Index
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
AVG §56Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Friedwagner, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. Oktober 2019 (richtig: 13. November 2019), W137 2225201-1/8E, betreffend Schubhaft (mitbeteiligte Partei: A S H, im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH in 1170 Wien, Wattgasse 48), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 4. April 2018 nach seiner illegalen Einreise in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 30. Juli 2018, bestätigt mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. Oktober 2019, vollumfänglich abgewiesen wurde. Zugleich ergingen eine Rückkehrentscheidung und die Feststellung gemäß § 52 Abs. 9 FPG, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die gewährte vierzehntägige Frist für die freiwillige Ausreise endete am 16. Oktober 2019.
2 Aus den vorgelegten Verwaltungsakten ergibt sich, dass am 22. Oktober 2019 ein Festnahmeauftrag gemäß § 34 Abs. 1 Z 2 BFA-VG erlassen wurde. Dieser wurde am 23. Oktober 2019 vollzogen. Der Mitbeteiligte wurde erkennungsdienstlich behandelt und in der Folge aus der Anhaltung entlassen.
3 Am 26. Oktober 2019 wurde der Mitbeteiligte von der Grundversorgung abgemeldet, weil sein Aufenthalt nach Verlassen der Grundversorgungsunterkunft unbekannt war. In der Folge erging ein Festnahmeauftrag gemäß § 34 Abs. 3 Z 2 BFA-VG.
4 Am 29. Oktober 2019 wurde der Mitbeteiligte bei einer Personenkontrolle angetroffen und festgenommen.
5 Mit sogleich in Vollzug gesetztem Mandatsbescheid des BFA vom 30. Oktober 2019 wurde über ihn gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft zum Zweck der Sicherung der Abschiebung angeordnet.
6 Das BFA führte, nachdem es den eingangs geschilderten Verfahrensgang sowie die Abmeldung des Mitbeteiligten von der Grundversorgung infolge unbekannten Aufenthalts festgestellt hatte, begründend aus, dass entsprechend dem bisherigen Verhalten des Mitbeteiligten die Z 1, 3 und 9 des § 76 Abs. 3 FPG erfüllt seien. Für das Sicherungsbedürfnis seien folgende Punkte zu berücksichtigen gewesen: unrechtmäßiger Aufenthalt; keine soziale oder berufliche Integration; fehlender Rückkehrwille in den Herkunftsstaat; Untertauchen/kein Wohnsitz in Österreich. Die Sicherung der Abschiebung sei erforderlich, weil sich der Mitbeteiligte auf Grund seines Vorverhaltens als nicht vertrauenswürdig erwiesen habe. Es sei davon auszugehen, dass er auch künftig nicht gewillt sein werde, die Rechtsvorschriften einzuhalten. Aus seiner Wohn- und Familiensituation, der fehlenden sonstigen Verankerung in Österreich und dem bisherigen Verhalten des Mitbeteiligten könne geschlossen werden, dass ein beträchtliches Risiko des Untertauchens vorliege. Er verfüge in Österreich weder über einen Wohnsitz noch über Familienangehörige oder Bekannte, bei denen er Unterkunft nehmen könnte. Statt die Frist für die freiwillige Ausreise zu nützen, sei er untergetaucht.
7 Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Schubhaft ergebe, dass das private Interesse des Mitbeteiligten an der Schonung seiner persönlichen Freiheit dem Interesse des Staates am reibungslosen Funktionieren der öffentlichen Verwaltung hintanzustehen habe. Dabei sei auch berücksichtigt worden, dass die Schubhaft eine ultima-ratio-Maßnahme darstelle. Mit einem gelinderen Mittel könne nicht das Auslangen gefunden werden. Dagegen spreche vor allem der Umstand, dass auf Grund der persönlichen Lebenssituation des Mitbeteiligten und seines bisherigen Verhaltens ein beträchtliches Risiko des Untertauchens bestehe. Er sei im Bundesgebiet nicht gemeldet und besitze kein Reisedokument. Ein HRZ-Verfahren mit Afghanistan sei eingeleitet worden.
8 Auf Grund des Gesundheitszustands des Mitbeteiligten sei davon auszugehen, dass auch die Haftfähigkeit gegeben sei.
9 Der Mitbeteiligte erhob gegen diesen Bescheid und gegen die Anhaltung „seit dem 29.10.2019“ Beschwerde gemäß § 22a BFA-VG.
10 Er brachte vor, dass er in Österreich über ein ausgeprägtes soziales Netzwerk verfüge. Neben engen freundschaftlichen Beziehungen habe er auch eine gute Beziehung zu seinen Betreuerinnen, die bis vor kurzem für ihn als unbegleiteten minderjährigen Flüchtling zuständig gewesen seien. Seit acht bis neun Monaten sei er in einer Liebesbeziehung mit einer Österreicherin. Er habe die Möglichkeit, bei einer namentlich genannten Person zu wohnen und sich dort zu melden, sodass er für die Behörden greifbar wäre. Er habe keinesfalls untertauchen und sich den Behörden entziehen wollen. Vielmehr sei ihm nicht bewusst gewesen, dass er sich nicht mehr als drei Nächte pro Monat von der Unterkunft fernhalten dürfe; weil er bis vor kurzem noch in einer engmaschig betreuten Unterkunft für Minderjährige gelebt habe, könnte ihm nicht vorgeworfen werden, wenn er sich noch nicht mit allen Regeln zurechtfinde. Für den Fall, dass das Bundesverwaltungsgericht beabsichtige, der Beschwerde nicht stattzugeben, beantragte er die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
11 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde gemäß § 22a Abs. 1 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG statt und erklärte die Anhaltung in Schubhaft ab dem 30. Oktober 2019 für rechtswidrig. Gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG iVm § 76 FPG stellte es fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen nicht vorlägen. Schließlich verpflichtete es den Bund zum Kostenersatz gegenüber dem Mitbeteiligten.
12 Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht aus, das BFA habe sich bei der Bejahung der Fluchtgefahr auf die Z 1, 3 und 9 des § 76 Abs. 3 FPG gestützt. Die Z 3 (Vorliegen einer durchsetzbaren aufenthaltsbeendenden Maßnahme) sei unstrittig erfüllt. Hinsichtlich der Z 1 sei die Argumentation des BFA jedoch nur sehr eingeschränkt nachvollziehbar. Das BFA selbst habe den Mitbeteiligten nie unter dem Aspekt einer allfälligen Schubhaftanordnung befragt. Vielmehr habe es sich ausschließlich auf eine Einvernahme der Polizei gestützt, bei der allerdings immerhin spezifische Fragen im Zusammenhang mit einer allfälligen Schubhaft gestellt worden seien. Es sei jedoch unterlassen worden, vom Mitbeteiligten konkret eine Erklärung bezüglich seiner zeitweiligen Abwesenheit von der Grundversorgungsunterkunft zu erfragen. Das BFA habe nicht selbst eine diesbezügliche Befragung vorgenommen, sondern die Abwesenheit schlicht als Untertauchen definiert und in keiner Form eine Abwägung mit dem bisherigen Verhalten des Mitbeteiligten vorgenommen. Wenn im angefochtenen Bescheid ein beträchtliches Risiko des Untertauchens auf Grund des bisherigen Verhaltens des Mitbeteiligten behauptet werde, so müsse dieses eben auch entsprechend gewürdigt werden. Das bisherige Verhalten beinhalte allerdings die gesamte Anwesenheit im Bundesgebiet, nicht bloß die letzten Tage vor der Anordnung der Schubhaft. Es sei auch die gerade erst erreichte Volljährigkeit des Mitbeteiligten nicht berücksichtigt worden. Diese mangelhafte Begründung in Bezug auf „ein (wenn nicht sogar das) entscheidungsrelevantes Sachverhaltselement (Vorliegen der Z 1)“ belaste den angefochtenen Bescheid insgesamt mit Rechtswidrigkeit. Insbesondere gelinge es dem BFA nicht, die zur Anordnung der Schubhaft erforderliche ultima-ratio-Situation schlüssig darzulegen. Zudem sei der Verzicht auf die Anordnung des gelinderen Mittels nicht hinreichend begründet. Gerade wenn - wie im vorliegenden Fall - die Annahme der Fluchtgefahr nur auf wenige und/oder schwach ausgeprägte Kriterien des § 76 Abs. 3 FPG gestützt sei, müsste ein solcher Verzicht - umso mehr bei einem gerade erst Volljährigen - besonders ausführlich argumentiert sein.
13 Zur (negativen) Feststellung nach § 22a Abs. 3 BFA-VG führte das Bundesverwaltungsgericht aus, es bestehe „angesichts der dargelegten Umstände“ nur eine geringe Wahrscheinlichkeit, dass sich der Mitbeteiligte dem behördlichen Zugriff tatsächlich entziehen würde. Er habe sich im Asylverfahren stets kooperativ gezeigt; auch im Zusammenhang mit der Botschaftsvorführung (aus der Schubhaft) seien keine Probleme gemeldet worden. Vor diesem Hintergrund sei hinsichtlich des Fernbleibens von der zugewiesenen Unterkunft von einer Nachlässigkeit oder Unbedachtheit und weniger von einem intendierten Untertauchen auszugehen, das auch deshalb, weil kein Ortswechsel stattgefunden habe und es auch keinen Hinweis auf einen konkreten Auslöser für ein allfälliges Entziehen gebe. Das Asylverfahren sei bereits drei Wochen zuvor entschieden worden. Lediglich das Kriterium der Z 3 des § 76 Abs. 3 FPG sei im gegenständlichen Fall unstrittig gegeben. Hinweise für einen substantiellen oder gar besonderen Grad der sozialen Verankerung (Z 9) seien im Verfahren nicht hervorgekommen. Hinsichtlich der Z 1 sei angesichts der vorliegenden Umstände zwar ein faktisches Entziehen feststellbar, aber (noch) von einer bloßen Nachlässigkeit des Mitbeteiligten auszugehen. Aus diesen Erwägungen ergebe sich, dass die Anwendung des gelinderen Mittels noch ausreichend sei, um den Sicherungsbedarf zu erfüllen. Die für die Anordnung von Schubhaft geforderte ultima-ratio-Situation liege im gegenständlichen Fall (noch) nicht vor.
14 Die Abhaltung einer mündlichen Verhandlung habe gemäß § 21 Abs 7 BFA-VG und § 24 VwGVG unterbleiben können, weil der Sachverhalt auf Grund der Aktenlage und des Inhalts der Beschwerde geklärt sei und Widersprüchlichkeiten in Bezug auf die entscheidungswesentlichen Sachverhaltselemente nicht vorlägen. Darüber hinaus stütze sich die Entscheidung im Kern auf Rechtsfragen, nämlich das Vorliegen bzw. die Ausprägung der Z 1 des § 76 Abs. 3 FPG sowie das Vorliegen einer ultima-ratio-Situation, was ebenfalls eine rechtliche Wertung darstelle.
15 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Amtsrevision des BFA, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattete, erwogen hat:
16 In der Revision wird unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG geltend gemacht, das Bundesverwaltungsgericht sei zu Unrecht von einem maßgeblichen Begründungsmangel des Schubhaftbescheides ausgegangen; es habe bei seiner Beurteilung insbesondere nicht darauf Bedacht genommen, dass es sich um einen Mandatsbescheid handle. Dem BFA mangelnde Ermittlungstätigkeit vorzuwerfen, erscheine auch insofern überzogen, als das Bundesverwaltungsgericht es mit seiner eigenen Ermittlungspflicht im Rahmen des Fortsetzungsausspruchs nicht allzu genau nehme. Das Bundesverwaltungsgericht hätte von einer mündlichen Verhandlung nicht absehen dürfen. Es bestehe ein unauflöslicher Widerspruch darin, zu behaupten, die Ermittlungen der Behörde seien rudimentär, und gleichzeitig einzugestehen, dass der entscheidungswesentliche Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheine. Hätte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durchgeführt, so hätte es sich einen persönlichen Eindruck vom Mitbeteiligten verschaffen und hierbei die für maßgeblich erachtete Befragung zur zeitweiligen Abwesenheit von der Grundversorgungsunterkunft durchführen können.
17 Mit diesem Vorbringen ist das BFA im Ergebnis im Recht, weshalb sich die Revision als zulässig und berechtigt erweist.
18 Der Verwaltungsgerichtshof hat zwar schon mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass unzureichend begründete Schubhaftbescheide rechtswidrig und demzufolge nach Maßgabe der erhobenen Schubhaftbeschwerde für rechtswidrig zu erklären sind. Nicht jeder Begründungsmangel bewirkt jedoch Rechtswidrigkeit des Schubhaftbescheides, sondern nur ein wesentlicher Mangel. Das ist ein solcher, der zur Folge hat, dass die behördliche Entscheidung in ihrer konkreten Gestalt die konkret verhängte Schubhaft nicht zu tragen vermag (vgl. VwGH 5.10.2017, Ro 2017/21/0007, Rn. 10 und 13, mwN).
19 Ob ein im Sinn des Gesagten wesentlicher Begründungsmangel vorliegt, ist zwar stets eine Frage des Einzelfalls, daher nicht generell zu klären und als einzelfallbezogene Beurteilung grundsätzlich nicht revisibel, wenn diese Beurteilung auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage in vertretbarer Weise vorgenommen wurde (vgl. nochmals VwGH 5.10.2017, Ro 2017/21/0007, Rn. 14). Im vorliegenden Fall hat das Bundesverwaltungsgericht bei seiner Beurteilung aber die Rechtslage verkannt.
20 Der Schubhaftbescheid wurde, worauf auch das BFA hingewiesen hat, entsprechend der Vorgabe des § 76 Abs. 4 FPG im Mandatsverfahren erlassen, also definitionsgemäß „ohne vorausgegangenes Ermittlungsverfahren“ (vgl. § 57 Abs. 1 AVG).
21 Der Schubhaftbescheid wäre (nur) dann rechtswidrig, wenn es bei seiner Erlassung aus damaliger Sicht nicht rechtens war, über den Mitbeteiligten Schubhaft nach dem in Anspruch genommenen Tatbestand und zu dem genannten Sicherungszweck zu verhängen (vgl. VwGH 16.5.2019, Ra 2018/21/0122, Rn. 9, mwN); sei es, weil die im Schubhaftbescheid genannten Gründe die Schubhaft nicht zu tragen vermochten, sei es, weil die entscheidungswesentlichen Gründe auf ihrerseits unschlüssig begründeten oder - in für das BFA erkennbarer Weise - tatsachenwidrigen Annahmen beruhten.
22 Das Bundesverwaltungsgericht unterstellt dem BFA nun eine tatsachenwidrige bzw. unzureichend begründete Annahme, was das Untertauchen des Mitbeteiligten betrifft. Aus der Perspektive des BFA bei Erlassung des Schubhaftbescheides war die Wertung des Verlassens der Grundversorgungsstelle als Untertauchen aber nicht zu beanstanden. Dass dabei kein „Ortswechsel“ (gemeint offenbar: kein Verlassen der Gemeinde) stattgefunden hat, spricht bei einer Stadt mit rund 150.000 Einwohnern jedenfalls nicht gegen ein Untertauchen, und auch das während des offenen Asylverfahrens gezeigte kooperative Verhalten steht einer in einem späteren Stadium (hier: nach einer ersten Festnahme und erkennungsdienstlicher Behandlung bei Vorliegen einer rechtskräftigen und durchsetzbaren Rückkehrentscheidung) zu Tage tretenden Entziehungsabsicht nicht entgegen.
23 Unter der Annahme eines Untertauchens durch den Mitbeteiligten war aber keine Rechtswidrigkeit des Schubhaftbescheides zu sehen: Ausgehend davon waren nämlich die vom BFA herangezogenen Z 1, 3 und 9 des § 76 Abs. 3 FPG erfüllt, was unter Einbeziehung aller festgestellten Umstände des vorliegenden Falles die Verhängung von Schubhaft und nicht nur eines gelinderen Mittels rechtfertigte. Die Z 9 hat das Bundesverwaltungsgericht bei der Prüfung des Schubhaftbescheides allerdings überhaupt nicht in Betracht gezogen. Nach dieser Bestimmung ist bei der Beurteilung der Fluchtgefahr „der Grad der sozialen Verankerung in Österreich, insbesondere das Bestehen familiärer Beziehungen, das Ausüben einer legalen Erwerbstätigkeit beziehungsweise das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel sowie die Existenz eines gesicherten Wohnsitzes“ zu berücksichtigen. Es darf also, um Fluchtgefahr bejahen zu können, keine maßgebliche - der Annahme einer Entziehungsabsicht entgegen stehende - soziale Verankerung des Fremden in Österreich vorliegen, was an Hand der genannten Parameter zu beurteilen ist (vgl. VwGH 11.5.2017, Ro 2016/21/0021, Rn. 31). Eine solche maßgebliche Verankerung des Mitbeteiligten in Österreich ist nicht ersichtlich, was das Bundesverwaltungsgericht in der auf den Fortsetzungsausspruch bezogenen Begründung auch zum Ausdruck brachte, aber offenbar - entgegen der dargestellten Intention des § 76 Abs. 3 Z 9 FPG - in die Richtung deutete, dass es damit an einem (zusätzlichen) Kriterium für die Annahme von Fluchtgefahr fehle.
24 Auf Grund dieser Verkennung der Bedeutung des § 76 Abs. 3 Z 9 FPG belastete das Bundesverwaltungsgericht auch den Fortsetzungsausspruch mit Rechtswidrigkeit. Zudem hätte es das Untertauchen des Mitbeteiligten und damit die Erfüllung des Tatbestandes des § 76 Abs. 3 Z 1 FPG nicht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung verneinen dürfen. Da der Mitbeteiligte in der Schubhaftbeschwerde der - noch ausreichend begründeten - Feststellung des BFA betreffend ein Untertauchen substantiiert entgegen getreten war, lag insofern nämlich kein geklärter Sachverhalt vor. Zur Beurteilung, ob die in der Beschwerde genannten, einem Untertauchen entgegen stehenden Gründe für das Verlassen der Grundversorgungsstelle glaubwürdig waren, wäre eine Befragung des Mitbeteiligten in einer Verhandlung erforderlich gewesen.
25 Die Rechtswidrigkeit der Stattgabe der Schubhaftbeschwerde und des negativen Fortsetzungsausspruchs hat auch die Rechtswidrigkeit der Kostenentscheidung nach § 35 VwGVG zur Folge.
26 Das angefochtene Erkenntnis war daher zur Gänze gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen der vorrangig wahrzunehmenden Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Wien, am 19. November 2020
Schlagworte
Begründungspflicht und Verfahren vor dem VwGH Begründungsmangel als wesentlicher Verfahrensmangel Besondere Rechtsgebiete Maßgebende Rechtslage maßgebender SachverhaltEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020210004.L00Im RIS seit
11.01.2021Zuletzt aktualisiert am
11.01.2021