Entscheidungsdatum
02.10.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W261 2205695-1/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS über die Beschwerde von XXXX auch XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, Außenstelle Linz, vom 03.08.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.
und beschließt:
II. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte II. und III. des angefochtenen Bescheides wird als unzulässig zurückgewiesen.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige Afghanistans, stellte am 18.03.2016 nach gemeinsamer Einreise mit ihrem Sohn XXXX , ihrer Schwiegertochter XXXX und ihrer mj. Enkelin XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Am selben Tag fand ihre Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab die Beschwerdeführerin zu ihren Fluchtgründen an, sie habe Angst um ihre Familie gehabt. Afghanistan sei kein sicheres Land.
2. Mit Eingabe vom 09.10.2017 erstatteten die Beschwerdeführerin und ihre Familienmitglieder durch ihre bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass auch eine von Privatpersonen ausgehende Verfolgung asylrelevant sein könne, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage sei, diese Verfolgung zu unterbinden. Die Beschwerdeführerin und ihre Schwiegertochter seien ausgesprochen westlich orientierte Frauen, deren Haltung den konventionellen afghanischen Werten widerspreche, weshalb sie keinen staatlichen Schutz erwarten könnten. Sie hätten eindrücklich ihre Unzufriedenheit mit der Rollenverteilung der Geschlechter in der konservativ-islamisch geprägten afghanischen Gesellschaft und ihren Wunsch, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, zum Ausdruck gebracht, und damit glaubwürdig asylrelevante Fluchtgründe vorgebracht. Mit der Stellungnahme wurden diverse medizinische Unterlagen vorgelegt.
3. Die Ersteinvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangten Behörde) fand am 31.10.2017 statt. Dabei gab die Beschwerdeführerin zu ihren persönlichen Umständen im Wesentlichen an, sie sei Tadschikin und sunnitische Muslima. Sie stamme aus dem Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Herat, wo sie bis zur Ausreise gelebt habe. Sie sei verwitwet, ihr Mann sei vor ca. 30 Jahren verstorben. Sie habe keine Schule besucht, sei Hausfrau gewesen und habe bei anderen Familien geputzt. Die Beschwerdeführerin habe einen in Österreich lebenden Sohn und eine im Iran lebende Tochter. Mit ihrem Sohn, ihrer Schwiegertochter und ihren minderjährigen Enkelkindern lebe sie in Österreich in einem gemeinsamen Haushalt. In Afghanistan habe sie noch eine Schwester, zu der sie Kontakt habe. Sie leide an diversen gesundheitlichen Problemen. Im Rahmen der Einvernahme legte sie Integrations- und medizinische Unterlagen vor.
Zu ihren Fluchtgründen gab die Beschwerdeführerin zusammengefasst an, aufgrund ihrer Herzprobleme habe ihr Sohn ihr nicht von allen Problemen erzählt. Eines nachts sei auf ihr Haus geschossen worden, wobei die Gläser und Türen zerbrachen. Sie hätten dann bei den Nachbarn übernachtet. Ihr Sohn sei vor dem Vorfall mehrere Male mit Briefen und Anrufen bedroht und aufgefordert worden, 150.000 US-Dollar zu zahlen. Die Beschwerdeführerin habe zu ihrem Sohn gesagt, sie könnten dort nicht mehr leben, ihr Leben sei in Gefahr. Vier Tage nach dem Vorfall seien sie zunächst ins Krankenhaus in Herat und dann in den Iran gefahren. Wer die Familie bedroht habe wisse sie nicht, ihr Sohn habe ihr aufgrund ihrer Probleme keine Details erzählt bzw. zwar den Namen einer Gruppe genannt, doch sie habe ihn vergessen.
4. Mit Eingabe vom 26.07.2018 erstattete die Beschwerdeführerin und ihre Familienmitglieder durch ihre bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der vorrangig eine westliche Orientierung ihrer Schwiegertochter XXXX vorgebracht wird. In Hinblick auf die Beschwerdeführerin und die übrigen Familienmitglieder seien auch ihre Entfremdung aus Afghanistan und der familiäre Konflikt um die gemischt-religiöse Ehe bedeutsam, da ihre Flucht den konventionellen gesellschaftlichen Werten in Afghanistan widerspreche, weshalb sie der Gefahr ausgesetzt wären, im Fall einer Rückkehr als „verwestlicht“ und „unislamisch“ angesehen zu werden. Es werde daher um Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ersucht. Allenfalls sei ihnen subsidiärer Schutz zuzuerkennen, da im Fall der Abschiebung die reale Gefahr menschrechtswidriger Behandlung aufgrund der ausgesprochen schlechten Sicherheitslage bestehe, sie kein familiäres Auffangnetz und keine Existenzgrundlage in Afghanistan mehr hätten und vollständig entwurzelt seien.
5. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 03.08.2018 wies die belangte Behörde den Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte der Beschwerdeführerin den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis 03.08.2019 (Spruchpunkt III.).
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, die Beschwerdeführerin habe in der Erstbefragung und der Einvernahme keine sie betreffenden Fluchtgründe angeführt. Es habe nicht festgestellt werden können, dass ihr in Afghanistan eine Verfolgung drohe. Die von ihrem Sohn vorgebrachten Fluchtgründe hätten sich als nicht glaubhaft und nicht asylrelevant erwiesen. Der „Vorfall mit dem Haus“ werde als private Auseinandersetzung gewertet und sei ebenso nicht asylrelevant. Im Fall der Beschwerdeführerin liege auch keine westliche Orientierung vor. Es bestünden aber Gründe für die Annahme, dass im Fall der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung für sie derzeit eine nicht ausreichende Lebenssicherheit bestehe. Sie leide an dilatativer Kardiomyopathie, Diabetes mellitus und arterieller Hypertonie und benötige eine ständige Therapie. Eine kurative Behandlung der Kardiomyopathie sei in Afghanistan nicht möglich. Es könne daher nicht ausgeschlossen werden, dass sie im Fall der Rückkehr keine Lebensgrundlage vorfinde und ihre Grundbedürfnisse nicht gedeckt würden.
Mit Bescheiden der belangten Behörde ebenfalls vom 03.08.2018 wurden die Anträge ihres Sohnes XXXX , ihrer Schwiegertochter XXXX und ihrer mj. Enkelkinder XXXX und XXXX jeweils zur Gänze abgewiesen und gegen diese Rückkehrentscheidungen erlassen.
6. Die Beschwerdeführerin und die übrigen Familienmitglieder erhoben diese Bescheide durch ihre bevollmächtigte Vertretung mit Schreiben vom 04.09.2018 fristgerecht Beschwerde. Sie brachten darin im Wesentlichen vor, die belangte Behörde spreche ihnen zu Unrecht die Glaubwürdigkeit ab. Die beweiswürdigenden Erwägungen zum Fluchtvorbringen seien spärlich und in näher dargelegten Punkten nicht nachvollziehbar. Der Sohn der Beschwerdeführerin sei von einer terroristischen Gruppierung erpresst worden, die auch mit dem Tod seiner Familie gedroht habe. Die UNHCR-Richtlinien würden die Bedrohungssituation der Beschwerdeführerin und ihrer Familie belegen, sie unterlägen einer asylrelevanten Verfolgung. Zudem wären sie aufgrund ihres langjährigen Auslandsaufenthalts in Gefahr, in Afghanistan als „verwestlicht“ angesehen zu werden, was sie zur Zielscheibe islamistischer Terroristen machen würde. Ihnen wäre daher Asyl, allenfalls aufgrund der katastrophalen Sicherheitslage, der fehlenden Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative und der Gefahr einer existenzbedrohenden Lage subsidiärer Schutz zu gewähren gewesen.
7. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 13.09.2018 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 14.09.2018 in der Gerichtsabteilung W209 einlangte.
8. Mit Bescheid der belangten Behörde vom 12.08.2019 wurde die befristete Aufenthaltsberechtigung der Beschwerdeführerin als subsidiär Schutzberechtigte antragsgemäß bis 03.08.2021 verlängert. Die Voraussetzungen für die Verlängerung würden vorliegen, eine nähere Begründung entfiel unter Hinweis auf § 58 Abs. 2 AVG.
9. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 19.05.2020 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W209 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W261 neu zugewiesen, wo dieses am 02.06.2020 einlangte.
10. Mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 24.08.2020, Zl. W217 2205720-1 ua, wurde dem Sohn, der Schwiegertochter und den mittlerweile drei Enkelkindern der Beschwerdeführerin im Familienverfahren der Status der Asylberechtigten aufgrund der westlichen Orientierung der Schwiegertochter der Beschwerdeführerin zuerkannt.
11. Mit Eingabe vom 28.09.2020 legte die Beschwerdeführerin durch ihre bevollmächtigte Vertretung diverse medizinische und Integrationsunterlagen vor.
12. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 28.09.2020 eine mündliche Verhandlung durch, im Zuge derer die Beschwerdeführerin zu ihren Fluchtgründen befragt wurde. Die belangte Behörde nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil, die Verhandlungsschrift wurde ihr übermittelt. Die Beschwerdeführerin legte eine weitere medizinische Unterlage vor. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben. Der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin verzichtete auf eine Stellungnahme.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin:
Die Beschwerdeführerin führt den Namen XXXX auch XXXX und das Geburtsdatum XXXX . XXXX ist der Name ihres Vaters. Sie ist afghanische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitische Muslima. Ihre Muttersprache ist Dari. Die Beschwerdeführerin ist verwitwet und hat zwei Kinder.
Die Beschwerdeführerin wurde im Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Herat geboren, wo sie bis zur Ausreise lebte. Sie hat keine Schule besucht und keinen Beruf erlernt. Sie hat bei anderen Familien geputzt und war Hausfrau.
Ihr Ehemann XXXX verstarb vor ca. 34 Jahren. Der Ehe entstammen zwei Kinder. Ihre Tochter XXXX , ca. 33 Jahre alt, lebt im Iran und ist verheiratet. Ihr Sohn, XXXX , ca. 37 Jahre alt, ist gemeinsam mit der Beschwerdeführerin ausgereist und lebt mit seiner Ehefrau und drei Kindern als Asylberechtigter in Österreich.
Die Eltern der Beschwerdeführerin sind bereits verstorben. In Afghanistan lebt in Herat noch ihre Schwester XXXX , sie ist ca. 43 Jahre alt und Hausfrau. Die Beschwerdeführerin hat ca. einmal im Monat Kontakt mit ihrer Schwester.
Die Beschwerdeführerin stellte am 18.03.2016 nach gemeinsamer Einreise mit ihrem Sohn, ihrer Schwiegertochter und ihrer Enkelin einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Mit Bescheid der belangten Behörde vom 03.08.2018 wurde der Beschwerdeführerin der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.
1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin:
1.2.1. Die Beschwerdeführerin verließ Afghanistan gemeinsam mit ihrem Sohn und dessen Familie, nachdem dieser von unbekannt gebliebenen Tätern erpresst und bedroht worden war. Ihr Sohn war wirtschaftlich erfolgreich und die Familie wohlhabend, die Täter verlangten von ihm 150.000 US-Dollar. Kurz vor der Ausreise wurde das Haus, in dem die Familie lebte, nachts beschossen und Sachen gestohlen. Die Täter handelten aus kriminellen Motiven. Die Beschwerdeführerin persönlich wurde nicht bedroht.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan würden der Beschwerdeführerin mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch die Erpresser ihres Sohnes oder durch andere Personen drohen.
1.2.2. Bei der Beschwerdeführerin handelt es sich nicht um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Ihre persönliche Haltung über die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft steht nicht im Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind. Die Beschwerdeführerin hat in Österreich keine Lebensweise angenommen, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Eine solche Lebensführung in Österreich ist nicht zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden.
Der Beschwerdeführerin würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt wegen „westlicher“ Orientierung drohen.
1.3. Zum (Privat)Leben der Beschwerdeführerin in Österreich:
Die Beschwerdeführerin reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit März 2016 durchgehend in Österreich auf. Sie war nach ihrem Antrag auf internationalen Schutz vom 18.03.2016 aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG und ist seit 03.08.2018 aufgrund einer befristeten Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte in Österreich durchgehend rechtmäßig aufhältig.
Die Beschwerdeführerin besuchte in Österreich zweimal einen Alphabetisierungskurs und einmal einen Werte- und Orientierungskurs. Sie hat keine Deutschprüfung abgelegt. Sie wird von ihrer Vertrauensperson als freundlich, umsichtig und verlässlich beschrieben.
Die Beschwerdeführerin war in Österreich nicht ehrenamtlich tätig und nicht erwerbstätig. Sie lebt von der Grundversorgung und ist am österreichischen Arbeitsmarkt nicht integriert. Sie verfügt über keine verbindliche Arbeitszusage.
In Österreich leben ihr Sohn XXXX , ihre Schwiegertochter XXXX und ihre minderjährigen Enkelkinder XXXX , XXXX und XXXX als Asylberechtigte. Die Beschwerdeführerin lebt mit ihren Familienmitgliedern in einem gemeinsamen Haushalt.
Die Beschwerdeführerin ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.4. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit Stand 21.07.2020 (LIB),
- UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),
- EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)
1.4.1 Allgemeine Sicherheitslage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).
Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).
Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 4).
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).
1.4.1.1. Aktuelle Entwicklungen
Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 1).
Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2).
Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1).
Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).
1.4.2. Allgemeine Wirtschaftslage
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80 % der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).
Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).
In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5 % der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala-System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).
Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6 % der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte normalerweise die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Derzeit sind die meisten Teehäuser, Hotels und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19-Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (LIB, Kurzinformation 21.07.2020)
Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: Der afghanischen Regierung zufolge leben 52 % der Bevölkerung in Armut, während 45 % in Ernährungsunsicherheit leben. Dem Lockdown Folge zu leisten, „social distancing“ zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Auswirkungen:
In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein „Solidaritätsprogramm“ entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei welchem bedürftigen Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden. In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes. Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern. Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
1.4.3. Medizinische Versorgung
Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).
90 % der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).
Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).
Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Berichten zufolge haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt, mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19-Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2 % der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
1.4.4. Relevante Bevölkerungsgruppen
1.4.4.1. Frauen
Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt ein wenig verbessert hat, können sie ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit (LIB, Kapitel 17.1).
Das Gesetz sieht die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, sagt jedoch nichts zu gleicher Bezahlung bei gleicher Arbeit. Das Gesetz untersagt Eingriffe in das Recht von Frauen auf Arbeit; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und Anstellungsbedingungen diskriminiert. Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und viele Frauen gehen aus Furcht vor sozialer Ächtung keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach. In den meisten Teilen Afghanistans ist es Tradition, dass Frauen und Mädchen selten außerhalb des Hauses gesehen oder gehört werden sollten (LIB, Kapitel 17.1).
Die Erwerbsbeteiligung von Frauen hat sich auf 27 % erhöht. Für das Jahr 2018 wurde der Anteil der Frauen an der Erwerbsbevölkerung von der Weltbank mit 35,7 % angegeben. Viele Frauen werden von der Familie unter Druck gesetzt, nicht arbeiten zu gehen; traditionell wird der Mann als Ernährer der Familie betrachtet, während Frauen Tätigkeiten im Haushalt verrichten. Dies bedeutet für die Frauen eine gewisse Sicherheit, macht sie allerdings auch wirtschaftlich abhängig – was insbesondere bei einem Partnerverlust zum Problem wird. Auch werden bei der Anstellung Männer bevorzugt. Es ist schwieriger für ältere und verheiratete Frauen, Arbeit zu finden, als für junge alleinstehende. Berufstätige Frauen berichten über Beleidigungen, sexuelle Belästigung, fehlende Fahrgelegenheiten und fehlende Kinderbetreuungseinrichtungen. Auch wird von Diskriminierung beim Gehalt berichtet (LIB, Kapitel 17.1).
Traditionelle gesellschaftliche Praktiken schränken die Teilnahme von Frauen in der Politik und bei Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft ein; wie z. B. die Notwendigkeit eines männlichen Begleiters oder einer Erlaubnis um zu arbeiten. Frauen, die politisch aktiv sind, sind auch weiterhin mit Gewalt konfrontiert und Angriffsziele der Taliban und anderer Aufständischengruppen. Dies, gemeinsam mit einem Rückstand an Bildung und Erfahrung, führt dazu, dass die Zentralregierung männlich dominiert ist (LIB, Kapitel 17.1).
Der Großteil der gemeldeten Fälle von Gewalt an Frauen stammt aus häuslicher Gewalt. Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Shura/Schura und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden aufgefordert, den „Familienfrieden“ durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen (LIB, Kapitel 17.1).
Die afghanische Regierung hat anerkannt, dass geschlechtsspezifische Gewalt ein Problem ist und eliminiert werden muss. Das soll mit Mitteln der Rechtsstaatlichkeit und angemessenen Vollzugsmechanismen geschehen. Zu diesen zählen das in Afghanistan eingeführte EVAW-Gesetz zur Eliminierung von Gewalt an Frauen, die Errichtung der EVAW-Kommission auf nationaler und lokaler Ebene und die EVAW-Strafverfolgungseinheiten. Auch wurden Schutzzentren für Frauen errichtet (LIB, Kapitel 17.1).
Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet und kaum dokumentiert. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90 % innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord. Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt und kommen auch weiterhin vor. Afghanische Expertinnen und Experten sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden (LIB, Kapitel 17.1).
Zwangsheirat und Verheiratung von Mädchen unter 16 Jahren sind noch weit. Die Datenlage hierzu ist sehr schlecht. Als Mindestalter für Vermählungen definiert das Zivilgesetz Afghanistans für Mädchen 16 Jahre (15 Jahre, wenn dies von einem Elternteil bzw. einem Vormund und dem Gericht erlaubt wird) und für Burschen 18 Jahre. Dem Gesetz zufolge muss vor der Eheschließung nachgewiesen werden, dass die Braut das gesetzliche Alter für die Eheschließung erreicht, jedoch besitzt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung Geburtsurkunden. In der Praxis wird das Alter, in dem Buben und Mädchen heiraten können, auf der Grundlage der Pubertät festgelegt. Das verhindert, dass Mädchen vor dem Alter von fünfzehn Jahren heiraten. Aufgrund der fehlenden Registrierung von Ehen wird die Ehe von Kindern kaum überwacht. Auch haben Mädchen, die nicht zur Schule gehen, ein erhöhtes Risiko, verheiratet zu werden. Gemäß dem EVAW-Gesetz werden Personen, die Zwangsehen bzw. Frühverheiratung arrangieren, für mindestens zwei Jahre inhaftiert; jedoch ist die Durchsetzung dieses Gesetzes limitiert. Nach Untersuchungen von UNICEF und dem afghanischen Ministerium für Arbeit und Soziales wurde in den letzten fünf Jahren die Anzahl der Kinderehen um 10 % reduziert. Die Zahl ist jedoch weiterhin hoch: In 42 % der Haushalte ist mindestens ein Kind unter 18 Jahren verheiratet (LIB, Kapitel 17.1).
Das Recht auf Familienplanung wird von wenigen Frauen genutzt. Auch wenn der weit überwiegende Teil der afghanischen Frauen Kenntnisse über Verhütungsmethoden hat, nutzen nur etwa 22 % (überwiegend in den Städten und gebildeteren Schichten) die entsprechenden Möglichkeiten. Dem Afghanistan Demographic and Health Survey zufolge würden etwa 25 % aller Frauen gerne Familienplanung betreiben. Dem Strafgesetzbuch zufolge, ist das Verteilen von Kondomen zulässig, jedoch beschränkte die Regierung die Verbreitung nur auf verheiratete Paare (LIB, Kapitel 17.1).
Die Reisefreiheit von Frauen ohne männliche Begleitung ist durch die sozialen Normen eingeschränkt. Frauen können sich grundsätzlich, abgesehen von großen Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif, nicht ohne einen männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen. Es gelten strenge soziale Anforderungen an ihr äußeres Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, deren Einhaltung sie jedoch nicht zuverlässig vor sexueller Belästigung schützt (LIB, Kapitel 17.1).
1.4.5. Ethnische Minderheiten
In Afghanistan sind ca. 40-42 % Paschtunen, rund 27-30 % Tadschiken, ca. 9-10 % Hazara und 9 % Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).
Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan, sie macht etwa 27-30 % der afghanischen Gesellschaft aus und hat deutlichen politischen Einfluss im Land. In der Hauptstadt Kabul ist sie knapp in der Mehrheit. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien vertreten, sie sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25 % in der ANA und der ANP repräsentiert (LIB, Kapitel 17.2) Tadschiken sind allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit in Afghanistan weder psychischen noch physischen Bedrohungen ausgesetzt (LIB, Kapitel 16.2).
1.4.6. Religionen
Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80–89,7 % Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15).
1.4.7. Allgemeine Menschenrechtslage
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).
Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).
Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).
1.4.8. Bewegungsfreiheit und Meldewesen
Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).
In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z. B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden. In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet, einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
Die großen COVID-19-bedingten Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen. Afghanistan hat mit 24.06.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish-Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wiederaufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird. Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.06.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wiederaufgenommen. Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wiederaufgenommen. Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich. Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen betreffend COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).
1.4.9. Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).
Taliban:
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).
Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).
Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Kapitel 2).
Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).
Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
1.4.10. Relevante Provinzen und Städte
1.4.10.1. Herkunftsprovinz Herat
Herat liegt im Westen Afghanistans. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen. Die Provinz hat 2.095.117 Einwohner. Die Provinz ist über einen Flughafen in der Nähe von Herat-Stadt zu erreichen (LIB, Kapitel 2.13).
Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten durchzuführen. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. Der Distrikt mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen ist der an Farah angrenzende Distrikt Shindand, in dem die Taliban zahlreiche Gebiete kontrollieren. In der Provinz Herat kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen. Unter anderem kam es dabei auch zu Luftangriffen durch die afghanischen Sicherheitskräfte. Im Jahr 2019 gab es 400 zivile Opfer (144 Tote und 256 Verletzte) in der Provinz Herat. Dies entspricht einer Steigerung von 54% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierte Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge), gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 2.13).
Die Hauptstadt der Provinz ist Herat-Stadt. In dieser Stadt findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).
Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert, der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 durch Iran-Rückkehrer und Binnenvertriebene besonders gestiegen. Sie hat 556.205 Einwohner (LIB, Kapitel 2.13).
Herat ist durch die Ring-Road sowie durch einen Flughafen mit nationalen und internationalen Anbindungen sicher und legal erreichbar (LIB, Kapitel 3.13). Der Flughafen Herat (HEA) liegt 13 km südlich der Stadt im Distrikt Gozara. Die Straße, welche die Stadt mit dem Flughafen verbindet wird laufend von Sicherheitskräften kontrolliert. Unabhängig davon gab es in den letzten Jahren Berichte von Aktivitäten von kriminellen Netzwerken, welche oft auch mit Aufständischen in Verbindung stehen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Im Vergleich mit anderen Teilen des Landes weist Herat wirtschaftlich und sicherheitstechnisch relativ gute Bedingungen auf. Es gibt Arbeitsmöglichkeiten im Handel, darunter den Import und Export von Waren mit dem benachbarten Iran, wie auch im Bergbau und Produktion. Die Industrie der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMUs) ist insbesondere im Handwerksbereich und in der Seiden- und Teppichproduktion gut entwickelt und beschäftigt Tagelöhner sowie kleine Unternehmer (LIB, Kapitel 20).
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zu den Feststellungen zur Person der Beschwerdeführerin:
Die Feststellungen zur Identität der Beschwerdeführerin ergeben sich aus ihren dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum der Beschwerdeführerin gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person der Beschwerdeführerin im Asylverfahren.
Der Auch-Nachname der Beschwerdeführerin ergibt sich aus ihrer diesbezüglich glaubhaften und nachvollziehbaren Erklärung in der mündlichen Verhandlung (vgl. Niederschrift vom 28.09.2020, S. 6), wonach in ihrem Reisepass, wie damals in Afghanistan bei Frauen üblich, anstelle eines eigenen Nachnamens „Tochter des XXXX “ angeführt wird (vgl. AS 49). Sie hat jedoch den Namen ihres Ehemannes, XXXX , angenommen, weswegen auch dieser Name festgestellt wird.
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit der Beschwerdeführerin, zu ihrer Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, ihrer Muttersprache, ihrem Lebenslauf, ihrem Aufwachsen sowie ihrer familiären Situation in Afghanistan und ihrer fehlenden Schulbildung und Berufserfahrung gründen auf ihren diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben sowie den vorgelegten Nachweisen. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen bzw. nachvollziehbar aktualisierten Aussagen der Beschwerdeführerin zu zweifeln.
2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen der Beschwerdeführerin:
2.2.1. Die Feststellungen zu den Ausreisegründen der Beschwerdeführerin folgen im Wesentlichen ihren eigenen glaubhaften Angaben in der Einvernahme vor der belangten Behörde (vgl. AS 189-192) und in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht (vgl. Niederschrift vom 28.09.2020, S. 7-8). Die Beschwerdeführerin gab selbst an, dass ihr Sohn wirtschaftlich erfolgreich gewesen sei und man die Familie als „reich“ ansehen konnte. Dass die Erpresser aus kriminellen Motiven handelten, ergibt sich klar aus ihrer Aussage, dass es diesen um Geld gegangen sei (vgl. S. 8), und daraus, dass Hinweise auf andere Motive im gesamten Verfahren nicht hervorgekommen sind. Auf welche Angaben sich das Vorbringen des Rechtsvertreters der Beschwerdeführerin, ihr Sohn sei durch die Taliban bedroht worden und der Familie drohe Verfolgung wegen unterstellter politischer Gesinnung (vgl. S. 5), stützt, ist für das erkennende Gericht daher nicht nachvollziehbar.
Schließlich entspricht es auch den eigenen Angaben der Beschwerdeführerin, dass sie persönlich niemals bedroht wurde (vgl. S. 8). Die Drohungen der Erpresser richteten sich stets gegen ihren Sohn. Zum vorgebrachten „Angriff“ auf das Haus der Familie ist anzumerken, dass es den Tätern dabei offenbar darum ging, den Sohn der Beschwerdeführerin einzuschüchtern und zur Zahlung der verlangten Summe zu bewegen. Verletzt oder getötet sollte dabei niemand werden, ansonsten wäre dies den bewaffneten Tätern leicht möglich gewesen. Dass sich auch die Beschwerdeführerin und ihre Familie durch diesen Angriff nicht unmittelbar in Lebensgefahr wähnten, zeigt sich darin, dass sie schon nach zwei Stunden in ihr Haus zurückkehrten (vgl. S. 8). Es war daher auch festzustellen, dass der Beschwerdeführerin im Falle einer hypothetischen Rückkehr durch die Erpresser ihres Sohnes oder durch andere Personen keine Lebensgefahr und kein Eingriff in ihre körperliche Integrität drohen würde.
2.2.2. Als weiteren Fluchtgrund brachte die Beschwerdeführerin in der Stellungnahme vom 09.10.2017 eine „westliche Orientierung“ vor. Sie sei eine ausgesprochen westlich orientierte Frau, deren Haltung den konventionellen afghanischen Werten widerspreche, weshalb sie keinen staatlichen Schutz erwarten könne. Sie hätte eindrücklich ihre Unzufriedenheit mit der Rollenverteilung der Geschlechter in der konservativ-islamisch geprägten afghanischen Gesellschaft und ihren Wunsch, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, zum Ausdruck gebracht, und die Schutz- und Rechtlosigkeit von Frauen in Afghanistan bereits erleben müssen. Sie habe die Einschränkung der grundlegenden Menschenrechte und die ungerechte Behandlung von Frauen erlebt, und orientiere sich in ihrer Wertehaltung überwiegend an dem in Europa mehrheitlich gelebten, „westlichen“ Frauen- und Gesellschaftsbild (vgl. AS 61-63). In der Beschwerde wurde eine solche Einstellung der Beschwerdeführerin hingegen nicht mehr vorgebracht, sondern nur, dass sie aufgrund ihres langjährigen Auslandsaufenthaltes von anderen als „verwestlicht“ angesehen werden könnte (vgl. AS 525).
In der mündlichen Verhandlung konnte sich die erkennende Richterin einen persönlichen Eindruck von der Beschwerdeführerin verschaffen. Diese schilderte zwar nachvollziehbar, dass sie mit den allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr unzufrieden gewesen sei, brachte jedoch nichts vor, dass auf eine westliche Orientierung, selbstbestimmte Lebensweise oder Unzufriedenheit mit der Stellung von Frauen in Afghanistan hindeuten würde. Befragt, worin sie den größten Unterschied zwischen ihrem Leben in Afghanistan und in Österreich sehen würde, gab sie Folgendes an: „In Afghanistan durfte ich das Haus nicht verlassen, ich konnte nicht einkaufen gehen, es gab dort Entführungen. Hier geht es mir besser, meine Gesundheit ist besser geworden, es gibt hier gute Ärzte, und die Menschen sind sehr nett.“ (vgl. Niederschrift vom 28.09.2020, S. 7). Ihre eingeschränkte Bewegungsfreiheit führte die Beschwerdeführerin somit primär auf die schlechte Sicherheitslage („Entführungen“) und nicht auf ihre Stellung als Frau zurück.
Es sind keine Hinweise darauf hervorgekommen, dass die Beschwerdeführerin in Afghanistan jemals tatsächliche Schwierigkeiten gehabt hätte, sich in das dort mehrheitlich gelebte traditionelle Rollenbild der Frau einzufügen. Sie ist mittlerweile 66 Jahre alt und wurde zunächst von ihrem Ehemann versorgt, nach dessen Tod lebte sie rund 30 Jahre in Afghanistan mit ihren Kindern als Witwe. Sie ging bei anderen Familien putzen. Dass sie in dieser langen Zeit als alleinstehende Frau aus diesem Grund Probleme gehabt hätte oder sonst mit der in Afghanistan üblichen Rollenverteilung nicht einverstanden gewesen wäre, hat die Beschwerdeführerin im gesamten Verfahren nicht vorgebracht. Vielmehr gab sie vor der belangten Behörde, nach ihrem Sozialleben in Afghanistan befragt, an: „Uns ging es gut in Afghanistan. Als ich jung war, bin ich einkaufen gegangen, solange ich konnte.“ (vgl. AS 193).
Auch der bisherige Aufenthalt der Beschwerdeführerin in Österreich bietet keine Anhaltspunkte dafür, dass diese nunmehr in ihrer Lebensweise und Wertehaltung am als „westlich“ bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert wäre. Sie hat ihren mittlerweile viereinhalbjährigen Aufenthalt kaum zur Integration in die österreichische Gesellschaft genutzt, was sich besonders daran zeigt, dass sie zwar Alphabetisierungskurse besucht, jedoch noch keine nachweisbaren Deutschkenntnisse erlangt hat. Gerade Sprachkenntnisse wären jedoch eine Grundvoraussetzung für ein selbstbestimmteres Leben in Österreich, eine Ausbildung oder eine Berufstätigkeit. Es wird nicht verkannt, dass angesichts der fehlenden Schulbildung und des fortgeschrittenen Alters der Beschwerdeführerin keine überzogenen Erwartungen an ihre Lernerfolge zu stellen sind. Dass sie aber in viereinhalb Jahren keinerlei Deutschkenntnisse erlangt hat, ist allein damit nicht zu erklären, sondern weist auch auf mangelndes Interesse auf ihrer Seite hin.
Neben den Alphabetisierungskursen hat die Beschwerdeführerin in Österreich bisher lediglich einen Werte- und Orientierungskurs besucht. Sonstige Aus- oder Fortbildungsmaßnahmen hat sie nicht absolviert, sie war auch nicht ehrenamtlich tätig oder erwerbstätig. Von der erkennenden Richterin befragt, was aus ihrer Sicht ihre herausragenden Integrationsleistungen gewesen seien, verwies sie ebenfalls nur auf die beiden Alphabetisierungskurse. Jetzt sei sie Pensionistin und bekomme keine Kurse mehr (vgl. Niederschrift vom 28.09.2020, S. 7). All dies deutet nicht auf eine besonders fortgeschrittene Integration hin. Eine Auseinandersetzung mit westlichen Werten und dem Rollenbild der Frau in der österreichischen Gesellschaft spielt in ihrer derzeitigen Lebenssituation keine, oder wenn überhaupt, dann nur eine sehr untergeordnete Rolle.
Die Beschwerdeführerin konnte auch nicht glaubhaft machen, in Zukunft ihr Leben eigenständiger gestalten zu wollen. Sie lebt mit ihrem Sohn, ihrer Schwiegertochter und ihren Enkelkindern in einem gemeinsamen Haushalt und möchte auch bei diesen bleiben, sie ist auf die Unterstützung ihres Sohnes angewiesen (vgl. Niederschrift vom 28.09.2020, S. 9). Sie hat das Pensionsalter erreicht und plant verständlicherweise nicht, noch einmal eine Berufstätigkeit aufzunehmen oder eine Ausbildung zu absolvieren. Sie betonte mehrfach in der mündlichen Beschwerdeverhandlung, dass sie ohne ihren Sohn nicht leben kann (vgl. Niederschrift vom 28.09.2020, S 5, S 7 und S 9)
Im Übrigen haben sich im Verfahren keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass das nächste familiäre und soziale Umfeld der Beschwerdeführerin es ihr in Österreich aufgrund ihrer Stellung als Frau verunmöglichen würde, sich ihren Vorstellungen entsprechend zu kleiden oder sich alleine in der Öffentlichkeit zu bewegen, sodass dies bei einer hypothetischen Rückkehr nach Afghanistan auch nicht zu erwarten wäre. Die Schwierigkeiten, mit denen die Beschwerdeführerin in ihrem Alltagsleben zu kämpfen hatte, resultierten vor allem aus der schwierigen allgemeinen Lage in Afghanistan.
In einer Gesamtschau der dargelegten beweiswürdigenden Erwägungen gelangt das Bundesverwaltungsgericht daher zu den unter Punkt 1.2.2. getroffenen Feststellungen und zu dem Schluss, dass der Beschwerdeführerin bei einer hypothetischen Rückkehr nach Afghanistan konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt wegen einer „westlichen Orientierung“ drohen würden. Dafür, dass, wie in der Beschwerde bloß pauschal behauptet, der Beschwerdeführerin schon allein aufgrund ihres Aufenthalts in einem westlichen Land und trotz der bei ihr gerade nicht vorliegenden westlichen Orientierung eine „Verwestlichung“ unterstellt werden und eine Gefährdung drohen könnte, finden sich in den Länderberichten keine Hinweise.
2.3. Zu den Feststellungen zum (Privat)Leben der Beschwerdeführerin in Österreich:
Die Feststellungen zum Leben der Beschwerdeführerin in Österreich, insbesondere zur Aufenthaltsdauer, ihren fehlenden Deutschkenntnissen, ihren fehlenden familiären oder engen sozialen Anknüpfungspunkten und ihrer Integration in Österreich, stützen sich auf die Aktenlage, auf die Angaben der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie auf die von ihr im Laufe des Verfahrens vorgelegten Unterlagen.
Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit der Beschwerdeführerin ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.
2.4. Zu den Feststellungen