TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/22 W170 2231297-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 22.09.2020
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Entscheidungsdatum

22.09.2020

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §55 Abs1
BFA-VG §9
BFA-VG §9 Abs2
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W170 2231297-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Thomas MARTH über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Iran, vertreten durch Gottgeisl & Leinsmer Rechtsanwälte OG, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, vom 16.04.2020, IFA-Zahl/Verfahrenszahl: 574136806/200121153, zu Recht:

A) I. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 33/2013 in der Fassung BGBl. I Nr. 57/2018, in Verbindung mit § 55 Abs. 1 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 69/2020, und § 9 Abs. 2 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 in der Fassung BGBl. I Nr. 29/2020, stattgegeben und XXXX eine Aufenthaltsberechtigung plus erteilt.

II. Der Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte II. bis IV. gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 33/2013 in der Fassung BGBl. I Nr. 57/2018, in Verbindung mit § 10 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 69/2020, § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 in der Fassung BGBl. I Nr. 29/2020, und §§ 46, 52, 55 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 200/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 27/2020, stattgegeben und diese Spruchpunkte ersatzlos behoben.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz, BGBl. Nr. 1/1930 in der Fassung BGBl. I Nr. 24/2020, unzulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. XXXX (in Folge: Beschwerdeführerin) ist eine volljährige, ledige, iranische Staatsangehörige, die zuletzt in Österreich über einen Aufenthaltstitel zum Zweck des Studiums verfügte. Der Verlängerungsantrag vom 03.06.2019 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zweck „Student“ wurde mit Bescheid des Landeshauptmanns von Wien vom 22.07.2019 ebenso abgewiesen wie die dagegen erhobene Beschwerde durch Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 10.12.2019.

2. Am 31.01.2020 stellte die Beschwerdeführerin beim Bundesamt persönlich einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 69/2020 (in Folge: AsylG). Am 17.02.2020 wurde die Beschwerdeführerin beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen.

3. Mit Bescheid vom 16.04.2020 wies die belangte Behörde den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 AsylG (Spruchpunkt I.) ab, erließ eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt II.), stellte fest, dass die Abschiebung „nach zulässig“ sei (Spruchpunkt III., ohne den Herkunftsstaat im Spruch näher zu bezeichnen) und legte die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt IV.).

4. Gegenstand des nunmehrigen Beschwerdeverfahrens ist die Frage, ob der im Spruch bezeichnete Bescheid rechtmäßig ist, da die Beschwerdeführerin gegen den im Spruch bezeichneten Bescheid, der dieser am 22.04.2020 zugestellt wurde (wegen dem Bundesgesetz betreffend Begleitmaßnahmen zu COVID-19 im Verwaltungsverfahren, BGBl. I Nr. 16/2020, begann die Rechtsmittelfrist am 01.05.2020 neu zu laufen), mit am 20.05.2020 bei der Behörde eingebrachtem Schriftsatz das Rechtsmittel der Beschwerde ergriffen hat.

5. Die Beschwerde wurde dem Bundesverwaltungsgericht am 27.05.2020 vorgelegt. Mit verfahrensleitendem Beschluss wurden den Verfahrensparteien zwecks Parteiengehör die Stellung von Beweisanträgen, die Vorlage entsprechender Beweismittel und die Beantwortung bestimmter Fragen binnen einer Frist von zwei Wochen aufgetragen.

Mit Schriftsatz vom 05.06.2020 brachte die belangte Behörde eine Stellungnahme ein. Mit Schriftsatz vom 01.07.2020, dem ein Fristerstreckungsgesuch zuvorkam, legte die vertretene Beschwerdeführerin die aufgetragene Stellungnahme und Dokumente vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat über die rechtzeitige und zulässige Beschwerde erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. XXXX , eine volljährige, iranische Staatsangehörige, ist spätestens seit 24.04.2012 in Österreich aufhältig und verfügte zuletzt bis zum 12.06.2019 über eine Aufenthaltsbewilligung zum Zweck „Studierende“. In der Folge wurde der Verlängerungsantrag vom 03.06.2019 mit Bescheid vom 20.07.2019 abgewiesen und dieser nach dem eingebrachten Rechtsmittel der Beschwerde vom Verwaltungsgericht Wien mit Erkenntnis vom 10.12.2019 bestätigt.

1.2. XXXX ist legal in das Bundesgebiet eingereist. Zumindest von 24.04.2012 bis zum 10.12.2019 war ihr Aufenthalt im Bundesgebiet rechtmäßig. Am 31.01.2020 stellte XXXX den gegenständlichen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Artikel 8 EMRK.

1.3. XXXX hat seit April 2012 ihren Lebensmittelpunkt in Österreich, hier befinden sich auch wesentliche Teile ihrer Familie, nämlich ihr Bruder und ihre Schwester sowie zwei Onkel und vier Cousinen. Ihre Eltern sind in Griechenland aufhältig, aber sind regelmäßig im Bundesgebiet auf Besuch und verbringen hier regelmäßig Zeit mit ihr und ihren Geschwistern.

XXXX hat gemeinsam mit ihren Geschwistern Iran verlassen, sie sind gemeinsam legal in Österreich zum Zwecke des Studiums eingereist und haben sie einen gemeinsamen Haushalt begründet, der weiterhin besteht. Während der Bruder von XXXX über einen Aufenthaltstitel verfügt, wurde ihrer Schwester in Österreich der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Es besteht eine innige Beziehung zwischen den Geschwistern, sie verbringen in ihrer Freizeit viel Zeit gemeinsam, kochen, putzen, erledigen den Einkauf, führen eine gemeinsame Haushaltskasse und unterstützen einander emotional und finanziell. Die Onkel der XXXX sind österreichische Staatsbürger, sie pflegen eine gute Beziehung, verbringen viel Zeit zusammen, besuchen und unterstützen einander.

Die Bindung von XXXX zu Iran ist reduziert, zwar spricht sie mit Farsi, die Landessprache, ist dort aufgewachsen und hat etwa dreiviertel ihres Lebens in Iran verbracht, jedoch hat sie gleichzeitig ihren Lebensmittelpunkt mittlerweile vor acht Jahren und fünf Monaten nach Österreich verlegt und sie hat sämtliche sozialen und – bis auf ihre in Griechenland aufhältigen Eltern – familiären Kontakte in Österreich. XXXX hat keine Familienangehörigen oder andere Bezugspersonen in Iran.

XXXX trägt kein Kopftuch und lebt ohne religiöse Bekenntnis. Sie verfügt über viele Freunde und Freundinnen und Studienkollegen und Studienkolleginnen, mit denen sie gerne ihre Freizeit verbringt, gemeinsam lernt, sich auf Partys trifft oder mit ihnen in ein Lokal oder ins Kino geht. Weiters besucht sie in ihrer Freizeit gerne Museen und andere kulturelle Veranstaltungen. XXXX ist in Österreich seit etwa zweieinhalb Jahren in einer Beziehung.

1.4. XXXX ist seit 02.04.2013 für das Bachelorstudium Architektur an der Technischen Universität Wien inskribiert. Sie absolviert regelmäßig (mehrmals pro Jahr) Prüfungen; seit 14.01.2014 hat sie Prüfungen im Ausmaß von 64 ECTS (Europäisches System zur Übertragung und Akkumulierung von Studienleistungen) positiv absolviert (Prüfungen im Ausmaß von 51 ECTS wurden ihr anerkannt). Sie verfügt über sehr gute Deutschkenntnisse, diese entsprechen jedenfalls zumindest dem Sprachniveau B2. Aufgrund ihrer Deutschkenntnisse erfolgte auch die Einvernahme vor dem Bundesamt auf Deutsch.

XXXX hat im Zuge ihres Studiums mehrere Praktika in der Architektur- und Immobilienbranche absolviert. Von 01.09.2019 bis 24.07.2020 war sie auf der Grundlage einer Beschäftigungsbewilligung als Ordinationsassistentin bei XXXX im Ausmaß von 20 Stunden teilzeitbeschäftigt. Ihr Nettoeinkommen betrug € 673,53 (brutto: € 793,50), zudem verfügt sie über ein Kontoguthaben von ca. € 9.000, wird von ihrem Vater unterstützt und ist sozialversichert. XXXX ist selbsterhaltungsfähig und bezieht keine Sozialhilfeleistungen. XXXX war im Jahr 2015 über sechs Monate in einem XXXX SeniorInnenheim ehrenamtlich tätig.

1.5. XXXX ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten und wurde auch wegen keiner Verwaltungsübertretung bestraft.

1.6. Der angefochtene Bescheid stützt die abweisende Entscheidung maßgeblich auf den Umstand, XXXX habe sich von Juli 2017 bis November 2018 in Iran und nicht in Österreich aufgehalten. Allerdings hat XXXX von Mai bis Juli 2019 ein Praktikum bei Architekt DI XXXX sowie von September 2018 bis Februar 2019 bei Architektin DI XXXX absolviert. Weiters hat sie am 22.12.2017, 26.01.2018, 18.06.2018, 19.06.2018 Prüfungen an der Technischen Universität Wien absolviert, wobei es sich bei letztgenannter um eine Übung mit (vorangehender) Anwesenheitspflicht handelte. Auch der Abschluss weiterer Übungen mit Anwesenheitspflicht am 18.01.2019 und 15.02.2019 setzt die Anwesenheit von XXXX in Österreich im fraglichen Zeitraum voraus.

2. Beweiswürdigung:

Die Feststellungen ergeben sich aus dem Verwaltungs- und Gerichtsakt, insbesondere aus der eingebrachten Beschwerde, der Stellungnahmen der belangten Behörde, der Stellungnahme der Beschwerdeführerin, den vorgelegten Integrationsdokumenten und der niederschriftlichen Einvernahme der Beschwerdeführerin vor der belangten Behörde.

2.1. Die Feststellungen zu 1.1. und 1.2. ergeben sich aus den unstrittigen Angaben der Beschwerdeführerin sowie aus der Aktenlage.

2.2. Die Feststellungen zu 1.3. ergeben sich aus den Angaben der Beschwerdeführerin bei der Antragstellung, in der Einvernahme vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und in der Stellungnahme, die sich nicht widersprechen und gleichbleibend sind. Die Beschwerdeführerin machte glaubhafte Ausführungen zu ihren Wohnverhältnissen und den Familienangehörigen in Österreich. Dass bei gemeinsamer Haushaltsführung der Geschwister eine innige Beziehung besteht und vieles gemeinsam erledigt, unternommen und geteilt wird ist nicht lebensfern. Die Beschwerdeführerin macht diesbezüglich detaillierte Angaben und wusste über die Lebensumstände ihrer Geschwister und anderen Verwandten in Österreich Bescheid, wonach ebenfalls auf eine enge Beziehung und vielen gemeinsamen Aktivitäten schließen lässt. Auch wurden diesbezügliche Angaben von der belangten Behörde zum Teil schon festgestellt bzw. nicht substantiiert bestritten.

Dass die Bindung zu ihrem Heimatstaat Iran reduziert ist, basiert ebenfalls auf den gleichbleibenden Ausführungen der Beschwerdeführerin und sind denklogische Folgen der bereits fortgeschrittenen Integration der Beschwerdeführerin und der bereits mittlerweile mehr als achtjährigen Aufenthaltsdauer in Österreich. Zudem trägt die Beschwerdeführerin – laut eigenen Angaben und auf den beigelegten Fotokopien ersichtlich – kein Kopftuch und pflegt mittlerweile ein Leben mit westlichen Werten. Die Feststellungen zur Freizeitgestaltung der Beschwerdeführerin gründen auf die glaubhaften Angaben der Beschwerdeführerin in der Einvernahme vor der belangten Behörde (Einvernahme, AS 55) und gleichbleibend in der schriftlichen Stellungnahme.

2.3. Die Feststellungen zu 1.4. zum Studium und den Deutschkenntnissen der Beschwerdeführerin ergeben sich aus den vorgelegten Dokumenten, insbesondere aus dem Sammelzeugnis der Technischen Universität Wien vom 21.06.2020 (Stellungnahme vom 01.07.2020, Beilage III.) und dem Zeugnis über die Ergänzungsprüfung für Deutsch, als Voraussetzung zum Studium (AS 42), das die fortgeschrittenen Deutschkenntnisse der Beschwerdeführerin belegt. Zudem erfolgte die Einvernahme vor der belangten Behörde ohne Dolmetscher, wonach ebenfalls auf die ausgezeichneten Deutschkenntnisse zu schließen ist.

Hinsichtlich der Feststellungen zu den absolvierten Praktika, der ehrenamtlichen Tätigkeit und der Teilzeitbeschäftigung von September 2019 bis Juli 2020 ist auf die vorgelegte Arbeitsbestätigung vom Architekt DI XXXX (Stellungnahme vom 01.07.2020, Beilage I.), die Lohn- und Gehaltsabrechnungen vom Jänner 2020 (AS 43), die Dienstnehmer-Anmeldung vom 02.09.2019 (AS 44), den Versicherungsdatenauszug (AS 45 ff), den Bescheid über die Beschäftigungsbewilligung des Arbeitsmarktservices (AS 32), den verschiedenen Fotos ((Stellungnahme vom 01.07.2020, Beilage II.), dem Kontoauszug vom 31.01.2020 (AS 50) und den damit belegten Aussagen der Beschwerdeführerin zu verweisen.

2.5. Die Feststellung zu 1.5. ergibt sich aus der Einsicht in das Strafregister.

2.6. Die Feststellungen zu 1.6. ergeben sich aus den bereits genannten vorgelegten Bestätigungen, der Stellungnahme und dem Zeugnis der Beschwerdeführerin. Das Bundesamt stützt seine tatsachenwidrige Feststellung, die Beschwerdeführerin habe sich von Juli 2017 bis November 2018 in Iran aufgehalten, scheinbar auf den den Verlängerungsantrag abweisenden Bescheid vom 22.07.2019, in welchem ausgeführt wird, die Beschwerdeführerin habe vorgebracht, von Juli 2017 bis November 2018 unter Depressionen gelitten zu haben und in ihrem Heimatland behandelt worden zu sein. Hierzu ist festzuhalten, dass aus dem diesen Bescheid bestätigenden Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 10.12.2019, Zl. VGW-151/094/11740/2019-9, hervorgeht, dass vielmehr die Therapie mit einer in Iran ansässigen Ärztin via Skype und FaceTime durchgeführt worden sei. Nur das ist – angesichts der durch die Beschwerdeführerin im selben Zeitraum in Österreich absolvierten Prüfungen und Praktika – denkmöglich.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1. Die im Beschwerdefall maßgebliche Bestimmung des AsylG lautet:

„Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK“

§ 55. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn
1. dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und
2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. I Nr. 189/1955) erreicht wird.

(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.“

Gemäß dem damit im Zusammenhang stehenden § 9 Abs. 2 BFA-VG sind bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK insbesondere zu berücksichtigen: (Z1) die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, (Z2) das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, (Z3) die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, (Z4) der Grad der Integration, (Z5) die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden, (Z6) die strafgerichtliche Unbescholtenheit, (Z7) Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, (Z8) die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, (Z9) die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

Gemäß Art 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffs; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird die Voraussetzung gemäß § 55 Abs. 1 Z 1 AsylG erfüllt sein, wenn die Auswirkungen der Rückkehr auf die Lebenssituation des Fremden (und seiner Familie) schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme davon.

3.2.1. Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes:

Die Beschwerdeführerin ist seit knapp achteinhalb Jahren in Österreich aufhältig und verfügte zuletzt über einen Aufenthaltstitel zum Zweck des Studiums. Sie reiste somit rechtmäßig mit einem Visum in Österreich ein und verfügte bis zum 12.06.2019 über einen gültigen Aufenthaltstitel. Gemäß § 24 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 24/2020 (in Folge: NAG), ist nach Stellung eines Verlängerungsantrages der Antragsteller, unbeschadet der Bestimmungen nach dem FPG, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag weiterhin rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig. Daher war der Aufenthalt der Beschwerdeführerin während des Verlängerungsverfahrens, das mit verwaltungsgerichtlichem Erkenntnis vom 10.12.2019 beendet wurde, bis zur Erlassung dieses Erkenntnisses rechtmäßig. Sofern die Beschwerdeführerin angab, sie habe noch die Revisionsfrist abgewartet, sich jedoch nach anwaltlicher Beratung gegen ein weiteres Rechtsmittel entschieden, ist darauf zu verweisen, dass die Entscheidung eines Verwaltungsgerichts mit Erlassung rechtskräftig wird. Sofern die belangte Behörde der Beschwerdeführerin deswegen den Vorwurf macht, den Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG missbräuchlicher Weise beantragt zu haben, ist sie auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach gegen eine missbräuchliche Antragstellung nach § 55 AsylG spricht, dass der Antrag nicht zurückgewiesen, sondern nach inhaltlicher Behandlung abgewiesen wurde (vgl. VwGH 16.05.2019, Ra 2019/21/0104).

Seit Dezember 2019 ist der Aufenthalt der Beschwerdeführerin in Österreich jedoch nicht rechtmäßig, da sie keinen Aufenthaltstitel mehr innehatte, sich nicht mehr im Verlängerungsverfahren befand, und auch ein Antrag nach § 55 AsylG gemäß § 58 Abs. 13 AsylG kein Aufenthaltsrecht begründet. Für die Dauer von etwa sieben Jahren und acht Monaten, somit den überwiegenden Teil ihres Aufenthaltes, war dieser jedoch rechtmäßig.

In diesem Zusammenhang ist auch darauf einzugehen, dass die belangte Behörde in ihrem angefochtenen Bescheid maßgeblich – und fälschlicherweise – davon ausgeht, die Beschwerdeführerin habe sich von Juli 2017 bis November 2018 in Iran aufgehalten (was diese selbst nie vorgebracht hat, durch keine Unterlagen hervorgekommen ist, und wozu die Behörde die Beschwerdeführerin auch nie befragt hat). Obwohl in der dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 10.12.2019 vorangehenden Verhandlung vorgebracht wurde, die Beschwerdeführerin habe sich in Österreich aufgehalten – was durch ihre Prüfungen und Praktika in Österreich während dem gleichen Zeitraum belegt wird – und via Telekommunikation eine Therapie bei einer in Iran ansässigen Ärztin durchgeführt, hat die belangte Behörde die Beschwerdeführerin in der Einvernahme nicht dazu befragt, sondern ist von tatsachenwidrigen Umständen ausgegangen, auf die sie maßgeblich den angefochtenen Bescheid gestützt hat – insbesondere die Intensität der Bindungen der Beschwerdeführerin zu ihrem Heimatstaat betreffend. Dieser angebliche, lange Iranaufenthalt wurde sowohl im Bescheid, als auch in der Stellungnahme der belangten Behörde vom 05.06.2020 mehrmals herangezogen, um die Aufenthaltsdauer der Beschwerdeführerin in Österreich zu relativieren, ihre Verbundenheit zu Iran hervorzuheben, darzustellen, dass die Beschwerdeführerin in ihrer seit mehr als acht Jahren in Österreich praktizierten Lebensweise – ohne Kopftuch, ohne religiöse Bekenntnis, viele soziale Kontakte, Arbeit, Studium, Beziehung, Fortgehen etc. – während ihres Iranaufenthaltes offensichtlich nicht eingeschränkt gewesen sei. Der angebliche Iranaufenthalt wurde weiters von der Behörde herangezogen, um nicht nur den durchgehenden Aufenthalt der Beschwerdeführerin abzusprechen, sondern auch, dass sich ihr Lebensmittelpunkt in Österreich befinde. Hinsichtlich ihrer Depression wurde in diesem Zusammenhang festgehalten, offensichtlich sei ihr Wohlbefinden in der Heimat besser als im Bundesgebiet, was sich aber auf keine Feststellungen stützen kann.

In der Stellungnahme wurde weiters faktenwidrig festgehalten, das Einkommen der Beschwerdeführerin befinde sich lediglich unter der Geringfügigkeitsgrenze, wobei diese jedoch für 2019 bei € 446,81 und für 2020 bei € 460,66 lag und die Beschwerdeführerin € 793,50 verdiente. Immerhin war die Beschwerdeführerin 20 Stunden pro Woche beschäftigt. Unklar ist, wieso die belangte Behörde in ihrer Stellungnahme auf eine „angestrebte Niederlassung“ verweist, und dass die finanzielle Voraussetzung in diesem Falle höher sei –zumal die Beschwerdeführerin den Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG beantragt hat und eine der Alternativvoraussetzungen das Erreichen der Geringfügigkeitsgrenze ist, die das Einkommen der Beschwerdeführerin tatsächlich überschritt. Sofern vorgebracht wird, es bestehe die Möglichkeit einer Belastung für die Gebietskörperschaft, da die Beschwerdeführerin keinen Rechtsanspruch auf die finanzielle Unterstützung durch ihre Verwandten habe, wobei gleichzeitig darauf verwiesen wird, diese könnten die Beschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr nach Iran unterstützen, sei darauf hingewiesen, dass die Beschwerdeführerin in ihrem gesamten Aufenthalt keinerlei Sozialleistungen bezogen hat, seit knapp achteinhalb Jahren keine Belastung für die Gebietskörperschaft darstellt, bereits legal beschäftigt war und nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG, gerade weil er die Grundlage rechtmäßiger Beschäftigung ist, die Möglichkeit einer finanziellen Belastung für die Gebietskörperschaft noch mehr reduziert: „Von daher würde sich die Problematik der Mittellosigkeit bzw. die daraus ableitbare Gefährdung nicht mehr länge realisieren.“ (VwGH 19.09.2019, Ra 2019/21/0100) Auch ist vom Verwaltungsgericht die Frage einer zukünftig erwartbaren Selbsterhaltungsfähigkeit durch eine erlaubte Beschäftigung einzubeziehen und dabei auf den hypothetischen Fall der Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels, der die Ausübung einer unselbständigen Tätigkeit grundsätzlich gestattet (§ 54 Abs. 1 Z 1 und 2 AsylG 2005), abzustellen (vgl. VwGH 19.9.2019, Ra 2019/21/0100; VwGH 22.8.2019, Ra 2018/21/0134, 0135; VwGH 17.9.2019, Ra 2019/22/0106; VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0282). Auch eine ehrenamtliche Betätigung stellt ein starkes Indiz für das grundsätzliche Vorliegen einer Arbeitsbereitschaft dar (vgl. VwGH 15.01.2020, Ra 2017/22/0047). Vor dem Hintergrund, dass die Beschwerdeführerin bereits für die Dauer der erteilten Beschäftigungsbewilligung im Ausmaß von 20 Stunden beschäftigt war, ist davon auszugehen, dass sie auf der Grundlage eines Aufenthaltstitels, der freien Arbeitsmarktzugang gewährt, dieselbe oder eine andere Beschäftigung aufnehmen würde.

Festzuhalten ist auch, dass gegen die Beschwerdeführerin bis dato keine rechtskräftige Rückkehrentscheidung erlassen wurde.

3.2.2. Eingriff in das Familien- und Privatleben:

Gegenständlich lebt die Beschwerdeführerin mit ihren zwei Geschwistern seit knapp achteinhalb Jahren in Österreich in einem gemeinsamen Haushalt und sie führt zudem eine mittlerweile mehr als zweijährige Beziehung. Es besteht eine innige Beziehung zwischen den Geschwistern, sie verbringen viel Zeit gemeinsam, kochen, putzen, erledigen den Einkauf und führen eine gemeinsame Haushaltskasse. Sie unterstützen einander finanziell und emotional. Das Familienleben bestand schon vor ihrer Einreise nach Österreich. Ob außerhalb des Bereiches des insbesondere zwischen Ehegatten und ihren minderjährigen Kindern ipso iure zu bejahenden Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK ein Familienleben vorliegt, hängt nach der – auf Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Bedacht nehmend – ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen ab, wobei für die Prüfung einer hinreichend stark ausgeprägten persönlichen Nahebeziehung gegebenenfalls auch die Intensität und Dauer des Zusammenlebens von Bedeutung sind. Familiäre Beziehungen unter Erwachsenen fallen dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. VwGH 08.09.2016, Ra 2015/20/0296, VwGH 20.12.2018, Ra 2018/14/0284, Rn. 8; VwGH 26.06.2019, Ra 2019/21/0016, Rn. 15).

Eine ausgeprägte Nahebeziehung ist zu bejahen, zudem der Alltag und zum Teil die Freizeit von den Geschwistern gemeinsam gestaltet wird. Die erwachsenen Geschwister verfügen über eine gemeinsame Haushaltskasse und einer Wohngemeinschaft, sodass durch die gegenseitige finanzielle Unterstützung schon „Merkmale einer Abhängigkeit“ im Sinne der zitierten Judikatur begründen könnten. Nun kann es im vorliegenden Fall allerdings dahinstehen, ob die drei volljährigen Geschwister untereinander ein „Familienleben“ führen, weil ihre Beziehung und Wohngemeinschaft zumindest unter der Schutzwürdigkeit des Privatlebens zu subsumieren wäre. Nach der Rechtsprechung des VwGH kommt es darauf nämlich nicht entscheidungswesentlich an, weil bei der vorzunehmenden Gesamtabwägung im Ergebnis die tatsächlich bestehenden Verhältnisse maßgebend sind, sodass es fallbezogen nur von untergeordneter Bedeutung ist, ob die genannten Beziehungen als „Familienleben“ im Sinne der Z2 oder als „Privatleben“ im Sinne der Z 3 des § 9 Abs. 2 BFA-VG zu qualifizieren sind (vgl. VwGH 26.06.2019, Ra 2019/21/0016, Rn. 17; VwGH 27.04.2020, Ra 2020/21/0121, Rn. 10). Da die Beschwerdeführerin eine innige Beziehung mit ihren Geschwistern führt und auch ihre zwei Onkel und vier Cousinen wichtige Bezugspersonen sind, ihre Eltern in Griechenland leben und auch oft auf Besuch in Österreich sind, ist das Interesse am Verbleib in Österreich und der Aufrechterhaltung des „Familienlebens“ bzw. „Privatlebens“ jedenfalls gegeben.

Die Bindung zu ihrem Herkunftsstaat ist erheblich reduziert. Zwar wurde sie in Iran geboren und ist dort aufgewachsen und sozialisiert worden, sie hat aber seither – seit knapp achteinhalb Jahren – ihren Lebensmittelpunkt in Österreich und auch keine sozialen oder familiären Anknüpfungspunkte in Iran, da ihre Familienangehörigen außerhalb Irans – in Österreich oder Griechenland – leben und sich ihr soziales Leben mittlerweile in Österreich abspielt.

Der Grad der Integration der Beschwerdeführerin in Österreich im Sinne der Z 4 des § 9 Abs. 2 BFA-VG ist bereits fortgeschritten, da sie zudem bereits über sehr gute Deutschkenntnisse verfügt und momentan für das Bachelorstudium Architektur an der Technischen Universität Wien inskribiert ist, wo sie regelmäßig mehrmals im Jahr Prüfungen absolviert. Wenn ihr die belangte Behörde vorhält, sie sei nicht fleißig genug, ist auszuführen, dass ihr mangelnder Prüfungserfolg zwar die Verlängerung ihres Aufenthaltstitels zum Zwecke des Studiums verhinderte, im gegenständlichen Fall jedoch andere Voraussetzungen zu prüfen sind. Die Beschwerdeführerin absolviert jedenfalls regelmäßig Lehrveranstaltungen an der Technischen Universität. Zudem absolvierte die Beschwerdeführerin mehrere Praktika, arbeitete ehrenamtlich in einem SenionrInnenheim und war bis vor Kurzem teilzeitbeschäftigt als Ordinationsassistentin. Sie kann auch auf ein großes soziales Netz an Freunden und Freundinnen und Studienkollegen und -kolleginnen in Österreich zugreifen, trägt kein Kopftuch und geht in ihrer Freizeit gerne in ein Lokal, ins Café, auf Partys oder ins Kino. Wenn die belangte Behörde ausführt, das österreichische Privatleben der Beschwerdeführerin müsse lt. EGMR jenes in Iran bei weitem übersteigen, ist dies jedenfalls der Fall.

Sofern die belangte Behörde der Beschwerdeführerin vorhält, ihr Privatleben sei zu einem Zeitpunkt entstanden, als sie nicht von einem dauerhaften Aufenthalt im Bundesgebiet ausgehen haben können, ist die Rechtsprechung des VwGH im Zusammenhang mit § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG zu berücksichtigen, wonach der Fremden von Anfang bewusst sein musste, dass ihr die erteilte Aufenthaltsbewilligung (in jenem Fall: „Student danach Aufenthaltskarte gemäß § 54 Abs. 1 NAG“) nur ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht vermitteln konnte und relativiert das die in diesem Zeitraum erlangte soziale Integration (in jenem Fall jedoch: insbesondere aufgrund der eingegangenen Aufenthaltsehe); ebenso die Dauer des Aufenthalts, der seit Ablauf des Aufenthaltstitels „Student“ nicht mehr rechtmäßig war (vgl. VwGH 26.06.2019, Ra 2019/21/0016). Das Familienleben zu ihren Geschwistern, das bereits vorher bestand, sowie die im Zusammenhang mit ihrem Studium stehende Integration, zu dessen Zweck schließlich der Aufenthaltstitel diente, vermag dies jedoch nicht zu mindern. Diesbezüglich hat der Verwaltungsgerichtshof auch ausgesprochen, dass eine Trennung von nahen Angehörigen nicht schon wegen des Eingehens der Beziehung bzw. Zustandekommens des Familienlebens während unsicheren Aufenthalts, sondern nur dann gerechtfertigt ist, wenn dem öffentlichen Interesse an der Vornahme einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme ein sehr großes Gewicht beizumessen ist, wie etwa bei Straffälligkeit des Fremden oder bei einer von Anfang an beabsichtigten Umgehung der Regelungen über eine geordnete Zuwanderung und den "Familiennachzug" (vgl. VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0282; VwGH 30.04.2020,vRa 2019/21/0134). Solche Umstände sind gegenständlich nicht gegeben.

Weiters darf der Gesichtspunkt des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG 2014 ("Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren") nicht in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund gestellt werden. Dieser Aspekt hat schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während unsicheren Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen ist und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung führen kann. Das gilt insbesondere bei einem mehr als zehn Jahre dauernden Inlandsaufenthalt (vgl. VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0282; VwGH 06.04.2020, Ra 2020/20/0055). Zwar ist die Beschwerdeführerin noch nicht länger als zehn Jahre in Österreich aufhältig, aber mit knapp achteinhalb Jahren schon lange. Jedenfalls länger als die drei (vgl. VwGH 23.01.2020, Ra 2019/21/0306) bzw. viereinhalb Jahre Aufenthalt, bei denen hinsichtlich derselben Beurteilung noch darauf abzustellen war, ob in Bezug auf die hier erlangte Integration eine „außergewöhnliche Konstellation“ vorliegt (vgl. VwGH 5.6.2019, Ra 2019/18/0078), wobei bei jenem Fall nur ein Eingriff in das Privatleben und nicht auch in ein Familienleben zur Debatte stand. Der Verwaltungsgerichtshof wies in jenem Fall darauf hin, dass das rechtspolitische Manko, dass der Gesetzgeber für derartige Fälle kein humanitäres Aufenthaltsrecht vorgesehen habe, dadurch abgemildert werde, dass der Fremde die Voraussetzungen für den Aufenthaltstitel nach § 56 AsylG 2005 in zeitlicher Hinsicht (VwGH 26.6.2019, Ra 2019/21/0032, 0033) bereits Ende Oktober 2020 erfüllen wird und hierfür – bei unverändertem Sachverhalt – auch die übrigen Bedingungen voraussichtlich gegeben sein werden (vgl. VwGH 16.07.2020, Ra 2020/21/0133). Ab einem Inlandsaufenthalt eines Fremden von zehn Jahren wird eine nachhaltige Integration nicht verlangt und kommt es darauf an, ob Umstände vorliegen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer des Fremden im Inland relativieren (VwGH 04.03.2020, Ra 2020/21/0010). Im gegenständlichen Fall wird die Integration der Beschwerdeführerin zwar nicht als außergewöhnlich – im Vergleich mit anderen Fremden, die sich seit achteinhalb Jahren hier aufhalten – erachtet, wird dies bei einer solchen Aufenthaltsdauer jedoch auch nicht mehr vorausgesetzt. Vielmehr wird ihre Integration, die Familien, Beziehung, Studium, Praktika, Beschäftigung, soziale Kontakte und freiwillige Tätigkeiten umfasst, schon als nachhaltig erachtet, sodass sie über jenen ebengenannten Maßstab hinausgeht. Auch liegen in ihrem Fall keine Umstände vor, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken – so ist sie strafgerichtlich unbescholten, liegen keine Verwaltungsstrafen vor, hat sie keine missbräuchlichen Anträge zur Verlängerung des Aufenthalts gestellt – und relativiert die Länge ihrer Aufenthaltsdauer nur der aktuell nicht rechtmäßige Aufenthalt im Jahr 2020, während die etwa sieben Jahre und acht Monate zuvor durchgehenden rechtmäßigen Aufenthalt betrafen. Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden ist regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden etwa Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen. Diese Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK ist auch für die Erteilung von Aufenthaltstiteln relevant (VwGH 26.02.2015, Ra 2015/22/0025; VwGH 19.11.2014, 2013/22/0270). Auch in Fällen, in denen die Aufenthaltsdauer knapp unter zehn Jahren lag, hat der Verwaltungsgerichtshof eine entsprechende Berücksichtigung dieser langen Aufenthaltsdauer gefordert (VwGH 16.12.2014, 2012/22/0169; VwGH 09.09.2014, 2013/22/0247; VwGH 30.07.2014, 2013/22/0226; VwGH 15.01.2020, Ra 2017/22/0047). Wenn der Verwaltungsgerichtshof ausspricht, dass bei einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zukommt (VwGH 23.07.2015, Ra 2015/22/0026 und 0027), so indiziert dies, dass ein Aufenthalt von knapp achteinhalb Jahren schon zu berücksichtigen ist und eine „maßgebliche Verstärkung der persönlichen Interessen der Fremden an einer Titelerteilung“ bewirkt (VwGH 24.01.2019, Ra 2018/21/0191).

Bei Beurteilung der Frage, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- und/oder Familienlebens iSd Art. 8 EMRK geboten ist bzw. ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte darstellt, ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG 2014 genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG 2014 ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101; VwGH 08.11.2018, Ra 2016/22/0120). Jenem Fall lag ein vergleichbarer Sachverhalt zugrunde: eine Drittstaatsangehörige verfügte etwa acht Jahre lang über wiederholt verlängerte Aufenthaltsbewilligungen für Studierende, der letzte Verlängerungsantrag wurde abgewiesen. Im Unterschied zum gegenständlichen Fall beantragte jene Revisionswerberin den Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG auch erst nachdem ihr das Bundesamt mitgeteilt hatte, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung beabsichtigt sei. Vergleichbare Integrationsmerkmale betreffen das Studium, die Deutschkenntnisse, der Freundeskreis, zeitweise Beschäftigung mit Beschäftigungsbewilligungen, abgeschwächte Bindungen zum Herkunftsstaat. Im Unterschied zum gegenständlichen Fall lebte nur ein Cousin jener Revisionswerberin in Österreich, ihre Eltern und ein Bruder im Herkunftsland. In jenem Fall sei das Verwaltungsgericht bei der Beurteilung der Interessenabwägung gemäß § 9 BFA-VG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen und wurde das abweisende Erkenntnis dementsprechend aufgehoben. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs nehmen die persönlichen Interessen des Fremden an seinem Verbleib in Österreich grundsätzlich mit der Dauer seines bisherigen Aufenthalts zu, wobei anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu prüfen ist, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren (VwGH 10.11.2015, Ro 2015/19/0001; VwGH 08.11.2018, Ra 2016/22/0120).

Auch wenn Normen, welche – wie hier – die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regeln, aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ein hoher Stellenwert zukommen (VwGH 16.01.2001, 2000/18/0251) und im Sinne der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes das Bewusstsein über den unsicheren Aufenthalt die in diesem Zeitraum erlangte soziale Integration bzw. das Bewusstsein über den unrechtmäßigen Aufenthalt die Aufenthaltsdauer gewissermaßen relativieren, überwiegt in einer Gesamtbetrachtung – im Hinblick darauf, dass die Familie zum Teil hier und niemand mehr in Iran ist, sich die wichtigsten Bezugspersonen in Österreich befinden, die erlangte Selbsterhaltungsfähigkeit, die ausgezeichneten Deutschkenntnisse und fortgeschrittenen Integrationsbemühungen – das Interesse der Beschwerdeführerin am Verbleib in Österreich und der Aufrechterhaltung des Privatlebens. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Beschwerdeführerin im Falle ihrer Rückkehr nach Iran ihr Familienleben mit ihrer Schwester, die in Österreich asylberechtigt ist und nicht nach Iran rückkehren kann, nicht weiterführen könnte. Im gegenständlichen Fall ist daher die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 Abs. 1 Z 1 AsylG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens der Beschwerdeführerin geboten.

3.3. „Aufenthaltsberechtigung plus“:

Gemäß § 55 Abs. 1 AsylG ist die „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn dies gemäß Z 1 leg. cit. geboten ist und gemäß Z2 leg. cit. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955) erreicht wird.

Die Beschwerdeführerin hat zum Entscheidungszeitpunkt der belangten Behörde eine entsprechende Erwerbstätigkeit ausgeübt, zum hier maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt des Bundesverwaltungsgericht mangels Zeitablauf der auf ein Jahr befristeten Beschäftigungsbewilligung jedoch nicht mehr. Daher ist die Erfüllung der ersten Alternativvoraussetzung zu prüfen.

Das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz, BGBl. I Nr. 68/2017 in der Fassung BGBl. I Nr. 42/2020 (in Folge: IntG), erfüllt gemäß Abs. 4 Z 3, wer über einen Schulabschluss verfügt, der der allgemeinen Universitätsreife entspricht. Das ist gegenständlich der Fall, andernfalls die Beschwerdeführerin nicht zum Studium an der Technischen Universität zugelassen worden wäre. Weiters beinhaltet gemäß § 9 Abs. 4 IntG die Erfüllung des Moduls 2 das Modul 1. Das Modul 2 der Integrationsvereinbarung erfüllt gemäß § 10 Abs. 2 Z 8 IntG, wer mindestens zwei Jahre an einer postsekundären Bildungseinrichtung inskribiert war, ein Studienfach mit Unterrichtssprache Deutsch belegt hat und in diesem einen entsprechenden Studienerfolg im Umfang von mindestens 32 ECTS-Anrechnungspunkten (16 Semesterstunden) nachweist. Auch dies ist gegenständlich der Fall, da die Beschwerdeführerin seit mehr als zwei Jahren an der Technischen Universität inskribiert ist, das Studienfach Architektur auf Deutsch belegt und einen Studienerfolg im doppelten als dem geforderten Ausmaß (64 ECTS, wovon die angerechneten Prüfungen bereits ausgenommen sind) aufweist.

Die Beschwerdeführerin erfüllt somit beide Voraussetzungen gemäß § 55 Abs. 1 Z 1 und 2 AsylG und ist ihr gemäß § 55 Abs. 1 AsylG eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen.

Es war spruchgemäß zu entscheiden.

Auf Grund der ausgezeichneten Sprachkenntnisse der Beschwerdeführerin konnte auf eine Übersetzung des Spruches und der Rechtsmittelbelehrung verzichtet werden.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985, BGBl. Nr. 10/1985 in der Fassung BGBl. I Nr. 24/2020 hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz, BGBl. Nr. 1/1930 in der Fassung BGBl. I Nr. 24/2020 (in Folge: B-VG), zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Das Bundesverwaltungsgericht hat die relevante Rechtsprechung unter A) zitiert und beachtet, es ist daher weder zu sehen, dass die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, es an einer solchen Rechtsprechung fehlt oder die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes als uneinheitlich zu beurteilen ist. Daher ist die Revision unzulässig.

Schlagworte

Aufenthaltsberechtigung plus Deutschkenntnisse ersatzlose Teilbehebung Familienleben Integration Interessenabwägung Privatleben Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W170.2231297.1.00

Im RIS seit

11.12.2020

Zuletzt aktualisiert am

11.12.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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