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10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
AsylG 2005 §60 Abs3 Z1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Friedwagner, über die Revision des R N in F, vertreten durch die Weh Rechtsanwalt GmbH, Dr. Wilfried Ludwig Weh, Mag. Stefan Harg, 6900 Bregenz, Wolfeggstraße 1, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26. Juli 2019, W182 2119573-3/17E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Begleitaussprüchen sowie eines befristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber reiste mit seiner Ehefrau und ihren vier gemeinsamen, 2000, 2002 und 2005 (Zwillingssöhne) geborenen Kindern am 5. November 2012 in das Bundesgebiet ein. Die Genannten sowie ein weiterer, am 30. April 2015 in Österreich geborener Sohn, jeweils russische Staatsangehörige, beantragten die Gewährung von internationalem Schutz. Diese Anträge wies zuletzt das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom 10. Juli 2015 - Asyl und internationalen Schutz betreffend - als unbegründet ab, wies die Verfahren im Übrigen jedoch gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung oder der Erteilung eines Aufenthaltstitels bzw. gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides (jüngster Sohn) an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zurück.
2 In diesen Verfahren sprach das BVwG im Beschwerdeweg mit - unbekämpft gebliebenem - Erkenntnis vom 30. Mai 2017 (schriftliche Ausfertigung am 17. Juli 2017) insbesondere aus, dass eine Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat, die Russische Föderation, „gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG“ auf Dauer für unzulässig erklärt werde sowie den vorgenannten Personen jeweils Aufenthaltstitel (dem Revisionswerber der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“) erteilt werden.
Begründet wurde dies im Wesentlichen mit der guten Integration der zum Teil in Österreich fest verwurzelten und in einem nicht mehr anpassungsfähigen Alter befindlichen (älteren) Kinder. Eine Beendigung des von den Angehörigen gemeinsam in Österreich geführten Familienlebens erscheine demnach unzulässig.
3 Mit Bescheid vom 21. Jänner 2019 erließ das BFA gegen den Revisionswerber gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG stellte das BFA fest, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei, gewährte ihm gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise und erkannte einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung nach § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung ab. Gemäß § 53 Abs. 1 und Abs. 3 Z 9 FPG erließ es gegen den Revisionswerber ein auf die Dauer von sechs Jahren befristetes Einreiseverbot.
4 Mit dem angefochtenen, nach mündlicher Verhandlung vom 2. April 2019 erlassenen Erkenntnis vom 26. Juli 2019 setzte das BVwG über Beschwerde des Revisionswerbers die Dauer des Einreiseverbotes auf vier Jahre herab und wies im Übrigen die Beschwerde als unbegründet ab. Allerdings bestimmte es gemäß § 55 Abs. 2 FPG eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung. Das BVwG sprach schließlich gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
5 Begründend legte das BVwG seiner Entscheidung einen Bericht des Landesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung Vorarlberg (LVT) vom 5. Juni 2018 zugrunde. Danach habe der Revisionswerber intensive Kontakte zu Personen - insbesondere auch zu Führungspersonen - der extremistischen Salafistenszene Vorarlbergs gepflogen, welche die Grundwerte des österreichischen Staates verachtete.
6 Weiters traf das BVwG folgende Feststellungen:
„Der Revisionswerber ist im Wesentlichen gesund und arbeitsfähig. In Österreich halten sich aufgrund eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 die Gattin, die beiden Töchter im Alter von 18 bzw. 16 Jahren, drei Söhne im Alter von 13 und 4 Jahren auf. Sie sind alle russische Staatsangehörige und gehören der tschetschenischen Volksgruppe an. Sie leben im gemeinsamen Haushalt. Auch im Herkunftsland verfügt der Revisionswerber über ein familiäres Netz (Eltern, Geschwister).
Dem Revisionswerber wurde zwischenzeitig mit Beschluss eines Bezirksgerichtes vom Juni 2016 gemäß § 181 ABGB die Obsorge für seine jüngste Tochter einstweilig entzogen. Hintergrund waren behauptete schwere Gewaltvorwürfe der Tochter gegen den Vater in Zusammenhang mit deren Weigerung, ein Kopftuch zu tragen. Mit Verfügung einer Staatsanwaltschaft vom August 2016 wurde das Ermittlungsverfahren gegen den Revisionswerber wegen § 105 StGB und andere Delikte zum Nachteil der jüngsten Tochter gemäß § 190 Z 2 StPO eingestellt, da ein Schuldnachweis nicht möglich war. Mit Beschluss des Bezirksgerichtes vom Jänner 2017 wurde die dem Revisionswerber einstweilig entzogene Obsorge wieder übertragen.
Der Revisionswerber war von 2015 bis zumindest August 2018 regelmäßiger Besucher des muslimischen Moschee-Verein Ummet, wobei er diesen Verein nicht nur zum Beten aufgesucht, sondern auch intensive Kontakte zu den Mitgliedern gepflegt hat. Der Verein ist der extremistischen Salafistenszene in Vorarlberg zuzurechnen und wurde im Herbst 2018 aufgelöst. Dem Revisionswerber muss die politisch-salfistische Ausrichtung des Vereins bekannt gewesen sein. Die Moschee war Ausgangspunkt für Vorarlberger Aktivitäten im Rahmen der ‚Lies!-Kampagne‘. Gegen mehrere Mitglieder wurden Anzeigen wegen Verdacht der Mitgliedschaft zu einer Terroristischen Vereinigung gem. § 278b StGB erhoben, wobei die Verfahren inzwischen von der Staatsanwaltschaft eingestellt wurden. Ein Vereinsmitglied ist bei Kampfhandlungen in Syrien getötet worden. Der Revisionswerber hat auch bereits seine Söhne in den Verein mitgenommen. Es ist davon auszugehen, dass der Revisionswerber eine extremistisch-salafistische Gesinnung, die als staatsfeindlich zu bewerten ist, vertritt.
Dem Gericht lagen zum Zeitpunkt der Erteilung der ‚Aufenthaltsberechtigung‘ Ende Mai 2017 keine Anhaltspunkte für eine konkrete Nahbeziehung des Revisionswerbers zu einem extremistisch-salafistischen Verein vor. Es liegen auch keine Hinweise dafür vor, dass das Bundesamt zu diesem Zeitpunkt Kenntnis von einer derartigen Nahbeziehung verfügte.
Der Revisionswerber ist unbescholten. Er wurde im Vorjahr mit Bescheid einer Bezirkshauptmannschaft wegen Lenken eines Kraftfahrzeuges ohne zulässige Lenkerberechtigung rechtskräftig mit einer Geldstrafe bestraft.
Der Revisionswerber ist bis auf nicht ganz zwei Monate sonst keiner legalen Erwerbstätigkeit in Österreich nachgegangen. Der Revisionswerber konnte Deutschkenntnisse auf Niveau A1 nachweisen.
Es kann nicht festgestellt werden, dass die Revisionswerber nach einer Rückkehr ins Herkunftsland mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevanten Übergriffen ausgesetzt ist. Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass diese konkrete Gefahr liefen, in ihrem Herkunftsstaat aktuell der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden.“
7 Rechtlich bejahte das BVwG das Vorliegen der Voraussetzungen für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 4 FPG, weil der Revisionswerber eine Nahebeziehung zum Personenkreis eines islamistisch - extremistischen Moscheevereins gepflogen habe und davon auszugehen sei, dass er dessen Gedankengut (teilweise Ablehnung der Wertvorstellungen eines europäischen demokratischen Staates) billige und unterstütze. Er sei „zumindest Sympathisant und Unterstützer“ dieses Vereins gewesen, in dessen Umfeld extremistische oder terroristische Aktivitäten nicht ausgeschlossen werden könnten. Auch nach Schließung des Vereins im Herbst 2018 gehe vom Revisionswerber eine entsprechende schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit aus. Es sei daher nachträglich ein Versagungsgrund gemäß § 60 „Abs. 4“ Z 1 erster Fall AsylG 2005 eingetreten oder bekannt geworden, der der Erteilung des zuletzt erteilten Aufenthaltstitels entgegengestanden wäre. Auch lägen die Voraussetzungen für die Verhängung eines Einreiseverbotes nach § 53 Abs. 3 Z 9 FPG vor.
8 In seiner Abwägung nach § 9 BFA-VG berücksichtigte das BVwG insbesondere, dass der Revisionswerber Deutschkenntnisse nur auf dem Niveau A1 aufweise und eine Einvernahme ohne Dolmetscher nicht möglich gewesen sei. Er sei „bis auf nicht ganz zwei Monate“ keiner legalen Erwerbstätigkeit nachgegangen. Obwohl er gesund und arbeitsfähig sei, fehle somit die Selbsterhaltungsfähigkeit. Mit der Möglichkeit einer Reintegration im Herkunftsstaat, wo er den Großteil seines Lebens verbracht habe und die Landessprache beherrsche, sei zu rechnen.
9 Im Hinblick auf die Verwirklichung des Einreiseverbots-Tatbestandes des § 53 Abs. 3 Z 9 FPG sei die Trennung von seiner Familie in Kauf zu nehmen. Das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung überwiege nämlich die persönlichen Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib im Bundesgebiet.
10 Da er im Verein Ummet jedoch keine offizielle Funktion wahrgenommen habe und sich seine gesamte Kernfamilie rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte, sei die Dauer des Einreiseverbotes auf das angemessene Maß von vier Jahren herabzusetzen gewesen.
11 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde vor dem Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom 25. Februar 2020, E 3409/2019, ablehnte und sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
12 Die in der Folge ausgeführte Revision erweist sich als unzulässig.
Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision nur zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
13 An den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes nach § 25a Abs. 1 VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision unter dem genannten Gesichtspunkt nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a erster Satz VwGG). Zufolge § 28 Abs. 3 VwGG hat allerdings die außerordentliche Revision gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird. Im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe hat der Verwaltungsgerichtshof dann die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).
14 Unter diesem Gesichtspunkt macht der Revisionswerber geltend, das BVwG schweige „seine eigene Entscheidung vom 17.7.2017 vollkommen tot“, weder werde diese zitiert, noch setze sich das BVwG mit ihr inhaltlich auseinander.
15 Dieses Vorbringen ist mit der Begründung des BVwG (siehe Rn. 6) sowie mit der Aktenlage nicht in Einklang zu bringen. Außerdem begründet die festgestellte Zugehörigkeit des Revisionswerbers zur Salafistenszene und deren Beurteilung als ein Naheverhältnis zu einer extremistischen Gruppierung iSd § 53 Abs. 3 Z 9 FPG einen Umstand, aus dem gemäß § 52 Abs. 4 FPG die nunmehrige Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung sowie eines Einreiseverbotes abgeleitet werden durfte.
16 Die in diesem Zusammenhang vorgenommene Beweiswürdigung des BVwG, das sich zentral auf verschiedene Berichte des LVT und von diesem vorgelegtes Bildmaterial stützte und daneben - im Einklang mit diesen Berichten - auch die geringe im Bundesgebiet erzielte Integration des Revisionswerbers, der insgesamt „nicht den Eindruck besonderer Naivität“ erweckt habe, als Indiz für die angenommene Gesinnung annahm, ist nicht als unschlüssig anzusehen. Der erkennende Richter hat sich nämlich auch einen persönlichen Eindruck vom Revisionswerber in der mündlichen Verhandlung verschafft. Die Beweiswürdigung ist daher vom Verwaltungsgerichtshof nicht zu beanstanden (vgl. dazu etwa - zum ähnlichen Tatbestand des § 10 Abs. 2 Z 7 StbG - VwGH 25.9.2018, Ra 2018/01/0325, Rn. 31, und VwGH 4.4.2019, Ra 2019/01/0083, Rn. 30, jeweils mwN).
17 Weiters releviert der Revisionswerber eine „Verleugnung der Unschuldsvermutung“ und verweist in diesem Zusammenhang auf das Fehlen einer rechtskräftigen Verurteilung nach § 278b StGB.
18 Dem ist zu entgegnen, dass die vom BFA und BVwG herangezogenen Bestimmungen des § 53 Abs. 3 Z 9 FPG und des § 60 Abs. 3 Z 1 AsylG 2005 (und ebenso § 11 Abs. 4 Z 2 NAG) das Vorliegen einer solchen rechtskräftigen Verurteilung nicht erfordern. Die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Normen wurden vom BVwG - entgegen der Revision - noch ausreichend deutlich als erwiesen angenommen.
19 Soweit sich der Revisionswerber unter Hinweis auf das intensive in Österreich geführte Familienleben gegen die Interessenabwägung des BVwG wendet, ist ihm zu entgegnen, dass eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalles in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie (wie hier) auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel ist (vgl. etwa VwGH 16.7.2020, Ra 2020/21/0184, Rn. 10, mwN).
20 Davon ist hier (vgl. dazu auch den in diesem Fall ergangenen Ablehnungsbeschluss VfGH 25.2.2020, E 3409/2019) auszugehen. Das vom BVwG nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung fallbezogen erzielte Ergebnis kann nämlich angesichts des erheblichen, jahrelang fortgesetzten und in § 53 Abs. 3 Z 9 FPG typisierten Fehlverhaltens sowie unter Berücksichtigung der geringen im Bundesgebiet erreichten Integration trotz der starken familiären Anknüpfungspunkte nicht als unvertretbar angesehen werden. Dem in der Revision zitierten Erkenntnis VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0128, lag insoweit eine andere Sachverhaltskonstellation zugrunde.
21 In der Revision werden somit insgesamt keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen iSd Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Sie war daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.
Wien, am 19. November 2020
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020210125.L00Im RIS seit
11.01.2021Zuletzt aktualisiert am
11.01.2021