TE Vwgh Erkenntnis 2020/11/19 Ra 2020/21/0088

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Veröffentlicht am 19.11.2020
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
10/07 Verwaltungsgerichtshof
24/01 Strafgesetzbuch
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AVG §56
FrPolG 2005 §46a Abs1 Z1
FrPolG 2005 §52 Abs5
FrPolG 2005 §59 Abs4
FrPolG 2005 §67
StGB §21 Abs1
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §17
VwRallg

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Friedwagner, über die Revision des D B in A, vertreten durch Dr. Stella Spitzer-Härting, Rechtsanwältin in 1080 Wien, Hamerlingplatz 7/14, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Jänner 2020, G313 2219145-1/3E, betreffend insbesondere Rückkehrentscheidung und Einreiseverbot (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Serbiens, wurde am 12. September 1989 in Österreich geboren und hält sich seitdem im Bundesgebiet auf. Seit dem 9. Juni 2006 verfügt er über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt-EU“.

2        Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 19. April 2018 wurde der Revisionswerber gemäß § 21 Abs. 1 StGB in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. Dem lag dem Urteilsspruch zufolge zugrunde, dass der Revisionswerber am 27. Juni 2017 unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes, der auf einer geistigen und seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruhe, nämlich einer paranoiden Schizophrenie, den S. B. gefährlich mit dem Tod bedroht habe, um diesen in Furcht und Unruhe zu versetzen, indem er ein Messer aus dem Holster gezogen und gesagt habe, er werde ihn abstechen. Dadurch habe der Revisionswerber eine Tat begangen, die ihm außer diesem Zustand als das mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedrohte Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 und 2 StGB zuzurechnen gewesen wäre, wobei nach seiner Person, seinem Zustand und nach der Art der Tat zu befürchten sei, dass er sonst (ohne Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher) unter Einfluss seiner geistigen und seelischen Abartigkeit in Zukunft mit Strafe bedrohte Handlungen mit schweren Folgen begehen werde.

3        Im Hinblick darauf erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 12. April 2019 gegen den Revisionswerber gemäß § 52 Abs. 5 FPG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung und gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von vier Jahren befristetes Einreiseverbot. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG stellte das BFA unter einem fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Serbien gemäß § 46 FPG zulässig sei. Des Weiteren wurde gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt und einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt.

4        Der dagegen erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 14. Jänner 2020 insofern teilweise statt, als gemäß § 46 FPG iVm § 50 Abs. 1 FPG und Art. 3 EMRK festgestellt wurde, dass eine Abschiebung nach Serbien unzulässig sei und gemäß § 46a Abs. 1 Z 2 (gemeint wohl Z 1) FPG der Aufenthalt des Revisionswerbers geduldet sei, solange dessen Abschiebung gemäß § 50 Abs. 1 FPG unzulässig sei. Außerdem wurde die Dauer des Einreiseverbotes auf ein Jahr herabgesetzt. Im Übrigen wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde als unbegründet ab.

5        Das Bundesverwaltungsgericht stellte zusammengefasst fest, dass der Revisionswerber seit 2010 an paranoider Schizophrenie sowie an Polytoxikomanie (gleichzeitiger Konsum von verschiedenen psychotrop wirkenden Substanzen über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten) und einer Epilepsie leide, wobei er bereits jahrelang keinen Anfall mehr gehabt habe. Bis 2013 habe der Revisionswerber mit seiner Mutter im gemeinsamen Haushalt gewohnt. Danach sei er in eine eigene Gemeindewohnung gezogen, in welcher er mobile Betreuung durch geeignetes Personal erhalten habe. Seine Mutter habe sich weiterhin um ihn gekümmert. Mit Ausbruch der schweren Geisteskrankheit des Revisionswerbers sei es zu einer sozialen Desintegration gekommen. Er habe sich mehr und mehr von seinem sozialen, stützenden System entfernt und nirgends mehr integriert werden können. Der Versuch des Revisionswerbers, nach dem Pflichtschulabschluss auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, sei gescheitert, die begonnene Einzelhandelslehre habe er wieder abgebrochen. Durch Abwäschertätigkeiten habe er sich einen Führerschein und ein Auto finanzieren können, seine Arbeit im Jahr 2010 nach Ausbruch seiner Geisteskrankheit jedoch beendet. Seither beziehe der Revisionswerber Invaliditätspension. Da er gesundheitsbedingt bestimmte Angelegenheiten nicht mehr selbst erledigen habe können, sei für ihn mit Gerichtsbeschluss vom 4. September 2015 ein Sachwalter (nunmehr Erwachsenenvertreter) bestellt worden. Der Revisionswerber habe sich mehrmals in der psychiatrischen Abteilung eines Spitals stationär aufgehalten, nachweislich im Jahr 2017 insgesamt viermal, und er sei wegen seiner Erkrankung von 2010 bis 2018 auch in einem sozialpsychiatrischen Ambulatorium fachärztlich behandelt und sozialarbeiterisch betreut worden. Parallel dazu sei es zu Alkohol- und Cannabismissbrauch gekommen. Die Behandlung des Revisionswerbers habe nicht zu einer nachhaltigen Stabilisierung führen können, weil er sich gegen eine bestimmte Behandlungsmethode, die aus fachärztlicher Sicht zu einer dauerhaften gesundheitlichen Stabilisierung beitragen hätte können, gewehrt habe. Nach Begehung der gefährlichen Drohung im Juni 2017 sei ein forensisch-psychiatrisches Sachverständigengutachten eines Facharztes für Psychiatrie und Neurologie eingeholt worden und auf dieses gestützt im April 2018 die strafgerichtliche Verurteilung des Revisionswerbers mit Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher erfolgt, in der er seit September 2018 gemeldet sei und sich nach wie vor aufhalte.

6        In rechtlicher Hinsicht führte das Bundesverwaltungsgericht die Rückkehrentscheidung betreffend zusammengefasst aus, dass die Einlieferung des Revisionswerbers in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher, in welcher er sich nach wie vor aufhalte, die Annahme rechtfertige, dass nach § 52 Abs. 5 iVm § 53 Abs. 1 und 6 FPG ein weiterer Aufenthalt des Revisionswerbers im Bundesgebiet eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellen würde. Während seiner 30-jährigen Aufenthaltsdauer habe der Revisionswerber zwar einige, jedoch krankheitsbedingt keine nachhaltigen Integrationsschritte im Bundesgebiet setzen können. Es könne nicht erkannt werden, dass die Beziehung des Revisionswerbers zu seiner Mutter und den übrigen in Österreich aufhältigen Familienangehörigen „Art. 8 EMRK-Intensität“ erreichen würde. Sonstige soziale Bindungen des Revisionswerbers in Österreich bestünden nicht. Die der strafgerichtlichen Verurteilung vom April 2018 zugrundeliegenden strafbaren Handlungen würden in der Interessenabwägung stark zu seinen Ungunsten wiegen, vor allem auch deswegen, weil laut vom Sachverständigen abgegebener forensisch-psychiatrischer Kriminalprognostik Risikofaktoren wie fehlende Kontrollfunktion durch soziale Beziehungen bestünden, die erneute Gewalthandlungen des Revisionswerbers begünstigen könnten. In einer Gesamtbetrachtung würden die öffentlichen Interessen an der Erlassung einer Rückkehrentscheidung bei Weitem überwiegen.

7        Zur Feststellung, dass eine Abschiebung des Revisionswerbers nach Serbien unzulässig und er gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 FPG (vorübergehend) geduldet sei, führte das Bundesverwaltungsgericht nach einleitendem Hinweis auf § 52 Abs. 9 FPG aus, dass der Revisionswerber bei einer „aktuellen Abschiebung“ aus seinem ihn stabilisierenden Betreuungsumfeld herausgerissen würde. In Serbien gebe es keine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher. Folglich werde „die Anhaltung des [Revisionswerbers] in dieser Anstalt ... nach § 46a Abs. 1 Z 1 FPG im Bundesgebiet geduldet“, dies jedoch nur so lange, bis sich sein psychischer Gesundheitszustand derart verbessert habe, dass aus fachärztlicher Sicht keine Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher mehr notwendig sei. Abgesehen vom Abschiebungshindernis einer in Serbien fehlenden geeigneten Unterbringungsmöglichkeit in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher sei für den Revisionswerber kein weiteres Abschiebungshindernis erkennbar. Den zugrunde gelegten Länderberichten zufolge gebe es eine hinreichende Behandlungsmöglichkeit für paranoide Schizophrenie. Zudem gebe es in Serbien die Möglichkeit, sich durch einen Vormund vertreten zu lassen, der das Vermögen verwalte und „Vertretungsangelegenheiten“ durchführe. Arbeitsunfähige Personen bzw. Personen mit nicht hinreichenden Mitteln zur Bestreitung des Lebensunterhalts hätten Anspruch auf Sozialhilfeleistungen. Bei Bedarf könnte der Revisionswerber auch durch humanitäre Organisationen unterstützt werden.

8        Zum Einreiseverbot erwog das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen, der Sachverständige habe im forensisch-psychiatrischen Gutachten vom Jänner 2018 ausdrücklich auf die vom Revisionswerber durch seine Geisteskrankheit ausgehende Gefahr hingewiesen und in der Strafverhandlung im April 2018 davon gesprochen, dass eine bedingte Nachsicht der Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher aufgrund der schweren Krankheitssymptome, der damit einhergehenden hohen Gefährlichkeit und prognostisch ungünstiger Faktoren wie Drogenabusus und mangelnder Krankheits- und Behandlungseinsicht nicht in Betracht komme; eine längerfristige medikamentöse und psychiatrische/psychologische Betreuung in einem geschlossenen psychiatrischen Krankenhaus sei demnach notwendig, um die einweisungsrelevante Gefährlichkeit in Zukunft hintanzuhalten. Das Vorbringen in der Beschwerde, es sei bereits während des Strafverfahrens des Revisionswerbers von einer Betreuungseinrichtung eine Betreuungszusage mit Aufnahme in eine bestimmte Wohnform abgegeben worden, könne daher „nicht berücksichtigt werden“. Auch einer fachärztlichen Stellungnahme vom Jänner 2019 zufolge sei zur psychischen Stabilisierung des Revisionswerbers noch eine weitere medikamentöse bzw. psychiatrische Behandlung in einem geschlossenen Betreuungssystem bzw. die Beobachtung des mit der Betreuung einhergehenden Gesundheitszustandes in der Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher unbedingt notwendig. Die derzeit aus fachärztlicher Sicht notwendige weitere Anhaltung des Revisionswerbers in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher stehe somit fest. Zudem habe der Sachverständige in der Strafverhandlung im April 2018 ausgeführt, dass der Revisionswerber einer Tätergruppe zuzuordnen sei, die ein hohes Risiko für neuerliche strafbare Handlungen mit schweren Folgen, nämlich qualifizierte Todesdrohungen, aber auch schwere Körperverletzungen bis hin zu Tötungsdelikten aufweise. Selbst bei einer Entlassung des Revisionswerbers aus der Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher könne die Gefahr neuerlicher Gewalttaten nicht ausgeschlossen werden, zumal eine dauerhafte psychische Stabilisierung einer Heilung nicht gleichgehalten werden könne und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit - früher oder später - mit weiteren strafbaren Handlungen des laut Sachverständigen krankheits- und behandlungsuneinsichtigen Revisionswerbers zu rechnen sei. Es sei daher von keiner positiven Zukunftsprognose und auch bei einer Entlassung aus der Anstalt von einer fortgesetzten Gefahr neuerlicher strafbarer Handlungen gegen Leib und Leben auszugehen. Aufgrund des bereits 30jährigen Aufenthaltes des Revisionswerbers in Österreich seit Geburt und der im Bundesgebiet vorhandenen, wenngleich aufgrund der krankheitsbedingten sozialen Desintegration nunmehr als schwach ausgeprägt zu wertenden privaten Bindungen werde jedoch eine Herabsetzung des vom BFA ausgesprochenen Einreiseverbotes auf die Dauer von einem Jahr für gerechtfertigt gehalten.

9        Die Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG entfallen können, weil der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheine.

10       Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:

11       Die Revision erweist sich schon deshalb als zulässig und berechtigt, weil das Bundesverwaltungsgericht - wie in der Zulässigkeitsbegründung aufgezeigt wird - einerseits bei seiner Gefährdungsprognose im Ergebnis nicht ausreichend auf den maßgeblichen Zeitpunkt der (hypothetischen) Entlassung des Revisionswerbers aus der Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher abgestellt und sich andererseits bei der Interessenabwägung nicht im Rahmen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gehalten hat.

12       Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits zum Ausdruck gebracht, dass für die Frage, ob ein Einreiseverbot erlassen werden dürfe, vom Verwaltungsgericht auf den Zeitpunkt der hypothetischen Ausreise bzw. der Durchsetzbarkeit der Rückkehrentscheidung abzustellen ist (siehe dazu VwGH 15.12.2011, 2011/21/0237, Punkt 2.2. der Entscheidungsgründe; zu Aufenthaltsverboten vgl. VwGH 29.9.2020, Ra 2020/21/0297, Rn. 9). Gemäß § 59 Abs. 4 FPG ist der Eintritt der Durchsetzbarkeit der Rückkehrentscheidung aber für die Dauer eines Freiheitsentzuges aufgeschoben, auf den wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung erkannt wurde. Das gilt sinngemäß auch für die Dauer der gemäß § 21 Abs. 1 StGB verfügten Anhaltung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher (vgl. nochmals VwGH 29.9.2020, Ra 2020/21/0297, Rn. 9, mwN). Vor allem bei der Gefährdungsprognose wäre daher vom Bundesverwaltungsgericht auf den Zeitpunkt der (hypothetischen) Entlassung des Revisionswerbers aus der Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher abzustellen gewesen. Entscheidend für die diesbezügliche Beurteilung ist, ob dann etwa eine Behandlung und Medikation Gewähr dafür bieten, dass eine Gefährdung auf Grund der psychischen Erkrankung künftig auszuschließen sein wird (vgl. etwa VwGH 3.7.2018, Ra 2018/21/0081, Rn. 8, mwN, und daran anschließend VwGH 20.12.2018, Ra 2018/21/0112, Rn. 9).

13       Insoweit wäre aber - entgegen der Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts - auch dem Beschwerdevorbringen, wonach eine Zusage zur Aufnahme in eine betreute Wohnform vorliege, Bedeutung zugekommen, war doch der bisherige negative Krankheitsverlauf nach den Feststellungen maßgeblich dem Umstand geschuldet, dass es an einem Setting mit Kontrollfunktion fehlte, welches eine Betreuungseinrichtung aber gewährleisten könnte. Demgegenüber stützte sich das Bundesverwaltungsgericht vor allem auf das der Unterbringung gemäß § 21 Abs. 1 StGB zugrunde liegende forensisch-psychiatrische Gutachten aus dem Jänner 2018, welches jedoch von einem weitgehend unbehandelten Zustand des Revisionswerbers ausgeht und schon deshalb nicht zur Darlegung der bei der Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug relevanten Gefährdung ausreicht.

14       Aber auch die Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG erweist sich als fehlerhaft. Insoweit ist vor allem zu bemängeln, dass das Bundesverwaltungsgericht dem Umstand, dass der Revisionswerber schon in Österreich geboren wurde, seither durchgehend hier niedergelassen war und damit auch den ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 2 BFA-VG idF vor dem FrÄG 2018 erfüllt hätte (vgl. dazu, dass die darin enthaltenen Wertungen im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG weiter beachtlich sind - in Bezug auf die Z 1 des § 9 Abs. 4 BFA-VG - zuletzt etwa VwGH 16.7.2020, Ra 2019/21/0335, Rn. 13, mit Verweis auf VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0238, Rn. 12), keine ausreichende Beachtung geschenkt hat.

15       Vor dem Hintergrund der psychischen Erkrankung des Revisionswerbers kommt vor allem auch der mit dem Aufenthalt in Österreich seit seiner Geburt einhergehenden mangelnden sozialen und familiären Verankerung in Serbien besondere Bedeutung zu. So ist der Revision darin zuzustimmen, dass offen bleibt, ob der Revisionswerber ohne ein unterstützendes Umfeld in Serbien zu allenfalls zur Verfügung stehenden Leistungen (Sozialhilfe, medizinische Betreuung) tatsächlich Zugang hätte. Zutreffend moniert die Revision auch die unterbliebene Auseinandersetzung des Bundesverwaltungsgerichts mit einer Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 8. September 2017, auf welche sich bereits das Beschwerdevorbringen bezogen hatte und die ein bedenkliches Bild für Personen vom Profil des Revisionswerbers (keine soziale Anbindung in Serbien) zeichnet. Danach erhielten die Patienten besonders im Fall einer Langzeitbehandlung, mangels eines gut entwickelten Systems zur Rehabilitation und Resozialisierung, hauptsächlich nur eine medikamentöse Behandlung. Weiters seien Behandlungen in Form von psychotherapeutischen Wohngemeinschaften und einer Betreuung zu Hause durch eine psychiatrische Krankenschwester nicht verfügbar, weshalb zum Beispiel psychiatrisch erkrankte Patienten mit ungenügender sozialer Unterstützung (z.B. keine Familie oder keine Unterstützung seitens der Familie, Mangel an Einkommen) oft in speziellen psychiatrischen Krankenhäusern im Rahmen eines dauerhaften Krankenhausaufenthaltes (oft mehr als zehn Jahre) behandelt würden, oder es zur Einweisung in soziale Einrichtungen komme, in denen sie wahrscheinlich ein Leben lang bleiben würden. Anschließend wird in dieser Anfragebeantwortung die bedenkliche Situation in den wie „Irrenanstalten“ funktionierenden psychiatrischen Fachkliniken geschildert.

16       Zusammengefasst vermögen die Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts schon die Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 5 FPG nicht zu tragen, zumal nicht nachvollziehbar ist, warum einerseits eine Gefährdung vorliegt, die so massiv ist, dass sie trotz des lebenslangen Aufenthalts des Revisionswerbers in Österreich eine Aufenthaltsbeendigung erforderlich macht, andererseits aber mit einem bloß einjährigen Einreiseverbot das Auslangen gefunden werden kann.

17       Die Feststellung, dass eine Abschiebung des Revisionswerbers nach Serbien (vorübergehend - während der Dauer seiner Anhaltung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher) unzulässig und er gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 FPG geduldet sei, war im Übrigen schon deswegen verfehlt, weil eine Abschiebung des Revisionswerbers während der Zeit des Maßnahmenvollzugs - mangels Durchsetzbarkeit der Rückkehrentscheidung (vgl. § 59 Abs. 4 FPG und dazu oben Rn. 12) - ohnehin nicht infrage käme.

18       Das angefochtene Erkenntnis war aus den dargelegten Gründen insgesamt gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

19       Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 19. November 2020

Schlagworte

Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Besondere Rechtsgebiete Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020210088.L00

Im RIS seit

11.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

11.01.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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