TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/25 G302 2224994-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.11.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

25.11.2020

Norm

AlVG §10
AlVG §38
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §29
VwGVG §33

Spruch


G302 2224994-2/4E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Manfred ENZI als Vorsitzenden sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Josef EBERHARD und Mag. Gerd BAUMGARTNER als Beisitzer über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von XXXX , geb. XXXX , vertreten durch: Rechtsanwalt Dr. Herbert POCHIESER, in 1070 Wien, gegen die Versäumung der Frist für die Stellung eines Antrages auf schriftliche Ausfertigung bezüglich des mündlich verkündeten Erkenntnis des BVwG vom 30.09.2020, GZ G302 2224994-1/7Z, mit welchem über den Vorlageantrag gegen den Bescheid der regionalen Geschäftsstelle XXXX des Arbeitsmarktservice vom XXXX , Zl. XXXX , abgesprochen wurde, beschlossen:

A)

Dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird stattgegeben.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Begründung:

I. Verfahrensgang und Feststellungen:

Am 30.09.2020 fand eine öffentliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht Außenstelle Graz über den Vorlageantrag von XXXX , geb. XXXX (in weiterer Folge: ASt) gegen den Bescheid der regionalen Geschäftsstelle XXXX des Arbeitsmarktservice (in der Folge: belangte Behörde) vom XXXX , Zl. XXXX , statt. An deren Ende verkündete der vorsitzende Richter nach Durchführung einer nichtöffentlichen Beratung des Senates gemäß § 29 Abs. 2 VwGVG die abweisende Entscheidung.

Nach Begründung der Entscheidung und erfolgter Rechtsmittelbelehrung wurde der ASt gemäß § 29 Abs. 2a VwGVG über das Recht belehrt, binnen zwei Wochen nach Ausfolgung bzw. Zustellung der Niederschrift eine Ausfertigung des Erkenntnisses oder des Beschlusses gemäß § 29 Abs. 4 VwGVG zu verlangen, sowie, dass ein Antrag auf Ausfertigung des Erkenntnisses oder Beschlusses eine Voraussetzung für die Zulässigkeit der Revision beim Verwaltungsgerichtshof und der Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof darstellt.

Die Ausfertigung der Niederschrift samt Belehrung gemäß § 29 Abs. 2a VwGVG wurde nach dem Ende der Verhandlung an den ASt persönlich ausgefolgt.

In weiterer Folge beauftragte der ASt den ausgewiesenen Rechtsvertreter mit seiner rechtsfreundlichen Vertretung im gegenständlichen Verfahren.

Sämtliche abzufertigende Schriftstücke werden samt Akt nach Gegenzeichnung durch den rechtsfreundlichen Vertreter dem Sekretariat auf den Tisch, rechts neben dem Computer, gelegt. Sämtliche Einbringungen per Web-ERV werden zudem auch vom rechtsfreundlichen Vertreter nachgeprüft.

In der gegenständlichen Rechtsache wurde der Antrag auf Ausfertigung der Entscheidung des BVwG von der zuständigen Mitarbeiterin im Sekretariat, Frau XXXX (in der Folge LK), am 08.10.2020 vorbereitet. LK ist seit acht Jahren zur vollsten Zufriedenheit in der Kanzlei tätig und mit der Thematik der korrekten Einbringung von Schriftstücken bestens vertraut. Es war ihr völlig klar, dass der Antrag auf schriftliche Ausfertigung des Erkenntnisses entsprechend den korrekten Vermerken auf dem Spiegel des Schriftstücks via Web-ERV an das BVwG zu senden war: Sie nannte das BVwG als Empfänger des Antrages auf dem Spiegel des Schriftstücks und vermerkte zur Einbringungsart in der linken oberen Ecke des Antrags „Web ERV“.

Das Sekretariat arbeitet freitags bis 15:00 Uhr. Die auch für das Abfertigen der Schriftstücke zuständige Mitarbeiterin, LK, zeichnet sich durch besondere Gewissenhaftigkeit aus. Sie ist sogar derart dienstbeflissen, dass sie sämtliche zur Abfertigung bereitliegende Schriftstücke auch über ihre eigentliche Dienstzeit hinaus noch vor dem Wochenende abfertigt, um diese nicht in die neue Arbeitswoche „mitzunehmen“. Am 09.10.2020 wurde somit der bereits fertige, vom rechtsfreundlichen Vertreter auf den Tisch zur Abfertigung gelegte Antrag an das BVwG, gleich allen weiteren abzufertigenden Akte systematisch bearbeitet und ausgesendet. LK tat dies mit dem sie so auszeichnenden Eifer und selbst obwohl das Fristende nicht der 09.10.2020, sondern erst der 14.10.2020 gewesen wäre – sohin fünf Tage vor dem eigentlichen Ende der Frist zur Einbringung des Antrages.

Auf dem gegenständlichen Antrag waren sowohl der Empfänger (das BVwG) als auch die Einbringungsart (Web-ERV) korrekt angebracht, so dass es hierüber für LK – die den Antrag zudem völlig korrekt selbst vorbereitet hatte - keinen Zweifel gab. Die genannte Mitarbeiterin hat nicht nur die Fristen äußerst gewissenhaft im Auge, sie kennt sich auch bestens mit der in der Kanzlei verwendeten Software aus und ist in der Kanzlei die Expertin für Web-ERV und jurXpert, wobei sie auch diesbezüglich Mitarbeiter, inklusive RechtsanwaltsanwärterInnen, im Umgang mit diesen Programmen einschult. Dennoch wurde aufgrund einer Kurzschlussreaktion der Antrag versehentlich per E-Mail an die belangte Behörde versendet. Die rechtsfreundliche Vertretung kontrolliert stets die korrekt erstellten Spiegel eines Schriftsatzes sowie die fristgerechten Abfertigungen im Web-ERV.

Eine 100% Kontrolle der eingearbeiteten, einwandfrei arbeitenden Angestellten wäre ihm aber gar nicht möglich gewesen, da damit das System der Delegation an sich obsolet würde und der Arbeitsbetrieb der Kanzlei nicht aufrechterhalten werden könnte. Insbesondere bei einer stets sehr verlässlichen Mitarbeiterin kann auf ein Versenden von Anträgen an die korrekt auf dem Spiegel des Schriftstücks bezeichneten Stelle und Einbringungsart vertraut werden.

Beim Abfertigen der diversen am 09.10.2020 aus der Kanzlei ausgehenden Rechtssachen hat sie jedoch aufgrund eines „Black Outs“ übersehen, dass der Antrag auf schriftliche Entscheidungsausfertigung – nicht wie etwa ein Rechtsmittel gegen einen abweisenden Bescheid einer Behörde – direkt beim BVwG einzubringen ist.

LK nimmt aus Leidenschaft zu ihrem Beruf täglich eine weite Anfahrtsstrecke von jeweils eineinhalb Stunden zur Kanzlei in Kauf. Aufgrund der nicht gerade häufigen Zugverbindung nach Großweikersdorf, wo sie täglich ein- und aussteigt, bedarf dies einiges an Vorausplanung. Zum Zeitpunkt des nach ihrer eigentlichen Dienstzeit verrichteten Absendens des Antrages war sie an diesem Tag gedanklich mit ebendieser Planung ihrer Heimreise und der Auswahl des geeigneten Zuges nach fertiger Verrichtung ihrer Tätigkeiten für die Arbeitswoche beschäftigt.

Dieses aufgrund einer Kurzschlussreaktion entstandene Übersehen der korrekten Einbringungsstelle bei korrekter Nennung sowohl des BVwG als auch der Einbringungsart „Web ERV“ auf dem Spiegel des Schriftstücks stellt lediglich einen minderen Grad des einmaligen Versehens einer sonst äußerst verlässlichen und stets sorgfältigen Mitarbeiterin dar, so dass eine Einbringung des Antrags beim per E-Mail bei der belangten Behörde nicht zu erwarten war.

Durch die Entdeckung des Fehlers in der Kanzlei am 27.10.2020, als der ASt diese über die ihm gegenüber erfolgte persönliche Zustellung mittels RSa-Brief der gekürzten Ausfertigung der Entscheidung am 23.10.2020 informierte, ist dieses Hindernis weggefallen. Die Frist zur Einbringung des Antrages auf Wiedereinsetzung endet somit am 06.11.2020. Die Antragstellung erfolgt somit rechtzeitig.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Beweiswürdigung:

Der oben angeführte Verfahrensgang und Sachverhalt ergeben sich aus dem diesbezüglich unbedenklichen und unzweifelhaften Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakten sowie des nunmehr dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Gerichtsakts.

Die belangte Behörde teilte dem BVwG mit Schriftsatz vom 17.11.2020 mit, dass am 09.10.2020, um 15.12 Uhr, eine Email vom rechtsfreundlichen Vertreter mit dem Antrag auf „Urteilsausfertigung“ bezüglich des ASt eingelangt ist. Als Adressat wird das BVwG mit der GZ G302 2224994-1/7Z genannt.

Das Vorbringen im Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist im Gesamten gesehen plausibel nachvollziehbar und glaubhaft.

Der dem Bundesverwaltungsgericht vorliegende Akteninhalt kann dem gegenständlichen Beschluss im Rahmen der freien Beweiswürdigung zugrunde gelegt werden.

2. Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A):

Die relevanten Bestimmungen des Bundesgesetzes über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG) StF: BGBl. I Nr. 33/2013 idgF lauten:

„§ 29 (1) Die Erkenntnisse sind im Namen der Republik zu verkünden und auszufertigen. Sie sind zu begründen.

(2) Hat eine Verhandlung in Anwesenheit von Parteien stattgefunden, so hat in der Regel das Verwaltungsgericht das Erkenntnis mit den wesentlichen

Text


Entscheidungsgründen sogleich zu verkünden.

(2a) Das Verwaltungsgericht hat im Fall einer mündlichen Verkündung die Niederschrift den zur Erhebung einer Revision beim Verwaltungsgerichtshof oder einer Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof legitimierten Parteien und Organen auszufolgen oder zuzustellen. Der Niederschrift ist eine Belehrung anzuschließen: 1. über das Recht, binnen zwei Wochen nach Ausfolgung bzw. Zustellung der Niederschrift eine Ausfertigung gemäß Abs. 4 zu verlangen; 2. darüber, dass ein Antrag auf Ausfertigung des Erkenntnisses gemäß Abs. 4 eine Voraussetzung für die Zulässigkeit der Revision beim Verwaltungsgerichtshof und der Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof darstellt.

(2b) Ist das Erkenntnis bereits einer Partei verkündet worden, kann ein Antrag auf Ausfertigung des Erkenntnisses gemäß Abs. 4 bereits ab dem Zeitpunkt gestellt werden, in dem der Antragsteller von dem Erkenntnis Kenntnis erlangt hat. Ein Antrag auf Ausfertigung des Erkenntnisses gemäß Abs. 4 ist den übrigen Antragsberechtigten zuzustellen.

(3) Die Verkündung des Erkenntnisses entfällt, wenn 1. eine Verhandlung nicht durchgeführt (fortgesetzt) worden ist oder 2. das Erkenntnis nicht sogleich nach Schluss der mündlichen Verhandlung gefasst werden kann und jedermann die Einsichtnahme in das Erkenntnis gewährleistet ist.

(4) Den Parteien ist eine schriftliche Ausfertigung des Erkenntnisses zuzustellen. Eine schriftliche Ausfertigung des Erkenntnisses ist in den in Art. 132 Abs. 1 Z 2 B-VG genannten Rechtssachen auch dem zuständigen Bundesminister zuzustellen.

(5) Wird auf die Revision beim Verwaltungsgerichtshof und die Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof von den Parteien verzichtet oder nicht binnen zwei Wochen nach Ausfolgung bzw. Zustellung der Niederschrift gemäß Abs. 2a eine Ausfertigung des Erkenntnisses gemäß Abs. 4 von mindestens einem der hiezu Berechtigten beantragt, so kann das Erkenntnis in gekürzter Form ausgefertigt werden. Die gekürzte Ausfertigung hat den Spruch sowie einen Hinweis auf den Verzicht oder darauf, dass eine Ausfertigung des Erkenntnisses gemäß Abs. 4 nicht beantragt wurde, zu enthalten.

§ 30 Jedes Erkenntnis hat eine Belehrung über die Möglichkeit der Erhebung einer Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof und einer ordentlichen oder außerordentlichen Revision beim Verwaltungsgerichtshof zu enthalten. Das Verwaltungsgericht hat ferner hinzuweisen: 1. auf die bei der Einbringung einer solchen Beschwerde bzw. Revision einzuhaltenden Fristen; 2. auf die gesetzlichen Erfordernisse der Einbringung einer solchen Beschwerde bzw. Revision durch einen bevollmächtigten Rechtsanwalt; 3. auf die für eine solche Beschwerde bzw. Revision zu entrichtenden Eingabengebühren; 4. auf die Möglichkeit, auf die Revision beim Verwaltungsgerichtshof und die Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof zu verzichten, und die Folgen des Verzichts.

§ 33 (1) Wenn eine Partei glaubhaft macht, dass sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis – so dadurch, dass sie von einer Zustellung ohne ihr Verschulden keine Kenntnis erlangt hat – eine Frist oder eine mündliche Verhandlung versäumt und dadurch einen Rechtsnachteil erleidet, so ist dieser Partei auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen. Dass der Partei ein Verschulden an der Versäumung zur Last liegt, hindert die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht, wenn es sich nur um einen minderen Grad des Versehens handelt.

(2) Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Stellung eines Vorlageantrags ist auch dann zu bewilligen, wenn die Frist versäumt wurde, weil die anzufechtende Beschwerdevorentscheidung fälschlich ein Rechtsmittel eingeräumt und die Partei das Rechtsmittel ergriffen hat oder die Beschwerdevorentscheidung keine Belehrung zur Stellung eines Vorlageantrags, keine Frist zur Stellung eines Vorlageantrags oder die Angabe enthält, dass kein Rechtsmittel zulässig sei.

(3) Der Antrag auf Wiedereinsetzung ist in den Fällen des Abs. 1 bis zur Vorlage der Beschwerde bei der Behörde, ab Vorlage der Beschwerde beim Verwaltungsgericht binnen zwei Wochen nach dem Wegfall des Hindernisses zu stellen. In den Fällen des Abs. 2 ist der Antrag binnen zwei Wochen 1. nach Zustellung eines Bescheides oder einer gerichtlichen Entscheidung, der bzw. die das Rechtsmittel als unzulässig zurückgewiesen hat, bzw. 2. nach dem Zeitpunkt, in dem die Partei von der Zulässigkeit der Stellung eines Antrags auf Vorlage Kenntnis erlangt hat, bei der Behörde zu stellen. Die versäumte Handlung ist gleichzeitig nachzuholen.

(4) Bis zur Vorlage der Beschwerde hat über den Antrag die Behörde mit Bescheid zu entscheiden. § 15 Abs. 3 ist sinngemäß anzuwenden. Ab Vorlage der Beschwerde hat über den Antrag das Verwaltungsgericht mit Beschluss zu entscheiden. Die Behörde oder das Verwaltungsgericht kann dem Antrag auf Wiedereinsetzung die aufschiebende Wirkung zuerkennen.

(4a) Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Stellung eines Antrags auf Ausfertigung einer Entscheidung gemäß § 29 Abs. 4 ist auch dann zu bewilligen, wenn die Frist versäumt wurde, weil auf das Erfordernis eines solchen Antrags als Voraussetzung für die Erhebung einer Revision beim Verwaltungsgerichtshof und einer Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof nicht hingewiesen wurde oder dabei die zur Verfügung stehende Frist nicht angeführt war. Der Antrag ist binnen zwei Wochen 1. nach Zustellung einer Entscheidung, die einen Antrag auf Ausfertigung der Entscheidung gemäß § 29 Abs. 4, eine Revision beim Verwaltungsgerichtshof oder eine Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof als unzulässig zurückgewiesen hat, bzw. 2. nach dem Zeitpunkt, in dem die Partei von der Zulässigkeit eines Antrags auf Ausfertigung der Entscheidung gemäß § 29 Abs. 4 Kenntnis erlangt hat, beim Verwaltungsgericht zu stellen. Die versäumte Handlung ist gleichzeitig nachzuholen. Über den Antrag entscheidet das Verwaltungsgericht.

(5) Durch die Bewilligung der Wiedereinsetzung tritt das Verfahren in die Lage zurück, in der es sich vor dem Eintritt der Versäumung befunden hat.

(6) Gegen die Versäumung der Frist zur Stellung des Wiedereinsetzungsantrags findet keine Wiedereinsetzung statt.“

Für den gegenständlichen Fall bedeutet dies:

Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 33 VwGVG ist nur gegen die Versäumung einer verfahrensrechtlichen Frist zulässig. Es muss sich also um eine Frist handeln, durch die die Möglichkeit, in einem anhängigen Verwaltungsgerichtsverfahren eine Handlung mit prozessualen Rechtswirkungen (Verfahrenshandlung) zu setzen, zeitlich beschränkt wird, das heißt nach deren Ablauf die Verfahrenshandlung nicht mehr zulässig ist. Nach der restriktiveren Sicht des VfGH sind verfahrensrechtliche Fristen nur solche, die entweder durch ein Verfahren ausgelöst werden oder die in einem Verfahren laufen.

Am 30.09.2020 wurde im Anschluss an die öffentliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht die abweisende Entscheidung mündlich verkündet. Die Niederschrift wurde dem ASt ausgefolgt. Der ASt wurde über das Recht belehrt, binnen zwei Wochen nach Ausfolgung eine schriftliche Ausfertigung zu verlangen. Der ASt ließ die Frist ungenutzt verstreichen. Es wurde ihm eine gekürzte Ausfertigung zugestellt. In der Folge stellte der ASt einen Antrag auf Wiedereinsetzung.

Der ASt hat somit eine verfahrensrechtliche Frist versäumt (Antrag auf schriftliche Ausfertigung). Der Antrag auf Wiedereinsetzung wurde zeitgerecht gestellt und ist zulässig.

Nach § 33 Abs. 1 VwGVG setzt die Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand voraus, dass die Partei an der Versäumung der Frist oder der mündlichen Verhandlung kein Verschulden oder nur ein minderer Grad des Versehens trifft. Ein Verschulden der Partei (auch ein Mitverschulden [Hellbling 473 f]) steht der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand demnach nur dann entgegen, wenn es den „minderen Grad des Versehens“ übersteigt. Unter einem minderen Grad des Versehens ist nach der Judikatur der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts leichte Fahrlässigkeit iSd § 1332 ABGB zu verstehen (VwGH 17.05.1990, 90/06/0062; 19.05.1994, 94/18/0226; 13.12.2011, 2011/22/0301), die dann vorliegt, wenn dem Wiedereinsetzungswerber ein Fehler unterlaufen ist, den gelegentlich auch ein sorgfältiger Mensch begeht (VwGH 22.11.1996, 95/17/0112; 23.05.2001, 99/06/0039; 01.06.2006, 2005/07/0044; vgl auch VfGH 08.06.2017, E 532/2017; 11.10.2017, E 2959/2017; Hengstschläger/Leeb6 Rz 606; Schulev-Steindl6 Rz 357). Der Wiedereinsetzungswerber darf also nicht auffallend sorglos gehandelt haben, das heißt er darf die im Verkehr mit Behörden und für die Einhaltung von Terminen und Fristen erforderliche und ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt nicht außer Acht gelassen haben (VwGH 08.10.1990, 90/15/0134; 27.06.2008, 2008/11/0099; 08.10.2014, 2012/10/0100).

Nach der Rsp des VwGH müssen berufliche rechtskundige Parteienvertreter (insb Anwälte, Notare, Steuerberater) bei Erfüllung der Sorgfaltspflichten strengeren Anforderungen gerecht werden als sonstige (rechtsunkundige) Personen (VwGH 19.09.1991, 91/06/0067; 01.06.2006, 2005/07/0044; 31.05.2017, Ra 2017/22/0064; Hengstschläger/Leeb6 Rz 606; Schulev-Steindl6 Rz 357). Dies gilt nicht nur für das eigene Handeln, sondern auch hinsichtlich der Tätigkeit ihrer Mitarbeiter. Der rechtskundige Vertreter der Partei hat gegenüber der ihm als Hilfsapparat zur Verfügung stehenden Kanzlei alle Vorsorgen zu treffen, die notwendig sind, um die ordnungsgemäße Erfüllung der Aufgaben zu gewährleisten, welche ihm aus dem Bevollmächtigungsverhältnis obliegen (VwGH 22.05.1997, 96/21/1048; 20.01.1998, 97/05/0329; 08.10.2014, 2012/10/0100). Die berufsgebotenen Vorkehrungen betreffen vor allem die Organisation des Kanzleibetriebs (VwGH 22.09.1998, 98/17/0157; 04.09.2003, 2003/09/0108; 17.07.2008, 2008/20/0305) und die wirksame Überwachung der Angestellten in Bezug auf die Einhaltung der Fristen (VwGH 08.10.2014, 2012/10/0100), die Richtigkeit und Vollständigkeit von Eingaben an die Behörde, insb von Rechtsmitteln, aber auch von die Präklusion verhindernden Einwendungen etc (VwGH 26.01.1999, 98/02/0412; 16.09.2003, 2003/05/0160; 17.07.2008, 2008/20/0305).

Das Verschulden eines Bediensteten eines rechtskundigen Parteienvertreters kann aber nicht schlechterdings dem Verschulden des Vertreters oder der Partei gleichgehalten werden (VwGH 26.09.1990, 90/10/0062; 16.02.2004, 99/17/0202; 17.07.2008, 2008/20/0305; vgl auch Pichler, AnwBl 1990, 179). Es ist dem beruflichen rechtskundigen Vertreter selbst und – aufgrund des Bevollmächtigungsverhältnisses – letztlich der von ihm vertretenen Partei nur dann zuzurechnen, wenn der Vertreter die ihm zumutbare und nach der Sachlage gebotene Kontrolle der Tätigkeit der Mitarbeiter unterlassen hat (vgl VwGH 31.05.2012, 2012/06/0054; 26.04.2013, 2013/07/0045; 28.02.2014, 2014/03/0001) und damit seiner Überwachungspflicht nicht nachgekommen ist (vgl VwGH 22.09.1998, 98/17/0157; 23.06.2008, 2008/05/0081; 30.05.2017, Ra 2017/19/0113). Nur wenn der berufliche rechtskundige Vertreter die berufsgebotene Sorgfaltspflicht bei der Kontrolle der Evidenzhaltung und Wahrnehmung von Terminen und Fristen erfüllt hat, können Fehler und Irrtümer, die einer bisher objektiv geeigneten und bewährten Kanzleikraft unterlaufen und – nach einem Teil der Judikatur – eine durch die konkreten Umstände des Einzelfalls entschuldbare Fehlleistung darstellen, eine Wiedereinsetzung rechtfertigen (VwGH 26.07.1995, 95/20/0242; 26.07.2001, 2001/20/0402; 31.07.2006, 2006/05/0081). Dies hat der VwGH etwa in Bezug auf eine falsche Kalendierung (Donnerstag statt Dienstag) bejaht, die auf ein versehentliches einmaliges Umblättern des (objektiv geeigneten und bewährten) Kanzleiangestellten im Beisein eines Juristen in einem Kalender zurückzuführen war, der pro aufgeschlagener Seite zwei Kalendertage enthielt (VwGH 29.11.1994, 94/05/0199).

Besonderes Augenmerk hat der berufliche rechtskundige Parteienvertreter auf Irrtümer zu legen, deren Fehlergeneigtheit für jedermann, und damit insbesondere für ihn, leicht erkennbar ist. Solche Versehen drohen beispielsweise dann, wenn ein bereits unterfertigtes, aber fehlerhaftes Schriftstück nicht sofort nach Erstellen des fehlerfreien Exemplars aus dem Verkehr gezogen wird (VwGH 23.05.2001, 99/06/0039; vgl auch VwGH 27.04.2004, 2003/05/0174; 27.11.2014, Ra 2014/15/0009) oder wenn ein telefonischer Auftrag, etwa zu einer Eintragung ins Fristenbuch, mit Formulierungen erteilt wird, die eine Missinterpretation geradezu vorprogrammieren (VwGH 14.11.2002, 2001/09/0177). Auch wenn das Zustelldatum des Bescheides, gegen den der Anwalt Rechtsmittel erheben soll, der Kanzleikraft telefonisch übermittelt wird, sind Maßnahmen zur unmittelbaren Kontrolle der Richtigkeit der aufgenommenen Daten (zB schriftliche Bestätigung) zu treffen, da bei telefonischer Übermittlung Hör- oder andere Fehler und Missverständnisse nicht ausgeschlossen werden können (VwGH 26.05.1999, 99/03/0029; 23.03.2005, 2001/14/0021). Generell unterliegt das Zustelldatum einer besonderen Prüfpflicht, weil es für den Eintritt der formellen Rechtskraft und damit für das Ende von Fristen in Bezug auf die Erhebung von (ordentlichen und außerordentlichen) Rechtsmitteln von ausschlaggebender Bedeutung ist (VwGH 13.12.1989, 89/03/0091; 08.07.1992, 92/03/0093; 26.05.1999, 99/03/0029; siehe auch VwGH 27.04.2016, Ra 2016/05/0015; 31.05.2017, Ra 2017/22/0064).

Daher hat ein Parteienvertreter die eingehende Post täglich, bei Abwesenheit sofort nach Rückkehr (VwGH 08.07. 1992, 92/03/0093), sorgfältig zu kontrollieren, um Fehler bei der Anmerkung des Zustelldatums auszuschließen (VwGH 08.07.1992, 92/03/0093; 18.11.1992, 92/03/0104; 25.04.2001, 2001/03/0080). Hat er einen (verlässlichen) Mitarbeiter beauftragt, das Zustelldatum festzuhalten und die Rechtsmittelfrist zu berechnen, muss er, um ein Verschulden iSd § 71 Abs. 1 Z 1 AVG auszuschließen, selbst die Richtigkeit des Datums und der Fristberechnung nachprüfen (VwGH 28.11.2001, 2001/13/0224; 23.02.2005, 2001/14/0021; 20.12.2007, 2007/21/0043).

Nicht kann einem Anwalt der Vorwurf gemacht werden, er habe die berufsgebotene Überwachungspflicht vernachlässigt, wenn ein ansonsten verlässlicher Rechtsanwaltsanwärter am letzten Tag der Frist als letzter die Kanzlei verlassen und versehentlich ein Rechtsmittel zurückgelassen hat. Weil es sich dabei nach Ansicht des VwGH um ein unvorhergesehenes Ereignis iSd § 33 Abs 1 VwGVG handelt und die betraute Person nicht so auffallend sorglos vorgegangen ist, dass ihr ein über den minderen Grad des Versehens hinausgehendes Verschulden anzulasten wäre, ist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht ausgeschlossen (VwGH 17.09.1991, 91/05/0066).

Wie unter dem Punkt „Feststellungen“ bereits ausgeführt, wurde aufgrund einer Kurzschlussreaktion einer Mitarbeiterin des rechtsfreundlichen Vertreters unter Übersehen der korrekten Einbringungsstelle bei korrekter Nennung sowohl des BVwG als auch der Einbringungsart „Web ERV“ auf dem Spiegel des Schriftstücks der Antrag auf schriftliche Ausfertigung an die belangte Behörde gemailt. Dieses Verhalten stellt lediglich einen minderen Grad des einmaligen Versehens einer sonst äußerst verlässlichen und stets sorgfältigen Mitarbeiterin dar.

Es liegen keine Hinweise vor, dass die berufsgebotene Überwachungspflicht vernachlässigt worden wäre.

Durch die Bewilligung der Wiedereinsetzung tritt das Verfahren gemäß § 33 Abs. 5 VwGVG in die Lage zurück, in der es sich vor dem Eintritt der Versäumung befunden hat. Das bedeutet, dass alle nach dem Eintritt der Säumnis, d.h. nach Ablauf der versäumten Frist bzw. nach Beginn der versäumten Handlung im betroffenen Verfahren gesetzten behördlichen Verfahrensakte (z.B. mündliche Verhandlung, Verfahrensanordnungen, erlassene Bescheide) rückwirkend von Gesetzes wegen ihre Gültigkeit verlieren, also ex lege außer Kraft treten bzw. als nicht (mehr) existent anzusehen sind (vgl. VwSlg 4070 A/1956; 12.275 A/1986 verst. Sen; VwGH 30.06.2006, 2006/04/010; Antoniolli/Koja 822; Hellbling 478; Hengstschläger 3 Rz 620; Walter/Mayer Rz 632). Es wird fingiert, dass sie mit Rückwirkung auf den Zeitpunkt, in dem sie erlassen bzw. gesetzt wurden, vernichtet werden (Walter/Thienel AVG § 72 Anm. 2). Auch bereits in Rechtskraft erwachsene Bescheide treten mit Bewilligung der Wiedereinsetzung von Gesetzes wegen rückwirkend außer Kraft, ohne dass es einer ausdrücklichen Aufhebung bedarf (VwSlg 12.275 A/1986 verst Sen; VwGH 27.05.1993, 93/01/0367; 21.11.1994, 94/10/0156).

Dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand war daher spruchgemäß stattzugeben. Eine schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten Erkenntnisses wird dem ASt zu einem späteren Zeitpunkt zugestellt werden.

3. Entfall einer mündlichen Verhandlung:

Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. Gemäß Abs. 3 hat der Beschwerdeführer die Durchführung einer Verhandlung in der Beschwerde oder im Vorlageantrag zu beantragen. Den sonstigen Parteien ist Gelegenheit zu geben, binnen angemessener, zwei Wochen nicht übersteigender Frist einen Antrag auf Durchführung einer Verhandlung zu stellen. Ein Antrag auf Durchführung einer Verhandlung kann nur mit Zustimmung der anderen Parteien zurückgezogen werden. Gemäß Abs. 4 kann, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrages von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010 S. 389 entgegenstehen. Gemäß Abs. 5 kann das Verwaltungsgericht von der Durchführung (Fortsetzung) einer Verhandlung absehen, wenn die Parteien ausdrücklich darauf verzichten. Ein solcher Verzicht kann bis zum Beginn der (fortgesetzten) Verhandlung erklärt werden.

Der für diesen Fall maßgebliche Sachverhalt konnte als durch die Aktenlage hinreichend geklärt erachtet werden. In der Beschwerde wurden keine noch zu klärenden Tatsachenfragen in konkreter und substantiierter Weise aufgeworfen und war gegenständlich auch keine komplexe Rechtsfrage zu lösen (VwGH 31.07.2007, Zl. 2005/05/0080). Dem Absehen von der Verhandlung stehen hier auch Art 6 Abs. 1 EMRK und Art 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union nicht entgegen.

Zu Spruchteil B): Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), BGBl. Nr. 10/1985 idgF, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen.

Die oben in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des VwGH vertritt eine eindeutige und einheitliche Rechtsprechung, weshalb keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung vorliegt.

Schlagworte

Einbringungsstelle minderer Grad eines Versehens schriftliche Ausfertigung Wiedereinsetzung Wiedereinsetzungsantrag

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:G302.2224994.2.00

Im RIS seit

15.12.2020

Zuletzt aktualisiert am

15.12.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten