RS Vfgh 2020/12/2 UA3/2020

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Veröffentlicht am 02.12.2020
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Index

10/07 Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit

Norm

B-VG Art53
B-VG Art138b Abs1 Z4
GOG NR §106
VO-UA §24, §27, §58
VfGG §7 Abs1, §56f

Leitsatz

Verpflichtung der Bundesministerin für Justiz zur unabgedeckten (ungeschwärzten) Vorlage des Ton- und Bildmaterials des "Ibiza-Videos" sowie der dazugehörigen Transkripte an den Untersuchungsausschuss des Nationalrates betreffend die mutmaßliche Käuflichkeit der türkis-blauen Bundesregierung (Ibiza-Untersuchungsausschuss); grundsätzlicher und ergänzender Beweisbeschluss verpflichten zur Herausgabe näher definierter Akten und Unterlagen an den Untersuchungsausschuss, selbst wenn diese nach den Bestimmungen der StPO und der Rsp des OGH nicht zum (Ermittlungs-)Akt genommen werden dürfen; keine Rechtfertigung der Ablehnung der Vorlage durch pauschale Behauptung, dass bestimmte Akten und Unterlagen nicht vom Untersuchungsgegenstand erfasst seien sowie Erforderlichkeit einer Begründung für die fehlende abstrakte Relevanz der geschwärzten Passagen; Möglichkeit eines Konsultationsverfahrens zur Beseitigung bei Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Untersuchungsausschuss und der Bundesministerin auch bei – vermeintlich – nichtvorlagepflichtigen Aktenstücken

Rechtssatz

Die Erwägungen der Entscheidung VfSlg 19973/2015 zum Umfang der Verpflichtung zur Vorlage von Akten und Unterlagen sowie zu den sich daraus ergebenden Folgen bedeuten für den vorliegenden Fall, dass die von der Bundesministerin für Justiz angeführten Bestimmungen der StPO vor dem Hintergrund der behaupteten Möglichkeit der Verletzung von Persönlichkeitsrechten und der Gefährdung allfälliger Ermittlungen diese nicht von ihrer Verpflichtung zur unabgedeckten (ungeschwärzten) Vorlage des Ton- und Bildmaterials des "Ibiza-Videos" und der dazugehörigen Transkripte entbindet: Die Vorlage angeforderter Akten und Unterlagen kann nur unter Berufung auf Ausnahmetatbestände, die in Art53 B-VG ihre Grundlage haben, verweigert werden.

Art53 Abs3 B-VG verpflichtet zum einen ua die Organe des Bundes, ihre Akten und Unterlagen vorzulegen. Zur Feststellung des Umfangs der Vorlageverpflichtung ist aber auch die Interpretation des grundsätzlichen Beweisbeschlusses bzw ergänzender Beweisanforderungen erforderlich. Art53 Abs3 B-VG, interpretiert im Zusammenhang mit der Anforderung des grundsätzlichen und des ergänzenden grundsätzlichen Beweisbeschlusses, verpflichtet die vorlagepflichtige Stelle, alle dort näher definierten Akten und Unterlagen herauszugeben.

Dies bedeutet, dass die Bundesministerin für Justiz auch verpflichtet ist, Unterlagen vorzulegen, die nach den einschlägigen Bestimmungen der StPO und nach der Rsp des OGH nicht formal zum (Ermittlungs-)Akt genommen hätten werden dürfen oder worden sind. Im konkreten Fall sind die in Rede stehenden Akten und Unterlagen auch nicht vernichtet oder zurückgegeben worden. Es kommt nicht darauf an, ob das "Ibiza-Video" und die dazugehörigen Transkripte physisch im Bundesministerium für Justiz vorhanden sind, hat doch die Bundesministerin für Justiz gemäß §27 Abs2 VO-UA die Verpflichtung, Akten und Unterlagen vorzulegen, die sich auf die Tätigkeit der Strafverfolgungsbehörden beziehen; dies ungeachtet dessen, dass der grundsätzliche Beweisbeschluss und der ergänzende grundsätzliche Beweisbeschluss neben der Bundesministerin für Justiz (als Mitglied der Bundesregierung) auch die Organe der ordentlichen Gerichtsbarkeit (und damit auch die Staatsanwälte; vgl Art90a B-VG) als zur vollständigen Vorlage von Akten und Unterlagen im Umfang des Untersuchungsgegenstandes "grundsätzlich" binnen vier Wochen verpflichtet nennt.

Die Beurteilung der Vorlageverpflichtung und damit der Frage, ob für den Untersuchungsausschuss angeforderte Akten und Unterlagen gemäß Art53 Abs3 B-VG vom Untersuchungsgegenstand erfasst sind, obliegt zunächst dem informationspflichtigen Organ. Eine Ablehnung der Vorlage erfordert vom vorlagepflichtigen Organ die Behauptung, dass der sachliche Geltungsbereich von Art53 Abs3 B-VG mangels Vorliegens eines Zusammenhanges mit dem Untersuchungsgegenstand nicht gegeben ist. Der pauschale Verweis allein darauf, dass bestimmte Akten und Unterlagen nicht vom Untersuchungsgegenstand erfasst seien, kann das Zurückhalten von Informationen allerdings nicht rechtfertigen. Neben der Behauptungspflicht trifft das Organ auch eine auf die einzelnen Akten und Unterlagen näher bezogene, substantiierte Begründungspflicht für die fehlende (potentielle) abstrakte Relevanz der abgedeckten (geschwärzten) Passagen.

Das den Art53 Abs3 und Art138b Abs1 Z4 B-VG zugrunde liegende und in §27 VO-UA sowie in §56f VfGG näher ausgestaltete Konzept des (Verfassungs-)Gesetzgebers - trotz fehlender Definition des Begriffes Meinungsverschiedenheit für Verfahren nach Art138b Abs1 Z4 B-VG - lässt deutlich erkennen, dass der VfGH angerufen werden kann, um die Klärung einer konkreten Meinungsverschiedenheit, im vorliegenden Fall der unterschiedlichen Auffassung hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der gegenüber dem Untersuchungsausschuss vorgebrachten Begründung für die teilweise oder gänzliche Ablehnung der unabgedeckten (ungeschwärzten) Vorlage bestimmter Akten und Unterlagen an einen Untersuchungsausschuss, herbeizuführen. Vor dem Hintergrund der Verpflichtung des VfGH gemäß §56f Abs3 VfGG, über eine Meinungsverschiedenheit ua zwischen einem Untersuchungsausschuss des Nationalrates und einem informationspflichtigen Organ über die Verpflichtung, dem Untersuchungsausschuss Informationen zur Verfügung zu stellen, auf Grund der Aktenlage und ohne unnötigen Aufschub (tunlichst binnen vier Wochen nach vollständiger Einbringung des Antrages) zu entscheiden, sowie der befristeten Tätigkeit eines Untersuchungsausschusses (vgl §53 VO-UA) hat das vorlagepflichtige Organ seiner bestehenden Behauptungs- und Begründungspflicht für die fehlende (potentielle) abstrakte Relevanz der abgedeckten (geschwärzten) Passagen für den Untersuchungsgegenstand bereits gegenüber dem Untersuchungsausschuss und nicht erst im Verfahren vor dem VfGH diesem gegenüber nachzukommen, um zunächst dem Untersuchungsausschuss eine Überprüfung und allfällige Bestreitung der Argumentation zu ermöglichen und diese einer etwaigen verfassungsgerichtlichen Nachprüfung unterziehen zu können.

Die mit dem vorliegenden Erkenntnis ausgesprochene Vorlageverpflichtung der Bundesministerin für Justiz, das sich auf eine konkrete Meinungsverschiedenheit bezieht und diese entscheidet, hindert die Bundesministerin für Justiz nicht daran, in weiterer Folge beim Vorsitzenden des Ibiza-Untersuchungsausschusses die Aufnahme eines Konsultationsverfahrens nach §58 VO-UA zu verlangen, wenn sie dies für erforderlich erachten sollte. Etwaige Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Untersuchungsausschuss und der Bundesministerin für Justiz in diesem Zusammenhang können - bei Vorliegen sämtlicher Voraussetzungen - zum Gegenstand eines Verfahrens vor dem VfGH nach Art138b Abs1 Z6 B-VG gemacht werden.

Entscheidungstexte

Schlagworte

VfGH / Untersuchungsausschuss, Nationalrat, Auslegung verfassungskonforme, Amtsverschwiegenheit, Verschwiegenheitspflicht, Datenschutz

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2020:UA3.2020

Zuletzt aktualisiert am

06.04.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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