vergleich zur zuletzt gegen seine Person verhängten rechtskräftigen Rückkehrentscheidung zu keiner wesentlich tieferen Integrationsverfestigung des Beschwerdeführers gekommen sei. Sein gesamtes Vorbringen im vorangehenden Asylverfahren sei bereits einer ausreichenden und sorgfältigen Prüfung unterzogen worden. Zusammenfassend habe der Beschwerdeführer keine konkrete Verfolgung oder sonstige Umstände vorgebracht, welche bei einer Rückkehr in sein Heimatland eine tatsächliche Gefahr für sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit darstellen könnten.

Der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt habe sich seit Rechtskraft seines ersten Asylverfahrens nicht geändert. Der Beschwerdeführer halte seine Fluchtgründe aufrecht, zusätzlich sei er nun standesamtlich verheiratet, seine Frau schwanger und er lebe mit ihr in einem gemeinsamen Haushalt. Er habe sich vom Islam abgewandt. In weiterer Folge habe der Beschwerdeführer keinerlei reale Fluchtgründe vorgebracht, sondern vielmehr sei festgestellt worden, dass er keine konkrete Verfolgung darzustellen vermocht habe. Sein neuerliches Vorbringen baue in modifizierter Form auf sein Vorbringen im Erstverfahren auf, welches als nicht glaubhaft angesehen worden sei. Somit diene sein gesamtes Vorbringen im Wesentlichen dazu, eine Besserstellung seines Verfahrens zu erwirken.

Die vorgelegten Beweismittel wie Heiratsurkunde, Religionsaustrittsbescheinigung sowie Schwangerschaft seiner Ehefrau und der gemeinsame Wohnsitz stellten keinen neuen entscheidungsrelevanten Sachverhalt dar, welcher eine neue inhaltliche Entscheidung nahelege.

Es habe zwar festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer in Österreich über schützenswerte private Bindungen verfüge, zumal er geheiratet und einen gemeinsamen Haushalt gegründet habe, jedoch in Zusammenschau seines Verfahrensaktes und mit dem Umstand seines unsicheren Aufenthaltes zum Zeitpunkt des Eingehens seiner Ehe seien ein Eingriff und eine Ausweisungs seiner Person seitens der Behörde als gerechtfertigt anzusehen.

Das Bundesamt traf umfassende herkunftsbezogene Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers.

Gegen diesen Bescheid wurde Beschwerde in vollem Umfang erhoben. Darin wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass es sich bei der Abkehr des Beschwerdeführers vom Islam um einen neuen Asylgrund handle. Zudem lebe der Beschwerdeführer seit 2015 in Österreich und sei nunmehr verheiratet. Die Ehegattin, eine afghanische Asylberechtigte, erwarte von ihm ein Kind und lebe mit ihm im gemeinsamen Haushalt.

Mit Beschluss vom 29.4.2020, GZ W119 2224206-2/2Z, erkannte das Bundesverwaltungsgericht dieser Beschwerde gemäß § 17 Abs 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zu.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage sämtlicher Asylanträge des Beschwerdeführers, seiner Einvernahmen vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes und des Bundesamts sowie dem Bundesverwaltungsgericht, den bislang ergangenen Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts, der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid, der im Verfahren vorgelegten Schriftsätze, der Einvernahme der Gattin des Beschwerdeführers als Zeugin sowie der Einsichtnahme in die Verwaltungs- und Gerichtsakten werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Hazara an.

Er stellte am 29.7.2015 seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz. Dieser Antrag wurde vom Bundesamt und in weiterer Folge vom Bundesverwaltungsgericht als Rechtsmittelinstanz mit Erkenntnis vom 6.6.2018 zu GZ W270 2155119-1/10E abgewiesen. Den zweiten, am 26.6.2019 gestellten, Antrag auf internationalen Schutz wies das Bundesamt mit Bescheid vom 20.9.2019 gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück, erließ eine Rückkehrentscheidung und gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 FPG ein auf die Dauer von einem Jahr befristetes Einreiseverbot. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 16.10.2019, GZ W262 2224206-1/4E, abgewiesen.

Eine maßgebliche Änderung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat seit rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens über den zweiten Antrag auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers kann ebenso wenig festgestellt werden, wie eine maßgebliche Änderung der vom Beschwerdeführer bereits in den Vorverfahren vorgebrachten Fluchtgründe.

Der Beschwerdeführer legte eine Religionsaustrittsbescheinigung der Stadt Wien vom 10.2.2020 vor. Seine Angaben, (erst) seit Erlassung des Vorerkenntnisses aus innerer Überzeugung vom schiitischen Glauben abgefallen zu sein, weisen keinen glaubhaften Kern auf.

Seit dem Abschluss des Vorverfahrens sind keine Umstände eingetreten, wonach dem Beschwerdeführer allein aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage ohne Hinzutreten individueller Faktoren in Afghanistan aktuell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit seiner Person drohen würde oder ihm im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre.

Der Beschwerdeführer wurde in der Provinz Parwan geboren, verließ diese im Alter von ca. zehn Jahren und lebte bis zu seiner Ausreise etwa vierzehn Jahre in Kabul. Er ist in einem afghanischen Familienverband aufgewachsen und mit den afghanischen Sitten und Traditionen vertraut. Er ging fünf Jahre zur Schule, erlernte keinen Beruf, war jedoch in der Stadt XXXX zwei Jahre bei einem Tischler und zwei Jahre bei einem Schweißer als Hilfsarbeiter tätig und kam so für seinen Lebensunterhalt auf.

Die Eltern des Beschwerdeführers und eine Schwester sind bereits verstorben, im Iran lebt ein Bruder und ein Onkel sowie ein Cousin des Beschwerdeführers.

Der Beschwerdeführer ist gesund und leidet an keinen schweren physischen oder psychischen, akut lebensbedrohlichen und im Herkunftsstadt nicht behandelbaren Erkrankungen, die einer Rückführung in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden.

Der Beschwerdeführer ist arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer hat sich am XXXX mit einer in Wien lebenden afghanischen Asylberechtigten verlobt und legte am XXXX eine „Islamische Heiratsurkunde" der „Organisation für islamische Kultur" vom XXXX vor. Am XXXX heirateten die beiden in XXXX standesamtlich und leben nunmehr in der von der Gattin finanzierten Wohnung in einem gemeinsamen Haushalt. Die Ehefrau des Beschwerdeführers ist schwanger.

Der Beschwerdeführer hat „Wahleltern" in Österreich gefunden, die er regelmäßig trifft, mit denen er aber in keiner Haus- oder Wirtschaftsgemeinschaft lebt.

Er hat von September bis Dezember 2017 einen Kurs zur Qualifizierung als Gastronomiehilfskraft erfolgreich absolviert und ein Praktikum als Koch gemacht. Insgesamt arbeitete er im Bundesgebiet sechs Monate als Küchenhilfe und drei Wochen als Tischler und Schweißer. Der Beschwerdeführer geht in Österreich keiner Beschäftigung nach, wird von seiner Gattin und den Wahleltern finanziell unterstützt und ist hier nicht selbsterhaltungsfähig.

Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten. Er hat Deutsch- und Integrationskurse besucht und eine Deutschprüfung Niveau A1 absolviert. Der Beschwerdeführer hat im November und Dezember 2017 ehrenamtlich in einem Seniorenwohnheim gearbeitet und im Februar 2017 einen Erste-Hilfe-Kurs sowie im April 2017 einen Erste-Hilfe-Auffrischungskurs besucht.

Hinweise auf das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen für einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen kamen nicht hervor.

Im Hinblick auf die derzeit bestehende Pandemie aufgrund des Corona-Virus wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer nicht unter die Risikogruppe der Personen von über 65 Jahren und der Personen mit Vorerkrankungen fällt. Ein bei einer Überstellung des Beschwerdeführers nach Afghanistan vorliegendes „real risk“ einer Verletzung des Art. 2 oder 3 EMRK ist hierzu nicht erkennbar.

Feststellungen zur Situation in Afghanistan:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison – was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt – dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierungen und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten – als Reaktion auf einen Anschlag – absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit – insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).

Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).

Abb. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle 2015-2018 in ganz Afghanistan gemäß Berichten des UN-Generalsekretärs (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UN-Daten (UNGASC 7.3.2016; UNGASC 3.3.2017; UNGASC 28.2.2018; UNGASC 28.2.2019))


Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle – eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle – ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet – 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).

Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433. Die folgende Grafik der Staatendokumentation schlüsselt die sicherheitsrelevanten Vorfälle anhand ihrer Vorfallarten und nach Quartalen auf (BFA Staatendokumentation 4.11.2019):

Abb. 3: Sicherheitsrelevante Vorfälle nach Quartalen und Vorfallsarten im Zeitraum 1.1.2018-30.9.2019 (Global Incident Map, Darstellung der Staatendokumentation; BFA Staatendokumentation 4.11.2019)

Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).

Zivile Opfer

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) – dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September – im Gegensatz zu 2019 – von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl – Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) – 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).

Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).

Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten, zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).

Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018

Die afghanische Regierung bemühte sich Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten „Geldbußen“ und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.4.2018) bis Ende des Jahres 2018, wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.2.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):

Taliban

Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).

Berichten zufolge, besteht der ISKP in Pakistan hauptsächlich aus ehemaligen Teherik-e Taliban Mitgliedern, die vor der pakistanischen Armee und ihrer militärischen Operationen in der FATA geflohen sind (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). Dem Islamischen Staat ist es gelungen, seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan dadurch zu stärken, dass er Partnerschaften mit regionalen militanten Gruppen einging. Seit 2014 haben sich dem Islamischen Staat mehrere Gruppen in Afghanistan angeschlossen, z.B. Teherik-e Taliban Pakistan (TTP)-Fraktionen oder das Islamic Movement of Uzbekistan (IMU), während andere ohne formelle Zugehörigkeitserklärung mit IS-Gruppierungen zusammengearbeitet haben, z.B. die Jundullah-Fraktion von TTP oder Lashkar-e Islam (CTC 12.2018).

Der islamische Staat hat eine Präsenz im Osten des Landes, insbesondere in der Provinz Nangarhar, die an Pakistan angrenzt (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). In dieser sind vor allem bestimmte südliche Distrikte von Nangarhar betroffen (AAN 27.9.2016; vgl. REU 23.11.2017; AAN 23.9.2017; AAN 19.2.2019), wo sie mit den Taliban um die Kontrolle kämpfen (RFE/RL 30.10.2017; vgl. AAN 19.2.2019). Im Jahr 2018 erlitt der ISKP militärische Rückschläge sowie Gebietsverluste und einen weiteren Abgang von Führungspersönlichkeiten. Einerseits konnten die Regierungskräfte die Kontrolle über ehemalige IS-Gebiete erlangen, andererseits schwächten auch die Taliban die Kontrolle des ISKP in Gebieten in Nangarhar (UNSC 13.6.2019; vgl. CSR 12.2.2019). Aufgrund der militärischen Niederlagen war der ISKP dazu gezwungen, die Anzahl seiner Angriffe zu reduzieren. Die Gruppierung versuchte die Provinzen Paktia und Logar im Südosten einzunehmen, war aber schlussendlich erfolglos (UNSC 31.7.2019). Im Norden Afghanistans versuchten sie ebenfalls Fuß zu fassen. Im August 2018 erfuhr diese Gruppierung Niederlagen, wenngleich sie dennoch als Bedrohung in dieser Region wahrgenommen wird (CSR 12.2.2019). Berichte über die Präsenz des ISKP könnten jedoch übertrieben sein, da Warnungen vor dem Islamischen Staat laut einem Afghanistan-Experten „ein nützliches Fundraising-Tool“ sind: so kann die afghanische Regierung dafür sorgen, dass Afghanistan im Bewusstsein des Westens bleibt und die Auslandshilfe nicht völlig versiegt (NAT 12.1.2017). Die Präsenz des ISKP konzentrierte sich auf die Provinzen Kunar und Nangarhar. Außerhalb von Ostafghanistan ist es dem ISKP nicht möglich, eine organisierte oder offene Präsenz aufrechtzuerhalten (UNSC 13.6.2019).

Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele, verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit (CSR 12.2.2019; vgl. UNAMA 24.2.2019; AAN 24.2.2019; CTC 12.2018; UNGASC 7.12.2018; UNAMA 10.2018). Im Jahr 2018 war der ISKP für ein Fünftel aller zivilen Opfer verantwortlich, obwohl er über eine kleinere Kampftruppe als die Taliban verfügt (AAN 24.2.2019). Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt (UNAMA 24.2.2019), nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab (UNAMA 30.7.2019).

Der ISKP verurteilt die Taliban als "Abtrünnige", die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019).

Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.1.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.6.2019).

Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (UNSC 13.6.2019).

Im Rahmen der Friedensgespräche mit US-Vertretern haben die Taliban angeblich im Jänner 2019 zugestimmt, internationale Terrorgruppen wie Al-Qaida aus Afghanistan zu verbannen (TEL 24.1.2019).

Quellen:

•        AAN – Afghanistan Analysts Network (9.6.2019): Civilians at Greater Risk from Pro-government Forces: While peace seems more elusive?, https://www.afghanistan-analysts.org/civilians-at-greater-risk-from-pro-government-forces-while-peace-seems-more-elusive/, Zugriff 12.7.2019

•        AAN – Afghanistan Analysts Network (24.2.2019): Record Numbers of Civilian Casualties Overall, from Suicide Attacks and Air Strikes: UNAMA reports on the conflict in 2018, https://www.afghanistananalysts.org/recordnumbersofciviliancasualtiesoverallfromsuicideattacksandairstrikesunamareportsontheconflictin2018/, Zugriff 3.6.2019

•        AAN – Afghanistan Analysts Network (19.2.2019): “Faint lights twinkling against the dark”: Reportage from the fight against ISKP in Nangrahar, https://www.afghanistananalysts.org/faintlightstwinklingagainstthedarkreportagefromthefightagainstiskpinnangrahar/, Zugriff 5.6.2019

•        AAN – Afghanistan Analysts Network (6.12.2018): One Land, Two Rules (1): Service delivery in insurgentaffected areas, an introduction, https://www.afghanistananalysts.org/onelandtworules1servicedeliveryininsurgentaffectedareasanintroduction/, Zugriff 4.6.2019

•        AAN – Afghanistan Analysts Network (18.8.2018): Hitting Gardez: A vicious attack on Paktia’s Shias, https://www.afghanistananalysts.org/hittinggardezaviciousattackonpaktiasshias/, Zugriff 3.6.2019

•        AAN – Afghanistan Analysts Network (23.9.2017): More Militias? Part 2: The proposed Afghan Territorial Army in the fight against ISKP, https://www.afghanistananalysts.org/moremilitiaspart2theproposedafghanterritorialarmyinthefightagainstiskp/, Zugriff 5.6.2019

•        AAN – Afghanistan Analysts Network (1.8.2017): Thematic Dossier XV: Daesh in Afghanistan, https://www.afghanistananalysts.org/publication/aanthematicdossier/thematicdossierxvdaeshinafghanistan/, Zugriff 5.6.2019

•        AAN – Afghanistan Analysts Network (29.7.2017): The NonPashtun Taleban of the North (3): The Takhar case study, https://www.afghanistananalysts.org/thenonpashtuntalebanofthenorththetakharcasestudy/, Zugriff 5.6.2019

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•        AP – Associated Press (4.9.2018): Death of Afghan group’s founder unlikely to weaken militants, https://www.apnews.com/be6aab352110497696ddc9a01f3bf693, Zugriff 5.6.2019

•        ARN – Arab News (23.6.2019): In the line of fire: Wardak residents struggle to stay afloat in Afghanistan, http://www.arabnews.com/node/1514761/world, Zugriff 22.7.2019

•        BAMF

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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