Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Schramm als Vorsitzenden, die Hofräte Hon.-Prof. Dr. Gitschthaler, Univ.-Prof. Dr. Kodek, Dr. Nowotny sowie die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1) M* G*, 2) A* F*, 3) Mag. V* N*, alle vertreten durch Dr. Erich Holzinger, Rechtsanwalt in Liezen, wider die beklagte Partei A*, vertreten durch Dorda Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 29.535,70 EUR sA (Erstkläger 18.800 EUR, Zweitkläger 5.170,60 EUR, Drittkläger 5.565,10 EUR), über die Revision der klagenden Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 29. November 2019, GZ 129 R 45/19i-32, womit über die Berufung der klagenden Parteien das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 12. März 2019, GZ 54 Cg 5/18s-25, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die erstklagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 1.376,58 EUR (darin enthalten 229,43 EUR USt) bestimmten anteiligen Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Die zweitklagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 378,70 EUR (darin enthalten 63,12 EUR USt) bestimmten anteiligen Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Die drittklagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 407,46 EUR (darin enthalten 67,91 EUR USt) bestimmten anteiligen Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Begründung:
Die Kläger erwarben über Vermittlung der A* AG (in der Folge „WPDLU“) als Wertpapierdienstleistungsunternehmen von der A* Gruppe AG (in der Folge „Emittentin“) als Emittentin in den Jahren 2005 bis 2007 Genussscheine.
Die Beklagte ist das einzige von der Republik Österreich per Gesetz (§ 75 WAG 2007) für durch Wertpapierfirmen geschädigte Anleger eingerichtete Entschädigungssystem.
Das WPDLU war vom 27. 9. 1999 bis 14. 1. 2009 Mitglied der Beklagten.
Am 4. 5. 2010 wurde über das Vermögen des WPDLU und jenes der Emittentin ein Konkursverfahren eröffnet und die Konkurseröffnung in der Ediktsdatei öffentlich bekannt gemacht.
Unmittelbar im Anschluss an die Insolvenzeröffnung wurde in vielen Medien darüber berichtet.
Die Beklagte veröffentlichte auf ihrer Homepage zum Konkurs des WPDLU vom 5. 5. 2010 bis zum 24. 4. 2017 regelmäßig Hinweise über den Stand des Konkursverfahrens, die Möglichkeit zur Entschädigung bei der Beklagten sowie den Verfahrensstand in Bezug auf Anlegerprozesse gegen die Beklagte.
Die Kläger meldeten ihre Forderungen in beiden Konkursverfahren an, ihre Forderungen wurden vom Insolvenzverwalter anerkannt. Die an die Kläger jeweils bezahlte Konkursquote aus der Verteilung im Konkurs des WPDLU beträgt 5,9921 %.
Die Kläger meldeten ihre Forderungen gegen die Beklagte bei dieser im Jahr 2017 an. Diese lehnte die Zahlung einer Entschädigung gegenüber sämtlichen Klägern ab.
Die Kläger nehmen die Beklagte als die gesetzliche Entschädigungseinrichtung für die Anlegerentschädigung nach dem WAG 2007 (in der Folge „WAG“) in Anspruch und bringen vor, Art 9 der Anlegerentschädigungs-Richtlinie - RL 97/9/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. 3. 1997 (in der Folge „AERL“) – sehe zwingend die Unterrichtung der Anleger durch geeignete Maßnahmen der Beklagten als „Entschädigungssystem“ vor. Da die Beklagte eine solche Unterrichtung unterlassen habe, hätten die Kläger nichts von der Existenz der Beklagten, vom Entschädigungsfall, von Entschädigungsansprüchen gemäß §§ 75 ff WAG, einer Anmeldefrist für diese Ansprüche bzw deren Beginn und Ende gewusst. Deshalb hätten sie ihre Forderungen nicht innerhalb der einjährigen Frist des § 76 Abs 2 WAG anmelden können. Die §§ 75 ff WAG seien mit Art 9 AERL unvereinbar, weil sie trotz Setzung einer von der AERL bloß optional ermöglichten Frist keine Unterrichtspflicht des Entschädigungssystems über die bestehende Ausschlussfrist und die notwendige Antragstellung innerhalb dieser Frist vorsähen. Die Einjahresfrist gemäß § 76 WAG müsse daher als rechtlich irrelevant unangewendet bleiben, weshalb den Klägern ihre Ansprüche damit unbefristet zustünden. Überdies könne gemäß § 76 Abs 2 WAG iVm § 93 Abs 3c letzter Satz BWG die Entschädigung nicht verweigert werden, wenn der Anleger nicht in der Lage gewesen sei, seine Forderung rechtzeitig anzumelden. Auch das treffe auf die Kläger zu. Wären die Kläger entsprechend unterrichtet worden, hätten sie ihre Ansprüche gemäß §§ 75 ff WAG angemeldet und die begehrten Entschädigungszahlungen erhalten.
Die Beklagte wendete ein, der Fristenlauf des § 76 Abs 2 WAG habe mit Konkurseröffnung begonnen und daher am 4. 5. 2011 geendet. Rechtlich maßgeblich sei die Veröffentlichung der Insolvenzeröffnung in der Ediktsdatei gewesen, wonach auch klar gewesen sei, dass die Anmeldefrist beginne. § 76 Abs 2 WAG setze Art 9 AERL richtig um, es liege daher keine planwidrige Lücke im nationalen Recht vor, die durch teleologische Interpretation zu schließen wäre. Eine unmittelbare Anwendung von Art 9 AERL komme nicht in Betracht. Die in Art 9 Abs 1 AERL erwähnte „Unterrichtung“ beziehe sich nicht auf die Unterrichtung von der Möglichkeit, Ansprüche gegen die Anlegerentschädigung geltend zu machen, sondern auf die Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Dies sei über die Ediktsdatei erfolgt. Die Frist zur Anmeldung der Forderungen knüpfe auch nach der AERL ausschließlich an die Insolvenzeröffnung und nicht an die Unterrichtung an. Die Beklagte habe auch gar nicht alle Genussscheininhaber persönlich unterrichten können, weil sie deren Identität nicht gekannt habe. Dass Anleger ihre Ansprüche ein Jahr ab Insolvenzeröffnung anmelden könnten, ergebe sich somit aus einem gehörig kundgemachten Gesetz, weshalb sich die Kläger gemäß § 2 ABGB nicht auf ihre insoweit mangelnde Gesetzeskenntnis berufen könnten.
Die Vorinstanzen wiesen die Klagebegehren ab. Das Berufungsgericht vertrat zusammengefasst die Ansicht, aus Art 9 Abs 1 AERL lasse sich auch bei weitestmöglicher Berücksichtigung des unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes nur eine Pflicht zur Verständigung über den Anlassfall für einen möglichen Entschädigungsfall ableiten. Die Beklagte selbst habe nach der AERL gar keine Informationspflicht getroffen, weil die in Art 9 Abs 1 AERL vorgesehenen „geeigneten Maßnahmen“ bereits durch die Information in der Ediktsdatei nach § 74 IO gesetzt würden. „Das Treffen von geeigneten Maßnahmen, um die Anleger zu unterrichten“ beziehe sich auf die in Art 2 Abs 2 AERL genannte „Feststellung bzw Entscheidung“, was gleichbedeutend mit dem konkreten Eintritt eines Entschädigungsfalls bei einer Wertpapierfirma (idR ihre Insolvenz) sei. Mit einer „geeigneten Maßnahme“ könne keine individuelle Information der Anleger gemeint sein, weil die Entschädigungseinrichtung gar nicht alle Anleger kennen könne. Soweit nach § 93 Abs 3c BWG, der auf Erwägungsgrund 19 AERL beruhe, einem Anleger die Fristversäumnis nicht entgegengehalten werden könne, wenn er nicht in der Lage gewesen sei, seine Forderung rechtzeitig geltend zu machen, könnten unter dem „guten Grund“ nach Erwägungsgrund 19 AERL nur (von den Klägern nicht behauptete) gravierende Beeinträchtigungen des Anlegers wie Krankheit und Pflegebedürftigkeit oder allenfalls auch noch längere Auslandsaufenthalte verstanden werden. Das von den Klägern gewünschte Auslegungsergebnis lasse sich weder aus dem WAG noch aus einer allfälligen direkten Anwendung der AERL erzielen. Da das Ergebnis aufgrund des Wortlauts und Zwecks des Art 9 Abs 1 AERL sowie der Richtliniensystematik unzweifelhaft sei, sei im Sinn der „acte-clair“-Theorie eine Anrufung des EuGH entbehrlich.
Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung dazu vorliege, ob die Bekanntgabe der Insolvenzeröffnung in der Ediktsdatei gemäß § 74 IO bzw eine Mitteilung auf der Homepage der Beklagten als „geeignete Maßnahme“ zur Verständigung der Anleger vom Entschädigungsfall laut Art 9 Abs 1 AERL anzusehen sei.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision der Kläger ist mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zulässig.
1. Maßgebliche Normen
1.1. Unionsrecht
Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie 97/9/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. 3. 1997 über Systeme für die Entschädigung der Anleger (AERL) lautet:
„Das System gewährt Anlegern gemäß Artikel 4 Deckung, wenn
– die zuständigen Behörden festgestellt haben, dass ihrer Auffassung nach die Wertpapierfirma aus Gründen, die mit ihrer Finanzlage unmittelbar zusammenhängen, vorerst nicht in der Lage ist, ihren Verpflichtungen aus den Forderungen der Anleger nachzukommen und gegenwärtig keine Aussicht auf eine spätere Erfüllung dieser Verpflichtung besteht, oder
– ein Gericht aus Gründen, die mit der Finanzlage der Wertpapierfirma unmittelbar zusammenhängen, eine Entscheidung getroffen hat, die ein Ruhen der Forderungen der Anleger gegen diese Firma bewirkt;
maßgebend ist dabei, welches dieser Ereignisse zuerst eingetreten ist. […]“
Artikel 9 Abs 1 AERL lautet:
„Das Entschädigungssystem trifft geeignete Maßnahmen, um die Anleger über die in Artikel 2 Absatz 2 genannte Feststellung bzw. Entscheidung zu unterrichten und sie im Entschädigungsfalle so rasch wie möglich zu entschädigen. Es kann eine Frist festlegen, innerhalb deren die Anleger ihre Anträge stellen müssen. Diese Frist beträgt mindestens fünf Monate ab dem Zeitpunkt der genannten Feststellung bzw. Entscheidung oder ab dem Zeitpunkt zu dem diese Feststellung bzw. Entscheidung veröffentlicht wird.
Das Entschädigungssystem kann jedoch einem Anleger nicht unter Berufung auf den Ablauf einer solchen Frist die Entschädigung verweigern, wenn dieser nicht in der Lage war, seine Forderung rechtzeitig geltend zu machen.“
Erwägungsgrund 19 AERL lautet auszugsweise wie folgt:
„Das Entschädigungssystem sollte das Recht haben, einen angemessenen Zeitraum für die Vorlage der Forderungen festzusetzen. Die Tatsache, dass diese Frist abgelaufen ist, sollte jedoch nicht gegen einen Anleger geltend gemacht werden, der aus gutem Grund nicht in der Lage gewesen ist, seine Forderung rechtzeitig geltend zu machen.“
Erwägungsgrund 20 AERL lautet:
„Die Information der Anleger über Entschädigungsvorkehrungen ist ein wesentlicher Bestandteil des Anlegerschutzes. Artikel 12 der Richtlinie 93/22/EWG schrieb vor, dass Wertpapierfirmen ihren Anlegern Aufschluss über die etwaige Anwendung eines Entschädigungssystems geben müssen, bevor sie mit ihnen in eine Geschäftsbeziehung eintreten. Folglich sollten in der vorliegenden Richtlinie Vorschriften für die Unterrichtung dieser potenziellen Anleger über das Entschädigungssystem zur Deckung ihrer Anlagen festgelegt werden.“
1.2. Nationales Recht
§ 76 Abs 2 WAG 2007 lautet:
„Forderungsberechtigte aus Wertpapierdienstleistungen können während eines Zeitraums von einem Jahr ab der Eröffnung des Konkurses oder der Mitteilung der zuständigen Behörde gemäß Anhang II Buchstabe b der Richtlinie 97/9/EG ihre Ansprüche bei der Entschädigungseinrichtung anmelden. § 93 Abs 3c letzter Satz BWG ist anzuwenden.“
§ 93 Abs 3c BWG lautet:
„Forderungsberechtigte aus Wertpapierdienstleistungen können während eines Zeitraums von einem Jahr ab der Kundmachung des Eintritts eines Sicherungsfalles gemäß Abs 3 oder der Mitteilung der zuständigen Behörde gemäß Anhang II Buchstabe b der Richtlinie 97/9/EG über die Feststellung bzw. Entscheidung gemäß Art 2 Abs 2 der genannten Richtlinie ihre Ansprüche bei der Sicherungseinrichtung anmelden. Die Sicherungseinrichtung kann jedoch einem Anleger nicht unter Berufung auf den Ablauf dieser Frist die Entschädigung verweigern, wenn der Anleger nicht in der Lage war, seine Forderung rechtzeitig geltend zu machen.“
2. Grundsätze für die Zulässigkeit der Revision
Das Berufungsgericht begründet die Zulässigkeit der Revision mit der Auslegungsbedürftigkeit von Art 9 Abs 1 AERL, somit einer Norm des Unionsrechts. Hängt die Entscheidung von der Lösung einer Frage des Unionsrechts ab, so ist die Anrufung des Obersten Gerichtshofs zur Nachprüfung dessen Anwendung auf der Grundlage der Rechtsprechung des EuGH nur zulässig, wenn der zweiten Instanz bei Lösung dieser Frage eine gravierende Fehlbeurteilung unterlief (RS0117100) oder wenn das Berufungsgericht Urteile des EuGH in unvertretbarer Weise ausgelegt hätte (RS0117100 [T1]).
Wie im Folgenden gezeigt wird, ist dies nicht der Fall.
3. Bestehende Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zum WAG
Bei Auslegung des WAG ist auf die Erwägungen der AERL Rücksicht zu nehmen; dabei ist für ein Auslösen der Entschädigerhaftung wesentlich, dass die besondere Gefahr vom konzessionswidrigen „Halten“ der Gelder und Finanzinstrumente durch das Wertpapierdienstleistungsunternehmen ausgeht (RS0126147). Im Erwägungsgrund 4 zu dieser Richtlinie werden der Schutz der Anleger und die Erhaltung des Vertrauens in das Finanzsystem als wichtige Aspekte für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts im Wertpapierbereich hervorgehoben, die einen harmonisierten Mindestschutz in allen Mitgliedstaaten für den Fall erfordern, dass eine Wertpapierfirma nicht in der Lage ist, ihren Verpflichtungen gegenüber ihren Anleger-Kunden nachzukommen (RS0126147 [T5]). Da Geschäfte, die das Halten von Geldern und Wertpapieren von Kunden umfassen, einer Wertpapierfirma ausdrücklich untersagt sind und die Anlegerentschädigung keine Ansprüche aus einer Beratungshaftung deckt, verbleibt als Anwendungsbereich nur der Fall, dass Wertpapierfirmen in Überschreitung ihrer Konzession (also rechtswidrig) Kundengelder oder Finanzinstrumente halten. Nur für sich daraus ergebende Schäden sollte eine Haftung der Entschädigungseinrichtung geschaffen werden (RS0126147 [T8]).
Die Entschädigungsforderung des Anlegers nach dem WAG ist unabhängig vom Konkursverfahren anzumelden und nach der vorgesehenen Prüfung durch die Entschädigungseinrichtung ohne Rücksichtnahme auf den Verfahrensstand im Konkursverfahren des Wertpapierdienstleistungsunternehmens zur Zahlung fällig (RS0128843).
4. Zur Jahresfrist des § 76 Abs 2 WAG 2007 und zur Form der „Unterrichtung“
4.1. Wie schon die Vorinstanzen zutreffend ausgeführt haben, ist im nationalen Recht mit der „Feststellung“ bzw „Entscheidung“ in Art 2 Abs 2 AERL die Insolvenzeröffnung gemeint. Die Revisionswerber machen aber geltend, dies sei unionsrechtswidrig.
4.2. Art 9 Abs 1 AERL ist sehr allgemein formuliert, wenn „geeignete Maßnahmen“ zur Unterrichtung der Anleger gefordert werden, ohne diese konkret vorzugeben.
4.3. In der österreichischen Rechtsordnung – wie heute wohl in zahlreichen anderen Rechtsordnungen auch – ist die öffentliche Bekanntmachung bestimmter Umstände in elektronisch verfügbarer Form (Ediktsdatei, Insolvenzdatei) in zahlreichen Bestimmungen vorgesehen, so etwa im Insolvenzverfahren (§ 117 Abs 2, §§ 255, 256 Abs 1, §§ 258, 258a, § 267 Abs 5 IO), im Gesellschaftsrecht (§ 221a Abs 1a AktG; § 8 Abs 2a EU-VerschG; § 7 Abs 1a SpaltG), im Exekutionsrecht (§§ 23, 71 Abs 1, § 99 Abs 2, § 108 Abs 4, § 123 Abs 2, § 176 Abs 2 EO), bei Kraftloserklärungen (§ 6 Abs 1 KEG), bei der Todeserklärung (§ 18 Abs 3 TEG), im Strafprozess (§ 83 Abs 5, § 115b Abs 2, § 115c Abs 1, § 376 Abs 1 StPO), im Zivilprozess (§ 92 Abs 1, §§ 115, 117 Abs 2, § 118 Abs 1 ZPO) und beim Firmenbuch (§ 10 UGB; § 21 Abs 2, § 41 Abs 1 FBG). Auch die Bekanntmachung bestimmter Tatbestände im Internet hat in verschiedenen Bestimmungen Eingang in die Rechtsordnung gefunden, so etwa im Aktienrecht, wo sich ähnlich wie im vorliegenden Fall das Problem stellt, dass eine Vielzahl an Beteiligten informiert werden muss (§§ 78b, 78e, 87 Abs 6, § 95a Abs 5, § 108 Abs 3, § 109 Abs 2, § 110 Abs 1, § 114 Abs 3, § 128 Abs 2 und 3 AktG). Auch im Verwaltungsverfahren können in bestimmten „Großverfahren“ Verhandlungen durch Edikt und Bekanntmachung im Internet anberaumt werden (§§ 44d, 44e AVG).
4.4. Bekanntmachungen im Internet sind somit durchaus üblich. Durch die offene Formulierung „geeignete Maßnahmen“ in der Richtlinie wurde den Mitgliedstaaten ein breiter Spielraum eingeräumt. Hätte der europäische Gesetzgeber eine öffentliche Bekanntmachung in einer Ediktsdatei oder im Internet ausschließen wollen, hätte er dies in der Richtlinie zweifellos zum Ausdruck gebracht. Schon das Erstgericht hat zutreffend darauf verwiesen, dass in der Nachfolgerichtlinie (Art 16 Abs 3 RL 2014/49/EU) ausdrücklich die Bekanntmachung auf der Website des Einlagensicherungssystems vorgesehen ist. Auch die Kläger können für ihre Ansicht, aus der AERL sei eine Pflicht zur individuellen Verständigung der Anleger abzuleiten, keine einzige Belegstelle anführen.
4.5. Wenn die Vorinstanzen somit die Veröffentlichung der Konkurseröffnung in der Ediktsdatei und die Einschaltungen auf der Homepage der Beklagten als „geeignete Maßnahmen“ iSd Art 9 Abs 1 AERL qualifiziert haben, ist dies jedenfalls keine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Fehlbeurteilung. Aus dem Sachverhalt ergibt sich kein Hinweis darauf, dass die Kläger nicht in der Lage gewesen wären, die Ediktsdatei und die Homepage der Beklagten anzusehen. Eine Pflicht zur individuellen Verständigung ist weder im österreichischen Gesetz noch in der AERL festgelegt, sodass die diesbezüglichen Revisionsausführungen im Wesentlichen eine Kritik an der geltenden Rechtslage darstellen, aber keine unrichtige rechtliche Beurteilung der Sache durch die Vorinstanzen aufzeigen. Schon das Erstgericht hat in diesem Zusammenhang zutreffend ausgeführt, die von den Klägern gewünschte Auslegung würde eine Weiterentwicklung der AERL über ihren klaren Wortlaut hinaus bedeuten. Zutreffend verweist die Revisionsgegnerin in diesem Zusammenhang auch auf § 2 ABGB, wonach, sobald ein Gesetz gehörig kundgemacht worden ist, sich niemand damit entschuldigen kann, dass ihm dasselbe nicht bekannt geworden sei.
5. Zum Inhalt der Veröffentlichungen der Beklagten
Entgegen der Ansicht der Revisionswerber waren die – innerhalb der Jahresfrist insgesamt drei – Einschaltungen auf der Homepage der Beklagten nicht geeignet, Anleger von der Anmeldung ihrer Ansprüche abzuhalten: In den beiden ersten Einschaltungen wird zwar erwähnt, dass die gesetzliche Entschädigungseinrichtung von keiner Leistungsverpflichtung in gegenständlicher Causa ausgehe, dennoch wurde über die Rechte der Anleger informiert und konkret die Adresse angegeben, an die die Ansprüche zu richten und welche Unterlagen dafür erforderlich seien. Die Beklagte bemühe sich um Klärung, ob und in welchem Umfang Ansprüche gegen die Entschädigungseinrichtung bestünden. Eine Woche vor Ablauf der Jahresfrist wurde die dritte Einschaltung veröffentlicht, worin auf den baldigen Ablauf der Frist hingewiesen und ausgeführt wurde, welche Unterlagen erforderlich seien, um mit einer Anmeldung noch die Frist zu wahren.
Diese Einschaltungen sind bei objektiver, verständiger Würdigung ihres Erklärungsinhalts (vgl RS0014160) von einem Anleger so zu verstehen, dass er seine Ansprüche jedenfalls innerhalb der Jahresfrist anmelden sollte, um eine Verfristung zu vermeiden. Insgesamt wird der Eindruck vermittelt, es sei zwar noch unsicher, ob letztlich eine Entschädigung gezahlt werde, die Anmeldung sei jedoch auf jeden Fall sinnvoll.
6. Vorinformation gemäß Art 10 AERL iVm § 75 Abs 4 WAG 2007 iVm § 93 Abs 8a BWG aF
Daraus, dass nach den angegebenen Bestimmungen ein WPDLU vor bzw bei einem Vertragsabschluss (potenzielle) Anleger von der Existenz eines Entschädigungssystems informieren müssen und dass im vorliegenden Fall das WPDLU nach den Behauptungen der Kläger diese Information unterlassen habe, ist für die Revisionswerber nichts gewonnen: Diese Informationspflicht trifft das WPDLU, aber nicht die Beklagte als Sicherungseinrichtung. Aus dem Umstand, dass ein WPDLU diese Pflicht gegenüber seinen Anlegern verletzt, kann nicht abgeleitet werden, dass den Anlegern deshalb weitergehende Ansprüche gegen die Beklagte zustehen.
7. § 93 Abs 3c letzter Satz BWG (Art 9 Abs 1 letzter Satz AERL)
Was § 93 Abs 3c letzter Satz BWG betrifft, so führen die Materialien (ErläutRV 1614 BlgNR 20. GP 21) aus, die Regelung für unverschuldete Säumnis bzw objektive Unmöglichkeit der zeitgerechten Forderungsanmeldung könne als denkmögliche Anwendungsfälle zB Ansprüche schwer erkrankter oder pflegebefohlener Personen erfassen; hingegen werde ein (auch längerer) Auslandsaufenthalt angesichts heutiger Kommunikationsmittel nicht automatisch, sondern nur in besonderen Fällen die Fristversäumnis verhindern können. Auch in der Literatur wird zu dieser Bestimmung auf unverschuldete Umstände wie etwa Krankheit oder Auslandsaufenthalt abgestellt (Johler/Schroth in Dellinger, BWG Archivband § 93 Rz 103; Kalss/Lindner, Ausgewählte Fragen zur Anlegerentschädigung gemäß §§ 23b ff WAG, ÖBA 2006, 824).
Diese Bestimmung muss schon deshalb auf solche Ausnahmefälle beschränkt sein, weil die Normierung der Einjahresfrist ansonsten letztlich völlig unterlaufen würde. Subjektive Umstände im Sinn des dargestellten Meinungsstands werden hier von den Klägern nicht behauptet. Für ihre Ansicht, die Ausnahmebestimmung sei bereits dann anwendbar, wenn die Anleger nicht individuell verständigt wurden, können die Kläger auch keine Belegstelle anführen. Es ist auch nicht zu sehen, dass § 93 Abs 3c BWG unionsrechtswidrig sein sollte, zumal der österreichische Gesetzestext insoweit exakt dem Wortlaut der Richtlinie entspricht.
8. Weitere Argumente in der Revision
8.1. Soweit die Jahresfrist des § 76 Abs 2 WAG 2007 als zu kurz kritisiert wird, ist auf Art 9 Abs 1 AERL zu verweisen, wonach sogar eine Frist von nur fünf Monaten zulässig ist.
8.2. Dass die Gesetzeslage in einzelnen anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union anders bzw für Anleger günstiger ist, ist irrelevant, weil der vorliegende Fall nach österreichischem Recht zu beurteilen ist.
9. Vorabentscheidungsersuchen
Ist das Ergebnis der Auslegung des Unionsrechts unzweifelhaft, ist im Sinn der „acte-clair“-Doktrin die Anrufung des EuGH entbehrlich (vgl RS0082949 [T18]). Dies gilt selbst bei fehlender Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (RS0082949 [T5]). Es bleibt dabei grundsätzlich den nationalen Gerichten überlassen, zu beurteilen, ob die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass von einer Vorlage abgesehen werden kann; das Bestehen keines „vernünftigen Zweifels“ im Sinn „acte-clair“ ist nicht aus der subjektiven Sicht des jeweiligen nationalen Richters zu prüfen, sondern unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Unionsrechts, der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung und der Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Europäischen Union (RS0123074).
Die Ansicht des Berufungsgerichts, eine Anrufung des EuGH sei entbehrlich, ist nicht korrekturbedürftig, weil sich das von den Klägern gewünschte Ergebnis einer Pflicht zur individuellen Verständigung aus der AERL keinesfalls ableiten lässt.
10. Kosten
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 46 und 50 ZPO. Der Erstkläger ist mit 63,65 %, der Zweitkläger mit 17,51 %, der Drittkläger mit 18,84 % am Verfahren beteiligt. Die Beklagte hat auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen. Sie hatte als Revisionsgegnerin keine Pauschalgebühr zu zahlen.
Textnummer
E130048European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2021:E130048Im RIS seit
14.12.2020Zuletzt aktualisiert am
09.02.2022